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Kultur- und Bildungspolitik im Zeichen Europas

Jutta Limbach

/ 8 Minuten zu lesen

Die bundesdeutsche Politik ist den Leitprinzipien der internationalen Zusammenarbeit und der Europäischen Integration stets treu geblieben. Für die Zukunft gilt, aus der Diskussion über gemeinsame Grundwerte der EU eine europäische Bürgergesellschaft zu formen.

I. Abschnitt

Wer über Kultur- und Bildungspolitik im Zeichen Europas spricht, muss zunächst erklären, von welchem Europa die Rede ist. Hier geht es weniger um geographische als vielmehr um kulturhistorische und politische Aspekte. Spätestens mit dem Verweis auf das Politische wird das Fragwürdige des Europabegriffs offenbar. Wir unterscheiden in diesem Zusammenhang nicht nur verfassungsrechtlich unterschiedlich entwickelte Regionen wie die westlichen Verfassungsstaaten und die jungen Demokratien in Ost- oder Mitteleuropa. Daneben tritt die Unterscheidung zwischen dem Europa des Europarats und dem Europa der zur Europäischen Union fortentwickelten Europäischen Gemeinschaften. Während der Europarat inzwischen 44 Mitglieder zählt, umfasst die Europäische Union gegenwärtig 15 Staaten, wird aber in den folgenden Jahren weitere aus Mitteleuropa aufnehmen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sind verschiedene Wege beschritten worden, um künftig ein friedliches Zusammenleben in Europa sicherzustellen. Grundsätzlich einig war man sich in der Suche nach Instrumenten, die öffentlicher Gewalt Schranken setzen. Je nachdem, ob auf nationaler oder internationaler Ebene agiert wurde, boten sich als Mechanismen der Machtkontrolle Grundrechte, Gerichte, Parlamente, föderale Strukturen sowie die Teilung und Verschränkung der Gewalten an. Der Aufbau einer Zivilgesellschaft sei nicht vergessen.

Als Gegenentwurf zum menschenverachtenden Regime der Nationalsozialisten sind auf nationaler wie auf internationaler Ebene Menschenrechtskataloge formuliert und Gerichte etabliert worden, die den Grundrechtsschutz zu besorgen haben. Noch während der Parlamentarische Rat in Bonn das Grundgesetz beriet, verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen Ende des Jahres 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Deren Präambel machte deutlich, dass dieses Dokument auch eine Antwort auf die Barbarei des Naziregimes war. Die im Jahre 1950 verabschiedete Europäische Erklärung der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist zwar weniger programmatisch als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, dafür aber mehr auf Verbindlichkeit bedacht. Die Konvention ist das Grundstatut des im Jahre 1949 gegründeten Europarats, der die Förderung der Demokratie und den Schutz der Menschenrechte auf seine Fahne geschrieben hat. Sein normatives Instrument sind die multilateralen Vereinbarungen, wie z. B. die Europäische Kulturkonvention oder der Aktionsplan gegen Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus und Intoleranz. Daneben verfolgt der Europarat einen "ethischen Ansatz" und fördert Programme, die den "Aufbau eines sozialen Gewissens" und der Zivilgesellschaft fördern. Die herausragende Institution des Europarats ist der im Jahre 1959 in Straßburg errichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser ist heute für über 800 Millionen Menschen die letzte Instanz des Grundrechtsschutzes.

Die politische Debatte innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik Deutschland konzentriert sich gegenwärtig auf die Zukunft der Europäischen Union. Der wirtschaftliche Zusammenschluss in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu den Europäischen Gemeinschaften erklärt sich nicht allein aus Gründen ökonomischer Zweckmäßigkeit. Die von Alfred Grosser seinerzeit gebrauchte Metapher, wonach die Europäische Integration ein Käfig für die Deutschen sei, macht den damaligen Zweifel der Nachbarn deutlich, ob den Deutschen der zweite Startversuch in die Demokratie glücken werde. Aber auch für die Schöpfer des Grundgesetzes war die internationale Zusammenarbeit neben der Wahl der demokratischen Staatsform eine Strategie, die künftig das friedliche Zusammenleben mit den Nachbarn gewährleisten sollte.

Das Bekenntnis des Parlamentarischen Rates zur offenen Staatlichkeit war eine Lehre aus der totalitären Herrschaft der Jahre 1933 bis 1945. Bereits der Urtext des Grundgesetzes sah die Übertragbarkeit von Hoheitsrecht auf zwischenstaatliche Einrichtungen vor. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass das deutsche Volk entschlossen sei, "aus der nationalstaatlichen Phase seiner Geschichte in die übernationalstaatliche Phase" einzutreten. Bereits im Jahre 1948 waren die Autoren des Grundgesetzes davon überzeugt, dass es kein Problem mehr gebe, das ausschließlich mit nationalen Mitteln gelöst werden könne.

