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Hauptstadt Jerusalem | Jerusalem | bpb.de

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Hauptstadt Jerusalem Eine israelische Perspektive - Essay

Gad Lior

/ 16 Minuten zu lesen

Jerusalem wird auf immer die Hauptstadt des jüdischen Volkes und des Staates Israel sein. All jene Staaten, die sich seit Jahrzehnten weigern, dies anzuerkennen, existierten noch nicht einmal, als die Stadt vor mehr als 3300 Jahren bereits das Zentrum des jüdischen Landes war.

Ich war zehn Jahre alt, damals, im Sommer 1963. Mein Vater unternahm, wie an jedem Shabbat, einen Spaziergang durch Jerusalem mit mir. Unser Ausflug an jenem Tag war in mancherlei Hinsicht ungewöhnlich. Vater bestieg mit mir ein niedriges Gebäude, das Jahre zuvor auf einem kleinen Hügel neben dem Notre Dame Komplex errichtet worden war, am Rande des Musrara Viertels. "Ich möchte dir etwas zeigen", sagte Vater. Eine ganze Weile standen wir dort, und Vater wies auf eine hohe Mauer, die einen Teil des Blickfelds versperrte. "Ich will dir heute erzählen, dass unsere Stadt, Jerusalem, geteilt ist. Hier vor uns liegt eine hohe Mauer, welche die Grenze darstellt. Die eine Hälfte von Jerusalem liegt bei uns, auf dem Gebiet Israels, und die andere Hälfte befindet sich unter der Kontrolle Jordaniens, dort hinter der Mauer."

Ich war ein kleiner Junge, der nur wenig über die Ereignisse der Stadt wusste, in der er wohnte. Also erklärte Vater: Mit Kriegsende im Jahre 1948 wurde bestimmt, dass Jerusalem zwischen Israel und Jordanien geteilt werden sollte. Hier, genau in der Mitte der Stadt, wurde zunächst ein Zaun errichtet und später diese Mauer gebaut. Israel und Jordanien seien keine "Freunde", erklärte Vater, sondern zwei miteinander verfeindete Staaten. Ein Kontakt zwischen den beiden Staaten bestehe nicht. Im Gegenteil. Von Zeit zu Zeit werde hier an der Grenze geschossen, vor allem von der jordanischen Seite in Richtung der jüdisch-israelischen. Und zu beiden Seiten der Mauer stünden Soldaten. Uns sei es verboten, hinüberzuwechseln, sagte mein Vater, Arthur Lichtenstein. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an jenen Tag. Ich sah einen der damaligen munter rußenden Omnibusse auf der anderen Seite der Mauer fahren und begriff, dass ich mit diesem Bus niemals würde fahren dürfen.

Episode Im Niemandsland

Bei der Gelegenheit wurde mir auch zum ersten Mal die Geschichte über jenen sonnengefluteten Morgen in den 1950er Jahren erzählt, an dem eine alte Nonne im St. Louis Hospital des Notre Dame Komplex das nach Osten gehende Fenster ihres Zimmers öffnete, von dem aus der schmale Streifen Niemandsland zu sehen war, der zwischen dem Hospital und der Mauer der Altstadt lag. Immer hatte sie ihren Bekannten erzählt, das Niemandsland habe "unmittelbar hinter der Wand meines Zimmers begonnen".

Denn das muss man wissen: Noch während der turbulenten Tage des Befreiungskrieges unterzeichneten Israel und Jordanien 1948 ein Abkommen über eine Feuerpause in Jerusalem. Doch erst im Jahr darauf, als ein Waffenstillstandsvertrag ausgehandelt wurde, zeichneten die Generäle mit schlecht angespitztem Bleistift auf einer staubigen Karte die neue Grenze ein, die Jerusalem fortan teilen sollte: Die Altstadt mitsamt Umgebung verblieb in den Händen der Jordanier, der Westteil Jerusalems ging an den neuen jüdischen Staat, an Israel.

