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Anachronistische Wahrnehmungen | Polen | bpb.de

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Anachronistische Wahrnehmungen Zur Rolle der Erinnerung in der polnischen Politik - Essay

Marta Bucholc

/ 21 Minuten zu lesen

Die derzeitige Regierung Polens strebt grundlegende Systemveränderungen an. Erinnerungspolitik gehört dabei zu ihren Prioritäten, damit die bestehende Verfassungsordnung als Relikt einer Vergangenheit dargestellt werden kann, die es endgültig zu überwinden gilt.

Nach dem Jahr 2015, als die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) sowohl bei den Präsidentschaftswahlen als auch bei den Parlamentswahlen siegte und damit die Regierungszeit der Liberalen von der Bürgerplattform (Platforma Obywatelska, PO) beendete, hat die polnische Erinnerungspolitik an Fahrt aufgenommen. Die Ansichten der Politikerinnen und Politiker über die Vergangenheit – die weiter zurückliegende und die neueste – sind mitentscheidend dafür, was ihrer Meinung nach in der Gegenwart verändert werden muss und wie die Zukunft gestaltet werden sollte.

Es gibt keine Politik, die sich nicht auf eine Vision der Vergangenheit stützen würde: Die revolutionärsten Konstruktionen einer schönen neuen Welt können nicht ohne heuristische Staffage aus Erinnerungen auskommen. Wenn es jedoch so weit kommt, dass fast das gesamte Regierungsprogramm den Eindruck macht, als würde die Vergangenheit in die Gegenwart projiziert, ohne die verstrichene Zeit zu berücksichtigen, so kann man zu Recht befürchten, dass das Gleichgewicht der zeitlichen Dimensionen im politischen Handeln auf riskante Weise zerrüttet wird.

Stellen wir uns einen Menschen vor, der durch die Straßen einer Stadt geht und eine Brille trägt, die ihm seine Umgebung so zeigt, wie sie vor hundert oder vielleicht auch nur vor fünfzig Jahren aussah. Dieser anachronistische Blick müsste nicht zwangsläufig sofort in eine Katastrophe münden, obschon kaum vorstellbar ist, für wieviel Verwirrung ein solches Opfer des anachronistischen Erkennens sorgen würde. Dieses Opfer würde jedoch früher oder später unweigerlich über eine rote Ampel auf die Fahrbahn laufen, um in der Überzeugung zu sterben, dass es unter eine Pferdekutsche geraten ist.

Die PiS ist bestrebt, die polnische Gesellschaft einem Experiment auf dem Gebiet des anachronistischen Sehens zu unterziehen. Seit 2015 hat die polnische Regierung in einer komplizierten globalen und europäischen Lage Maßnahmen eingeleitet, die offensichtlich nicht zur heutigen Realität passen. Somit stellt sich die Frage, aufgrund welcher Sicht der Vergangenheit und welchen Verständnisses von kollektiver Erinnerung sich diese unbegreiflichen Manöver erklären lassen.

Renaissance der Erinnerung und der Herrschaft des Rechts

Ostmitteleuropa ist eine jener Regionen, in denen der vor einigen Jahrzehnten eingesetzte Erinnerungsboom weiterhin anhält, zumal die Systemtransformation und die europäische Integration eine Renaissance der Erinnerung unterstützt haben – sowohl in öffentlichen Debatten als auch in wissenschaftlichen Forschungen. Die europäische Geschichte wird zwar weiterhin aus der Perspektive des Westens geschrieben, und das wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Nachdenken über Erinnerung orientiert sich vor allem an Vorbildern aus dem deutsch-französischen Kontext. Doch nach 1989 haben die postkommunistischen Gesellschaften des östlichen Europas begonnen, über die europäische Vergangenheit mitzudiskutieren und ihre Stimmen in den Debatten um Erinnerung und Vergessen zu erheben.

Die seit 2015 in Polen zu beobachtende Intensivierung verschiedener Erinnerungspraktiken kann als ein weiteres, vielleicht sogar spektakuläres Beispiel für die allgemeine Renaissance der Erinnerung gesehen werden. Von neuer Qualität ist allerdings die Anzahl der Fälle, die die Soziologen Joachim Savelsberg und Ryan D. King als "angewandtes Gedenken" (applied commemorations) bezeichnet haben, also als "implizites oder explizites Gedenken im Kontext von Entscheidungssituationen wie Parlamentssitzungen oder Gerichtsverfahren".