Den Leitprinzipien der internationalen Zusammenarbeit und insbesondere der Europäischen Integration ist die bundesdeutsche Politik während der über 50 Jahre währenden Geltung des Grundgesetzes stets treu geblieben, wenn es auch immer wieder Zeiten gegeben hat, in denen die europäische Idee flügellahm zu werden drohte. So schien der Fall der Berliner Mauer und das Ende des Ost-West-Gegensatzes zugleich das Ende einer Schicksals- und Wehrgemeinschaft herbeigeführt zu haben. Die Notwendigkeit, sich nach dem Motto "Gemeinsam sind wir stark" zu verständigen, schien entfallen.

Im Hinblick auf diese Orientierungskrise war die Kreation des Staatsziels der Europäischen Integration im Jahre 1992 das gebotene Signal. Denn uns Deutschen ist Kleinmut in Fragen der Europäischen Integration nicht gestattet. Einen Rückfall in die Strategie des nationalen Alleingangs können und wollen wir uns nicht leisten. Auf Grund unserer Geschichte und der bitteren Erfahrung, die unsere Nachbarn mit deutschem Vormachtsstreben gemacht haben, sind wir der Europäischen Integration und ihrer Idee der "Kontrolle aller durch alle" verpflichtet.

Als geistige Antriebskraft im Prozess der europäischen Integration zu wirken, gehört daher verfassungsrechtlich wie politisch zur Staatsräson der Bundesrepublik. Der von Wolfgang Schäuble angestiftete, von der vorigen Bundesjustizministerin eingeleitete, von dem Bundesaußenminister, dem Bundeskanzler und zuletzt von dem Bundespräsidenten fortgeführte europäische Verfassungsdiskurs ist Ausdruck dieser Verantwortung.

II. Abschnitt

Angesichts der parteiübergreifenden Europafreundlichkeit der deutschen Politik stellt sich die Frage nach dem Engagement der Unionsbürger und -bürgerinnen. Soll das vereinte Europa nicht ein Projekt politischer Eliten bleiben, so bedarf das politische Handeln einer breiten Akzeptanz der Bürger. Nur über eine politische Bürgerschaft kann der politische Raum Europas ausgestaltet werden. Die Frage ist nur: Wie entsteht, wächst und gedeiht so etwas wie eine Zivilgesellschaft auf europäischer Ebene? Wie lernen Bürgerinnen und Bürger europäisch zu denken?

Die bundesrepublikanische Geschichte lehrt, dass die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur ein langwieriger Prozess ist. Das Verhältnis der (West-)Deutschen zum Grundgesetz war keine Liebe auf den ersten Blick. Es galt damals, eine gleichgültige und verdrossene Bevölkerung, die noch weithin obrigkeitsstaatlichem Denken verhaftet war, für Demokratie, Menschen- und Bürgerrechte zu interessieren. Dass sich trotz der seinerzeit unguten Vorzeichen in den darauf folgenden Jahrzehnten allmählich eine Zufriedenheit mit dem bundesrepublikanischen politischen System entwickelt hat, mag mit den Vorzügen des Grundgesetzes, mit dem wirtschaftlichen Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft, aber auch dadurch erklärt werden können, dass uns Belastungsproben - wie sie die Weimarer Republik erfahren hat - erspart geblieben sind.

Die Freude darüber, dass sich unter der Ägide des Grundgesetzes in Deutschland ein Wandel von der Untertanen- zur Staatsbürgerkultur ereignet hat, scheint von kurzer Dauer. Leidenschaftliche Demokraten malen bereits den "Untertan in Europa" an die Wand. Auch die Bevölkerung der anderen Staaten der Europäischen Union betrachtet das, was in Brüssel geschieht, mit wachsender Skepsis. Die Unionsbürger und -bürgerinnen befürchten weniger einen Identitätsverlust als einen Rückfall in vordemokratische Zeiten. Ihnen erscheint die Europäische Union als eine undurchschaubare, monströse Supermacht. Wer - außer den Europa-Experten - findet sich in dem Dickicht der Verträge überhaupt noch zurecht? Ein Lichtblick ist hier der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, der schon mancher Bürgerin, manchem Bürger zu ihrem bzw. seinem Recht verholfen hat. Aber wer durchschaut die Entscheidungsprozesse und das Zusammenwirken von Europäischem Rat, Ministerrat und Kommission? Das "wundervolle kollektive Abenteuer" - wie Jacques Delors es einst nannte - verkommt zur Angstpartie, wenn es nicht gelingt, die Europäische Union in ein durchschaubares und kontrollierbares Institutionengefüge zu verwandeln. Denn das Gelingen der Integration hängt davon ab, dass die Entscheidungen für die betroffenen Menschen einsehbar und nachvollziehbar sind.

Daher geht es nicht in erster Linie darum, die politische Bildung der Unionsbürger zu verbessern. Zu allererst wird eine Antwort darauf gefunden werden müssen, wie im supranationalen Rahmen demokratische Verfahrensweisen und Kontrollen organisiert werden können. Wer nur in den hergebrachten Konzepten von Staatlichkeit zu denken vermag, wird sich dabei schwer tun. Hier ist verfassungsrechtliche und rechtspolitische Phantasie gefragt. Der mit der EU-Grundrechte-Charta begonnene und von dem gegenwärtig tagenden Konvent fortgeführte Verfassungsdiskurs verdient schon deshalb Beifall, weil er sich dieser Herausforderung stellt.