Als sich dann beide Seiten daranmachten, den Grenzverlauf endgültig festzulegen, mussten die Generäle erkennen, dass der dicke Strich, den man auf der Karte gezogen hatte, in realiter ganze Straßenzüge und Häuser bedeckte. Die Meinungsverschiedenheiten darüber gerieten zum ersten Grenzstreit. Doch rasch besannen sich die Vertreter beider Staaten, und da man sich schwertat, zu entscheiden, wem die einzelnen Häuser, Straßen und freien Flächen gehören sollten, die sich unter der groben Linie auf der Karte befanden, wurde am Ende beschlossen, diese zum "Niemandsland" zwischen beiden Staaten zu erklären. Alles, was unter dieser Demarkationslinie lag, sollte zu keinem der beiden Staaten gehören und zu einer Zone werden, in der sich niemand aufhalten durfte. Dies bedeutete, dass man Menschen zwang, ihre Häuser zu verlassen, Straßen unpassierbar gemacht wurden und das Gelände, das fortan keinem mehr gehören sollte, mit Stacheldrahtzäunen und Minen bestückt wurde. Große Schilder wurden aufgestellt, die in riesigen Lettern verkündeten: "Halt – Niemandsland – Grenze".

Und genau an diesen Streifen grenzte das St. Louis Hospital. Als sich die Nonne nun aus dem Fenster lehnte, um sich das Gesicht von den angenehmen Strahlen der Morgensonne bescheinen zu lassen, musste sie plötzlich husten. Und noch ehe sie dazu kam, etwas zu unternehmen, hatte sich bereits ihre Zahnprothese gelöst – und war geradewegs ins Niemandsland gefallen.

Als sie dem Abt des benachbarten französischen Klosters Notre Dame von ihrem Missgeschick erzählte, verstand er wohl ihre Notlage, gab jedoch auch zu bedenken, es handle sich um eine Zone, die schon wiederholt von jordanischen Scharfschützen unter Beschuss genommen worden sei, weshalb kaum Aussicht bestünde, dass irgendjemand sich in dieses Niemandsland wagen würde, um ihr ihre Zahnprothese wiederzubeschaffen. Bälle, mit denen Kinder gespielt und die sich dorthin verirrt hatten, waren dort sich selbst überlassen worden, ebenso Kleider, die es von den Wäscheleinen geweht hatte. Die Nonne brach in Tränen aus, worauf der Abt, der Mitleid mit ihr hatte, schließlich Usi Narkiss anrief, der später – Ironie der Geschichte – als Befehlshaber des Kommandoabschnitts Mitte der israelischen Streitkräfte im Sechstagekrieg 1967 zu den Kommandeuren gehören sollte, die die geteilte Stadt wieder vereinten.

Der israelische Militär wandte sich daraufhin an die Mitglieder der paritätisch besetzten UN-Waffenstillstandskommission und berichtete ihnen von der verzweifelten Ordensschwester. Auch den französischen Vertreter der Kommission, ein Offizier namens Carneaux, rührte das Missgeschick der alten Dame, die ihr Gebiss verloren hatte, weshalb er noch am selben Tag Kontakt zum Vertreter der jordanischen Regierung aufnahm. Und so geschah es, dass sich am nächsten Morgen ein ungewöhnlicher Suchtrupp in das Niemandsland aufmachte – bestehend aus je einem jordanischen und einem israelischen Repräsentanten sowie dem Vorsitzenden der UN-Kommission – und dabei angesichts der Minen und Stacheldrahtrollen kein eben geringes Risiko einging. Stundenlang suchten alle nach der Prothese, bis sich diese schließlich fand, unter dem Beifall Hunderter Schaulustiger, die sich zu beiden Seiten der Grenze versammelt hatten und das sonderbare Geschehen verfolgten.

Das Drama wurde von David Rubinger, den im vergangenen Jahr im Alter von 92 Jahren verstorbenen Träger des israelischen Staatspreises für Fotografie, mit seiner Kamera für das US-amerikanische "Life"-Magazin verewigt. Dort unterscheidet sich die Darstellung allerdings: Tatsächlich hatte wohl keine Nonne, sondern eine Patientin des Hospitals ihre Prothese verloren, die Nonnen hatten sich jedoch für die ungewöhnliche Suchaktion eingesetzt. Aber der Kern der Geschichte, die gemeinsame Aktion der damals eigentlich verfeindeten Israelis und Jordanier im Niemandsland, ist dadurch nicht weniger wahr.