Dieser Charakter der PiS-Erinnerungspolitik ist im gesamten Verlauf der seit 2015 anhaltenden Verfassungskrise deutlich zum Ausdruck gekommen. Der breit kommentierte Konflikt zwischen Regierung und Präsident auf der einen und dem Verfassungsgerichtshof auf der anderen Seite und dann die Verwendung des Begriffs "Justizreform" für Maßnahmen, die darauf abzielen, Kontrolle über das Gerichtswesen zu erlangen, sind eindeutig auch Teile einer Geschichtspolitik: Die Regierenden präsentieren ihr Vorgehen als Kampf gegen Relikte der Vergangenheit im Bemühen um historische Gerechtigkeit. Es ließen sich noch weitere Beispiele für die Indienstnahme des Rechts zugunsten einer bestimmten Erinnerung finden, so wie es auch zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass öffentliche Mittel und der Staatsapparat eingesetzt werden, um immerfort neue kollektive Gedenkanlässe zu organisieren.

Für die PiS hatte die Erinnerungspolitik von Beginn an Priorität. Dabei ist unklar, wie es ihr gelingen konnte, auf diesem Gebiet so erfolgreich zu sein. Eine These lautet, dass die kollektive Erinnerung in Polen unter den Regierungen von Liberalen und postkommunistischen Sozialdemokraten ein brachliegendes Niemandsland gewesen sei, das von den Nationalkonservativen in Besitz genommen werden konnte, da nur sie ein politisches Konzept hierfür hatten. Demnach sei die polnische Erinnerung zunächst im Dienste des real existierenden Sozialismus und dann der Modernisierung erloschen und erst unter der PiS-Regierung wiederentstanden, die sie als einzige habe an sich ziehen wollen – mit dem Resultat, dass ihre Geschichtsinterpretation nun aufgezwungen wird.

Diese These ist nur zum Teil überzeugend. Zweifellos richtig ist jedoch, dass die PiS im Gegensatz zur inkonsequenten und undeutlichen Erinnerungspolitik der Vorgängerregierungen eine Vision entworfen hat, die gut geeignet ist, öffentlichkeitswirksam kommuniziert zu werden. Die geschichtspolitische Botschaft der PiS ist – auch für Rezipienten, die nicht mit ihr übereinstimmen – klar umrissen, sie ist konsequent und einfach.

Der enge Zusammenhang dieser Botschaft mit den verfassungspolitischen Aktivitäten der PiS wird allerdings selten erkannt. Das positive Recht ist ein historisches und paradoxes Gebilde. Die positivistische Fiktion, dass man keine außerhalb des Rechts stehenden Argumente verwenden dürfe, um über geltendes Recht zu entscheiden, hat – dem Soziologen Niklas Luhmann zufolge – zur Geburt des modernen Konstitutionalismus geführt, in dem die politische Genese des Rechts keinerlei Bedeutung für seine Gültigkeit besitzt. Die Fiktion bleibt aber eine Fiktion, die unter bestimmten Bedingungen eine geringere Überzeugungskraft hat.

Polen kann sich keines Rechtsdenkmals rühmen, das eine Tradition besitzt, die mit dem deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch oder dem Grundgesetz vergleichbar wäre. Die polnische Verfassung von 1997, die den demokratischen Rechtsstaat als prinzipielles Staatssystem festlegte, ist vergleichsweise jung, auch wenn ihr Alter kaum von den neuen, postkommunistischen Verfassungen in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks abweicht (mit Ausnahme Ungarns mit seiner Verfassung von 2011). Sie ist daher nicht von Altehrwürdigkeit geschützt; ihre Entstehung spricht nicht für, sondern eher gegen sie. Sitten und Bräuche, die ihre Autorität sichern könnten, sind zwangsläufig erst später als sie selbst entstanden. Es handelt sich somit um eine Verfassung, die in der kollektiven Erinnerung der polnischen Gesellschaft nur kläglich präsent ist und keinerlei kohärente Vision einer nationalen Identität vermittelt.