Ein Weiteres kommt hinzu: Das Nachdenken darüber, wie einer supranationalen öffentlichen Gewalt Schranken gezogen werden können, lädt die Zivilgesellschaft zum Mitdenken ein. Mögen die bisherigen Ansätze einer europäisch orientierten Öffentlichkeit auch recht bescheiden sein - der Prozess der Verfassungsgebung könnte hier mobilisierend auf das Engagement von europäischen Verbänden, Stiftungen, Vereinen und Akademien wirken, ja sogar die Gründung europäischer Assoziationen fördern. Die Diskussion über gemeinsame Grundwerte und die Strukturprinzipien der Europäischen Union könnte sich so als Humus für eine europäische Bürgergesellschaft erweisen.

III. Abschnitt

Allerdings wäre es töricht zu erwarten, eine europäische Identität könnte sich analog der nationalen Identität entwickeln. Wohl vermittelt die von der Europäischen Union verfolgte Politik der europäischen Symbole - wie die einheitlich gestalteten Pässe, das europäische Autokennzeichen, die europäische Flagge und jetzt das Zeichen für den Euro, die gemeinsame europäische Währung - die erwünschten Assoziationen von einer größeren neben der staatlichen Gemeinschaft. Doch ob sie das gleiche Gefühl der Verbundenheit schafft, ist zu bezweifeln. Treffend haben Jürgen Habermas und jüngst Hartmut Kaelble darauf aufmerksam gemacht, dass sich das moderne europäische Selbstverständnis - statt auf die emotio zu vertrauen - stärker an den Zielen der Demokratisierung, der Sicherung des Friedens, des Wohlstands und der sozialen Sicherheit orientiere.

In diesem Zusammenhang spielen die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen Europas eine tragende Rolle. Gern wird daher im Zusammenhang mit der europäischen Integration der von Dolf Sternberger aus der Taufe gehobene Begriff des Verfassungspatriotismus bemüht. Sind doch die Verfahren und Instrumente der freiheitlichen Demokratie gemeinsam von den europäischen Staaten entwickelt, bereichert und fortgeschrieben worden. Peter Häberle spricht von einer "konzertierten Aktion" und erinnert daran, dass Griechenland den Gedanken der Demokratie, Großbritannien den Parlamentarismus, Frankreich die Menschenrechte wie die Gewaltenteilung, Italien und Spanien den Regionalismus und Deutschland die "fast perfektionistische Grundrechtsdogmatik" beigesteuert haben.

Noch heute besteht eine Mittel- und Osteuropa verstärkt einbeziehende Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft im Bereich des Rechts. Die jüngeren Verfassungsstaaten rezipieren die westlichen Texte zumeist im Lichte der Verfassungswirklichkeit und -praxis der älteren Demokratien und schreiben jene fort. Es geht - wie bei jedem anderen interkulturellen Dialog auch - nicht um einseitiges Bevormunden und Dominanz der älteren Demokratien. Vielmehr ist auf dem Weg zu einer gemeinsamen europäischen Rechts- und Verfassungskultur ein wechselseitiges Voneinanderlernen nach der Maxime angesagt: Prüfet alles und behaltet das Gute.

Die Kultur- und Bildungspolitik sollte daher im Rahmen der Europäischen Union als eine gemeinsame Aufgabe begriffen und gestaltet werden. Vereinzelte Ansätze gibt es bereits zwischen den mit der auswärtigen Kulturpolitik beauftragten Institutionen. Als jüngstes Beispiel sei auf das trinationale Kulturinstitut in Luxemburg hingewiesen, welches das Goethe-Institut/Inter Nationes gemeinsam mit dem Institut Culturel Francç,ais und dem Luxemburger Kulturministerium eröffnen wird. Dort und bei anderen Kooperationen wird sich zeigen lassen, was die Vielfalt der Regionen in der Europäischen Gemeinschaft bedeutet.

Nicht nur, um den Frieden auf diesem Kontinent zu sichern, bedarf es einer stabilen, von der kritischen Loyalität der Unionsbürger und -bürgerinnen getragenen Europäischen Union. Diese hat auch auf der weltpolitischen Bühne eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen. Die USA, mit denen uns die Entscheidung für die freiheitliche Demokratie eint, brauchen einen starken Partner, mit dem sie sich die Verantwortung für den Frieden in der Welt teilen und ein offenes Wort über die Wahl der Strategien wechseln können.

Prof. Dr. Dr. h.c., geb. 1934; 1994 bis April 2002 Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts; seither Präsidentin des Goethe-Instituts/Inter Nationes.

Anschrift: Goethe-Institut/Inter Nationes, Dachauer Str. 122, 80637 München.

Zahlreiche Veröffentlichungen zu rechtspolitischen Themen. Mitherausgeberin mehrerer wissenschaftlicher Zeitschriften und einer Schriftenreihe zur Gleichstellung der Frau.