Die Genese der polnischen Verfassung in Verbindung mit ihrer kurzen Geschichte ist somit eine Schwäche, die leicht auszunutzen ist, indem man eine Vision der polnischen Geschichte bietet, die diese Verfassung delegitimiert. Dies bedeutet zugleich eine Delegitimierung der verfassungsmäßigen Grundlagen des Staatssystems, ganz zuoberst des Rechtsstaates. Die PiS, die auf politischer Ebene eine Systemveränderung anstrebt, kann also nicht nur über die Verfassung, sondern muss auch über die Vergangenheit sprechen, und zwar in einer Weise, dass die Verfassung zu einem Teil der abgelehnten und zu revidierenden Vergangenheit wird. Die Partei benötigt die Erinnerung als einen Motor, also beschleunigte sie die Produktion von Erinnerung in ungewöhnlichen Ausmaßen, wobei sie ein Repertoire an Mitteln verwendet, in dem Bricolage, Stilisierung und Retusche die wichtigsten Rollen spielen.

Bricolage, Stilisierung, Retusche

Der Begriff "Bricolage" (französisch für "Bastelei") ist von dem französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss zur Bezeichnung einer kognitiven Strategie eingeführt worden, die darauf beruht, vorübergehend etwas zu verwenden, das man gerade zur Hand hat, um ein Problem auf eine Weise zu lösen, die inkohärent ist, also nicht aus einer geschlossenen Sammlung allgemeiner und fester Grundsätze und Annahmen herrührt. Bricolage bewährt sich, wenn man sich nicht von vornherein zu Grundsätzen verpflichten will und Effektivität über Vorhersehbarkeit stellt. Der Bricoleur ist definitionsgemäß ein Amateur-Opportunist: Er verbindet Dinge miteinander, die bislang keine Beziehung zueinander hatten, weil ihm dies zupass kommt, und der alle Beschränkungen vermeidet, indem er stets ad hoc agiert.

Die PiS verwendet die Bricolage auf dem Gebiet der Erinnerung, indem sie aus dem Fundus der verfügbaren Inhalte diejenigen Elemente auswählt, die sich relativ leicht in neue Kontexte einfügen lassen. Ein gutes Beispiel ist die von ihr vorangetriebene Arbeit an der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Der weithin kommentierte Fall der Kriegsreparationen, die die polnische Regierung 2017 von Deutschland einforderte, ist nur ein Beispiel für die Aktualisierung von Erinnerungen und Emotionen, was schon vorher als "Wecken der Dämonen der Vergangenheit" bezeichnet wurde. Diese Metapher trifft ihrem Wesen nach zu, ist aber zu pathetisch, um den Surrealismus der PiS-Ideen in Gänze widerzuspiegeln.

Die Reparationsfrage ist jedoch nicht das einzige Beispiel für die Sicht der PiS auf den Zweiten Weltkrieg. Die Umdeutung des Warschauer Aufstands von 1944 und auch die Erneuerung der Erinnerung an die "verstoßenen Soldaten" – also an jene polnischen Partisanen, die nach Kriegsende die Waffen nicht niederlegten und sich gegen die kommunistische Macht erhoben, weshalb sie in der Volksrepublik aus der offiziellen Geschichtsschreibung getilgt wurden – sind weitere Beispiele dafür, dass man sich aus diesem unerschöpflichen Reservoir bedient.

Bricolage erfordert, dass die zusammengefügten Elemente zu einer Neuinterpretation der Vergangenheit führen, was auch "Rahmung" oder auf Englisch framing genannt wird. Um die Erinnerung neu zu rahmen, greift die PiS häufig zum Mittel der Stilisierung. Ein gutes Beispiel dafür war das Bestreben, dem Andenken an die Opfer der Flugzeugkatastrophe von Smolensk, bei der im April 2010 neben dem damaligen Präsidenten Lech Kaczyński weitere 95 Menschen ums Leben kamen, den Charakter eines Erinnerungsappells zu verleihen, also eines regelmäßig stattfindenden, feierlichen militärischen Ritus zu Ehren der Verstorbenen. Die Ritualisierung und die Sakralisierung, die von der PiS betrieben werden, dienen in solchen Fällen der Stilisierung: Von den religiösen Riten gewinnen sie ihren Ernst; außerdem übertragen sie die Dinge, die religiös stilisiert werden, in die Domäne des Sacrums, der weder durch kritische Haltung noch durch rationales Verstehen erreichbar ist.

Ein wichtiger Aspekt der Stilisierung ist die von der PiS verwendete Sprache. Natürlich ist diese in der öffentlichen Wahrnehmung davon geprägt, wie der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński – der Zwillingsbruder des 2010 verunglückten Lech Kaczyński –, kommuniziert und sich ausdrückt. Seine Gabe, Dinge so zu formulieren, dass sie von den Zuhörerinnen und Zuhörern erinnert werden, ist tatsächlich unerreicht. Kaczyński mischt hohe Sprachregister – etwa das für die rechten Parteien emblematische Wort "Schande" oder das poetische Zitat des Dichters Kornel Ujejski "andere Satane waren dort am Werk" – mit kräftigen Ausdrücken wie den berühmt gewordenen "verräterischen Fratzen", als die er im Juli 2017 Abgeordnete der Opposition bezeichnete. Diese sehr eindeutige Sprache geht einher mit Vernebelungen, mit der Überstrapazierung bedeutungsmäßig unbestimmter Ausdrücke wie "gewisse", "einige", "irgendwelche", sowie mit einem übermäßigen Gebrauch von Anspielungen und Unterstellungen – mit einem Kommunikationsstil also, an den sich viele Polinnen und Polen noch aus der Zeit vor 1989 erinnern. Diese sprachliche Bricolage korrespondiert auf natürliche Weise mit dem Eklektizismus der PiS-Ideologie, deren zahlreiche Ursprünge, vor allem diejenigen in der antiliberalen katholischen Soziallehre und in der soziologisierenden Rechtsphilosophie, wissenschaftlich bislang nicht untersucht worden sind.

Die Retusche, das letzte der hier erörterten von der PiS verwendeten Mittel, betrifft zwar nicht nur historische Ereignisse und Personen, in diesem Fall aber lässt sich am besten beobachten, worauf sie beruht. Ihre einfachste Form ist es, Personen aufzuwerten, indem ihnen Bedeutung beigemessen wird – am besten so, dass dies als Kompensation für die Jahre des Vergessens aufgefasst werden kann. Die Akzentverlagerung und Retusche einzelner Personen wirkt manchmal fast operettenhaft. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verehrung des Rittmeisters Witold Pilecki, der freiwillig ins Konzentrationslager Auschwitz gegangen war und dort die Widerstandsbewegung organisierte; 1948 wurde er von den kommunistischen Behörden in einem Schauprozess zum Tode verurteilt. Pilecki ist eine derjenigen historischen Persönlichkeiten, die von der PiS besonders intensiv propagiert werden. Der Nachstellung von Pileckis Hochzeit 2016 verlieh die Regierung den Charakter eines Ereignisses von nahezu staatlichem Gewicht, wobei die Unterschiede zwischen Simulacrum und Original verwischt wurden.

Unheilvoller ist das Retuschieren des Gedenkens dann, wenn es Gruppen und Gemeinschaften betrifft. Dies lässt sich am Beispiel eines kleinen Museums verdeutlichen, in dem an das Schicksal der Familie Ulma aus dem Dorf Markowa erinnert wird. Diese wurde 1944 von Deutschen ermordet, weil sie die jüdische Familie Goldman versteckt hatte. Das Museum steht inzwischen in einer Reihe mit zahlreichen anderen historischen Museen, um die heute in Polen verbissen gekämpft wird (zuoberst um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig). Die Erinnerung an die Tragödie in Markowa verwendeten regierungsfreundliche Medien dazu, ein Theorem zu unterstützen, das sich wie folgt zusammenfassen lässt: Da Polen Juden gerettet haben, kann es nicht sein, dass Polen Juden ermordet oder an die Deutschen ausgeliefert haben. Das damalige Polen der Kriegszeit ist – wie es in aktuellen Medien, Filmproduktionen sowie vielgelesenen historischen und biografischen Büchern dargestellt wird – tatsächlich eine "Republik der Gerechten".

Ethnischer Essenzialismus und Holismus kehren hier als Begründung für die moralische Höherwertigkeit der Polen als Nation wieder – aus einer Gruppe wird eine große Einheit geschaffen, die sich schließlich nicht anders verhalten kann, als es ihrer heldenhaften Natur entspricht. Diese Denkweise "beschränkt sich nicht mehr auf die ‚Opferrivalität‘ zwischen Polen und Juden": Ähnlich essenzialistisch werden auch andere Gruppen gesehen.

Dies betrifft etwa die Ukrainer im Zusammenhang mit dem Umgang mit dem Gedenken an das "Massaker von Wolhynien" 1943/44. Bei diesem verloren Tausende Polen, die in den Ostgebieten Vorkriegspolens lebten, durch die Hände von Ukrainern ihr Leben. Heute ist es einer der Teile der kollektiven polnischen Erinnerung, der intensiv retuschiert wird. Eine Retusche erfährt etwa der politische Hintergrund dieser Ereignisse, unter anderem die ethnischen Beziehungen innerhalb Polens zwischen den Kriegen.

Die Opferrivalität beschreibt immer weitere Kreise, wobei nicht vergessen werden darf, dass das Ethos des unschuldigen Opfers auch in dem Diskurs über die Reparationen bereits eine Rolle gespielt hat: Die Ansprüche eines Opfers, das nicht ganz unschuldig ist, wären natürlich viel geringer. Deshalb steht die PiS (und andere Kreise darüber hinaus) wissenschaftlichen Arbeiten und publizistischen Texten, aus denen ein differenzierteres Bild der Vergangenheit hervorgeht, sehr ablehnend gegenüber. Aus ihrer Sicht darf die Erinnerung an nationales Heldentum nicht befleckt werden, indem Ereignisse hervorgekramt werden wie die von Jan Tomasz Gross beschriebenen Judenmorde oder die von Andrzej Leder analysierte Aneignung von jüdischem Besitz und jüdischem Lebensraum. Auch eine Anfang 2018 verabschiedete Gesetzesnovelle, durch die die Behauptung einer polnischen Beteiligung am von Deutschland organisierten Holocaust unter Strafe gestellt wird, weist deutlich in diese Richtung.

Für eine deutsche Leserschaft dürfte noch wichtig zu wissen sein, dass die polnische Gesellschaft – wenn man eine solche Verallgemeinerung riskieren möchte – das Bewusstsein eigener Schuld viel schwerer erträgt als die deutsche und eine solche Schuld am liebsten von vornherein abstreitet. Die Handvoll Intellektueller und Gelehrter, deren Forschungen zur polnischen Schuld breitere Schichten der Bevölkerung erreicht haben, wird als Verräter, Lügner und Heuchler verleumdet, im besten Fall als Exhibitionisten und Speichellecker, die dem Westen gefallen wollen. "Die Verleumdung Polens im Ausland", wie PiS-Politiker es bezeichnen, wird als eine sträfliche Verletzung der familiär-staatlichen Intimität gesehen, da das Ausland in Angelegenheiten der polnischen Vergangenheit kein Stimmrecht haben dürfe.

Diese Denkweise und ihre Konsequenz traten Anfang Dezember 2017 auch in den Worten des Präsidenten Andrzej Duda deutlich zutage, als er im Parlament sagte: "Wir brauchen (…) einen gesunden Geist, der uns als Gemeinschaft vereint, der bewirkt, dass wir tatsächlich als eine Nation überdauern wollen. Dieser Geist, das sind unsere Tradition, unsere Geschichte, unsere Sprache und unsere Kultur, die wir als gemeinsame und wichtigste Werte betrachten." Und er erläuterte, was die Gefahren für den gesunden Geist der Nation sein könnten: "Der Geist der Nation kann leicht mit einer falschen Ideologie vergiftet werden. Kommunismus, Nazismus, Kosmopolitismus oder nihilistische Negierung des christlichen Wertesystems zerstören die uns verbindenden, sensiblen kulturellen Bande. Eine Vernebelung, eine Verfälschung von Begriffen bringt Chaos in unseren kulturellen Code. Sie erschwert unsere interne Kommunikation. Ideologien bringen Feindschaft zwischen Gemeinschaften mit sich, sie verursachen den Zerfall von Gemeinschaften. Sie wollen sich an die Spitze der Wertehierarchie stellen und schieben die natürlichen, seit ewigen Zeiten bestehenden Bestrebungen und Sehnsüchte des Menschen in den Hintergrund. Damit wir als reife Gemeinschaft überleben, die einen eigenen, unabhängigen Staat verdient, müssen wir das verstehen – und entschlossen dagegen handeln."

Dieses Zitat ist ein hervorragendes Beispiel für eine begriffliche Bricolage: Der Präsident verbindet hier sozialwissenschaftliche Ausdrücke mit der Vision einer unveränderlichen menschlichen Natur und einer politischen Philosophie, indem er den Staat mit einer von inneren Konflikten freien Wertegemeinschaft gleichsetzt. Zugleich wird der Kosmopolitismus als Bedrohung für diese Gemeinschaft, aber auch für die Erinnerung an die Geschichte, für die Nation und den Staat dargestellt, weshalb man ihn offenbar getrost mit Nazismus und Kommunismus gleichsetzen kann.

Neue Erinnerung für Polen

Neben Bricolage, Stilisierung und Retusche werden auch altbewährte Propagandamittel eingesetzt, etwa die ständige Wiederholung und Weitergabe derselben Mitteilung über verschiedene Kanäle. Das Ergebnis ist eine Erinnerung, die einige Merkwürdigkeiten aufweist.

Zunächst ist festzuhalten, dass es sich nicht um die Erinnerung einer bestimmten Gruppe handelt, da es keine Gruppe gibt – oder zumindest bis vor Kurzem nicht gegeben hat –, die sich so an die Vergangenheit erinnert, wie die PiS sie zeichnet. Es ist nichts Neues, dass Traditionen Erfindungen sind, die Menschen, die von deren Ewigkeit überzeugt sind, eifrig ihrer kollektiven Identität einverleiben. In Polen haben wir es aber nicht mit einer Erfindung von Traditionen in dem Sinne zu tun, dass sich eine bestimmte Gruppe den gesamten Bereich der kollektiven Erinnerung angeeignet hätte. In medialen Diskussionen ist oft von der bildungsbürgerlichen Warschauer Herkunft Jarosław Kaczyńskis zu hören, die als Ursprung der PiS-Vision von der Geschichte anzusehen sei. Selbst wenn aber Kaczyński die Vergangenheit so sieht, so sieht nur er sie so und niemand sonst. Alle anderen benötigen hierfür die Brille des Anachronismus.

Der Anachronismus zeigt sich nicht nur daran, dass man eine unzeitgemäße Realität sieht, sondern auch daran, dass man die Folgen des Zeitverlaufs zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht erkennt. Die anachronistische Erinnerung wird auf der Grundlage von Rückforderungen, Restauration, Reparationen und vielen anderen "Re-"s konstruiert, sie ist reaktionär, retrospektiv und retroaktiv. Ein solches Denken, das ich mit dem Soziologen Karl Mannheim "konservative Utopie" nennen möchte, richtet sich in die Vergangenheit und sucht in ihr Anregungen für seine irrealen Projekte eines Umbaus der heutigen Gesellschaft. Das Problem ist, dass eine so konstruierte Erinnerung keine Reaktion darauf ist, was ist, sondern darauf, was war, aber nach wie vor als aktuell angesehen wird. Sie pulsiert somit vor lebendigen Emotionen, aus denen politische Propaganda und Populärkultur je nach Bedarf das Erinnerungsreservoir aufladen.

Freilich hat die PiS insofern einfaches Spiel, als es im Bewusstsein der polnischen Gesellschaft, vor allem in ihrer Erinnerung, an vielen Elementen fehlt, die in einer Demokratie von Vorteil wären und als Gegengewicht fungieren könnten. Ein gutes Beispiel ist der Konstitutionalismus: Ich nehme an, selbst nach der Krise von 2015 denkt der Durchschnittspole beim Stichwort "Verfassung" nicht instinktiv an die Verfassung von 1997, sondern eher an die Verfassung vom 3. Mai 1791. Diese wiederum ist ein hervorragendes Beispiel für ein konservativ-utopisches Phantasma: Sie soll modern und mustergültig gewesen sein, "die erste in Europa und die zweite der Welt", geschaffen durch die geistige Anstrengung der intellektuellen und politischen Elite eines Landes, in dem die Politik seit gut hundert Jahren hauptsächlich von Russen, Preußen und Österreichern gemacht wurde. Und dabei entfaltete sie noch nicht einmal Wirkung, da der polnische Staat dummerweise kurz darauf von der Landkarte verschwand. Diese ruhmvolle Tradition des historischen Konstitutionalismus stärkt also den gegenwärtigen Konstitutionalismus nicht, sondern schwächt ihn im Grunde, da er zeigt, dass eine Verfassung etwas ist, was man hat, aber nicht anwendet.

Von den Folgen der anachronistischen Wahrnehmung à la PiS, sollte diese in Polen weiterhin währen und sich verwurzeln, erscheinen mir drei besonders wichtig: Die Auslöschung eines Pluralismus der Erinnerung, die Negierung der gegenseitigen Abhängigkeit von Gruppen und Gesellschaften, deren Erinnerung unterschiedlich ist, sowie die sich daraus gewissermaßen ergebende Ablehnung eines europäischen Rahmens kollektiver Erinnerung.

Das soziale Gedächtnis sollte der PiS zufolge weder kompliziert noch in sich differenziert sein, da es im Grunde die einzige Grundlage für die Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft ist, die auf einer eindeutig ethnisierten, essenziellen kollektiven Identität beruht. Ein Pole ist, wer sich daran erinnert, woran man sich erinnern sollte – und wer bereit ist, zu vergessen, was dem Polentum und Polen schadet.

Die internationalen Abhängigkeiten hingegen sind ein Problem, auf das die PiS mit Verdrängung reagiert. Selbstbestimmung und Eigenständigkeit sind Ideale, die zweifellos entstanden sind als Reaktion auf die liberale Pädagogik, mit der die polnische Gesellschaft in den zwei Jahrzehnten der Systemtransformation auf Europa ausgerichtet wurde. Im öffentlichen Diskurs wurde dieser Prozess routinemäßig in Kategorien vermittelt, die aus dem Bildungsbereich stammen: "eine Eins schreiben", "Hausaufgaben machen", "in der ersten" oder "auf der letzten Bank sitzen" und so weiter. Polen hat seine Hausaufgaben eifrig gemacht und wurde im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, wie es zeitweise schien, europäischer als Europa selbst: dynamischer, motivierter, kapitalistischer.

Die Metapher von der "zweiten grünen Insel Europas", die der ehemalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk einst gebraucht hat, um Irland zum Vorbild Polens zu küren, wurde auf eine geradezu hinterhältige Weise Realität: Polen steht wirtschaftlich nach wie vor gut da, ist aber politisch inzwischen zu einer Insel in Europa geworden. Die regierungskritische Tageszeitung "Gazeta Wyborcza" kehrte in einem Kommentar zur Entscheidung der Europäischen Kommission, gegen Polen ein Sanktionsverfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einzuleiten, zur Schulmetaphorik zurück, als sie unter dem Titel "Vom Primus zum Paria" von einem "Tag der Schande" schrieb.

Einen Schüler, der einmal ein Primus war, kann man zwar beschämen, wenn man ihn an seine verflossenen Erfolge erinnert, jedoch nur unter der Bedingung, dass er weiterhin auf der Schule bleibt und seinen Erfolg in schulischen Kategorien definiert. Die PiS aber lehnt genau diese Kategorien ab: Mit ihr wird der polnische Exzeptionalismus zur Staatsräson. Sie schämt sich deshalb nicht, dass sie Polen den Rang des Primus genommen und zum Paria gemacht hat. Ohne Bedauern weist sie auch den europäischen Erinnerungsrahmen zurück, der nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Anstrengung geschaffen wurde, um im Namen des Friedens eine neue, inklusive europäische kollektive Identität zu schaffen. Die PiS will geradezu das Gegenteil erreichen: aus der Zuspitzung der Vergangenheit politisches Kapital schlagen und die nationale Identität auf Kosten der europäischen stärken, in der sie ohnehin keinen Nutzen für sich sieht.

Querschläger der Transformation

Nach der Transformation zu einem europäischen Land zu werden, bedeutete für Polen (und für andere postkommunistische Staaten), einen Kampf gegen das Syndrom der "unvollständigen Mitgliedschaft" zu führen. Dies war, wie die Politikwissenschaftlerin Marie Mälksoo schreibt, ein "Streben danach, ein Teil des ‚wahren Europas‘ zu werden, statt ‚Europa, aber doch nicht richtig Europa‘ zu bleiben – eine Position, die ihnen von Westeuropäern seit der Aufklärung zugewiesen wurde". Und weiter: "Wenn wir [nach Adorno] Vergangenheitsbewältigung als Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins auffassen, erscheinen die Rufe aus Polen und dem Baltikum nach gleichberechtigter Erinnerung ihrer Vergangenheiten als wesentlicher Bestandteil ihres Selbstwerdungsprozesses als Europäer beziehungsweise als europäische Bürger."

Doch Polen hat heute einen Umgang mit der Vergangenheit gewählt, der zwar zur Erklärung der Gleichheit führt, aber nicht zu gleicher Teilhabe. Er führt vielmehr zu deren Ablehnung, und zwar häufig aus einer Position der Überheblichkeit heraus. Polen wird auch dadurch antieuropäisch, dass es sich zum Verteidiger des "wahren Europa" stilisiert: eines historisch rekonstruierten, homogenen und katholischen Europas. Das polnische Parlament konnte sich zum Beispiel nicht zu einer Erklärung zum 500. Jahrestag der Reformation durchringen. Auch die aktuellen Diskussionen um die Flüchtlingspolitik zeigen dies, wie die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Saryusz-Wolska hervorhebt: "Der rechtskonservative Diskurs setzt in jüngster Zeit die Europäisierung und die europäische Integration mit Islamisierung und Fremdbestimmung gleich. (…) Auch diese Rhetorik wird durch historische Vergleiche unterstützt, wie die Darstellungen Hitlers oder Friedrich II. verdeutlichen. Der Widerstand gegen Europa, personifiziert durch Angela Merkel und führende EU-Politiker wie Martin Schulz, wird zugleich als Konfrontation mit Deutschland und als Kampf um die nationalen, katholischen Werte inszeniert, die angeblich bedroht sind."

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich Anfang Oktober 2017 Zehntausende Menschen an sämtlichen Landesgrenzen zu einem Rosenkranzgebet für Polen und Europa versammelten. Der romantische Topos von Polen als Christus der Nationen hat damit neue Anwendung gefunden, und zwar sehr konkret politisch: Polen, als Trägerin europäischer moralischer Werte und authentischer europäischer Erinnerung, erinnert damit Europa daran, was es war und was es sein sollte; und man kann nicht erwarten, dass es sich in Erfüllung dieser Mission leiten ließe von den Entscheidungen der Europäischen Kommission, den Beschlüssen des Europäischen Parlaments oder seiner eigenen, historisch verdächtigen Verfassung.

Die liberale Pädagogik, das Werben für Teilhabe und Zugehörigkeit, hat also insofern versagt, als sich das Bewusstsein, das der polnischen Gesellschaft in den 1990er Jahren nahegebracht werden sollte, als falsch herausstellte. Der Prozess der Transformation und der europäischen Integration basiert in Polen im Grunde auf einer Form von Behaviorismus: Da die Polen immer neue transformatorische Erschütterungen aushalten, kommen sie auf dem freien Markt gut zurecht; sie fahren ins Ausland und arbeiten, das Bruttosozialprodukt ist hoch, die Arbeitslosenrate sinkt – also ist doch alles in Ordnung, oder? So als hätte man erwartet, dass die kulturellen und mentalen Prozesse dem wirtschaftlichen, systemischen und institutionellen Wandel folgen würden. Sie sind ihm nicht gefolgt.

Die "Erinnerungskrieger" der PiS sind, wie der Philosoph Andrzej Leder sagt, zugleich auch Erinnerungsnarzissten: Ihre Vision von der Vergangenheit schmeichelt ihnen selbst und denen, die diese Vision als die ihre erkennen wollen. Gegen verinnerlichte Schmeicheleien lässt sich nur schwer ankämpfen, es ist sehr schwierig, die Wirklichkeit ohne die Brille des Anachronismus zu betrachten. Dies würde harte und schmerzhafte Arbeit an der kollektiven Erinnerung bedeuten, und es ist kaum vorstellbar, wer diese Arbeit auf sich nehmen sollte und welche Mittel er verwenden könnte, um eine alternative Vision mit ähnlicher Wirkkraft zu erzeugen, aber auch mit größerer Parallelität zur Gegenwart.

So irrt also die PiS mit einem Großteil der polnischen Gesellschaft durch eine virtuelle Welt, die aus Dingen besteht, die von Grund auf neu erinnert und für die Wirklichkeit gehalten werden. Es bleibt abzuwarten, wer an der roten Ampel mit wem zusammenstößt.

Ich danke Joanna Wawrzyniak für wertvolle Hinweise sowie dem Nationalen Wissenschaftszentrum (Narodowe Centrum Nauki) für die Unterstützung meines Projekts "Max Weber in der postkolonialen Theorie: Der Fall Polen", auf das einige der hier vertretenen Thesen zurückgehen.

Übersetzung aus dem Polnischen: Peter Oliver Loew, Darmstadt.

ist Professorin für Soziologie am Käte Hamburger Kolleg "Recht als Kultur" der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. E-Mail Link: mbucholc@uni-bonn.de