Wenn man so will, ist dies die Geschichte der Stadt Jerusalem. Einer offiziell nur zwischen 1948 und 1967 geteilten Stadt, die aber auch nach ihrer Wiedervereinigung in mancher Hinsicht noch immer zwischen zwei Völkern geteilt ist, die sie beide als ihre Hauptstadt beanspruchen: das jüdische Volk, das jetzt vor genau siebzig Jahren den Staat Israel errichtete, und das palästinensische Volk, das seit Jahrzehnten verlangt, Jerusalem, diese historische Stadt, möge zur Hauptstadt seines eigenen Staates werden.

Vereint und doch geteilt

Vier Jahre nach jenem unvergesslichen Shabbatspaziergang mit meinem Vater erlebte ich ein weiteres Ereignis, das auf immer mit der Geschichte Jerusalems verbunden sein wird. Es geschah am Morgen des 5. Juni 1967. Ich verließ wie jeden Morgen unser Haus im Viertel Rehavia und machte mich auf zur Ma’ale-Schule, die ich besuchte. Ich war damals vierzehn und in der achten Klasse. Gerade, als ich die Schule erreicht hatte, ertönte Luftalarm, und überall in der Stadt explodierten Granaten. Viele Schüler brachen verängstigt in Tränen aus.

Mit meinen Klassenkameraden zählte ich zu den ältesten Schülern der Mittelschule. Der Schuldirektor kam in unsere Klasse und erklärte, es sei Krieg. Jeder der "großen" Schüler solle zwei Sechs- oder Siebenjährige aus den unteren Klassen nach Hause begleiten. Ich nahm also zwei Kinder, die nicht weit vom Haus meiner Familie wohnten, an die Hand. Dann rannten wir, ich erinnere mich noch genau, durch die Straßen, während im Hintergrund immer wieder Schüsse ertönten. Ich brachte die "Kleinen", die in der Bezalel und der Shmuel HaNagid wohnten, nach Hause und rannte dann atemlos zu uns in die Narkis-Straße.

Als ich etwa zwanzig, dreißig Meter vor unserem Haus angelangt war, sah ich den großen Krater in der Mitte der Straße. Eine Granate war genau vor dem Haus niedergegangen und hatte mit ihren Schrapnells auch unsere Wohnung getroffen. Glücklicherweise war niemand aus meiner Familie zuhause gewesen. Meine Mutter und meine Schwester traf ich schließlich, aufgelöst vor Sorge um mein Wohl, im Luftschutzkeller des Hauses in Rehavia, zusammen mit allen Nachbarn.

Als dieser kurze Krieg, der in Jerusalem drei Tage dauerte und im ganzen Land sechs, beendet war, hatte Israel den gesamten Ostteil der Stadt erobert. Seit dem Juni 1967 ist das vereinte Jerusalem Israels Hauptstadt, eine Hauptstadt, die von den allermeisten Staaten der Welt bis heute nicht anerkannt wird, obgleich bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts eine ganze Reihe von Botschaften ihren Sitz dort hatte.

Es besteht einige Ähnlichkeit zwischen Berlin, der Stadt, aus der meine Eltern 1939 flohen, und Jerusalem, der Stadt, in der ich wie meine Schwester geboren wurde und in der ich seit 65 Jahren lebe. Berlin wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in zwei Teile gerissen. Und 1961 wurde – genau wie in ihrer "Schwester" Jerusalem – im Herzen der Stadt eine hohe Mauer errichtet, gesäumt von "Niemandsland". Bis zur Überwindung der Teilung Berlins im November 1989 sollten 28 Jahre vergehen, während Jerusalem nur 19 Jahre geteilt blieb.

Stellenwert in den Schriften

Ich liebe Jerusalem. Für meinen Geschmack und nach Meinung vieler ist sie eine der schönsten und außergewöhnlichsten Städte auf der Welt, ganz sicher aber die frommste von allen. Im babylonischen Talmud heißt es: "Zehn Maß Schönheit kamen auf die Erde herab. Jerusalem bekam davon neun Maß, die übrige Welt eins. Du findest keine Schönheit, welche der Jerusalems vergleichbar ist." Kein Zweifel, es sind die Heiligkeit dieser Stadt und ihre besondere Schönheit, derentwegen beide Völker ihre Hauptstadt dort haben wollen. Doch während Jerusalem im Tanach, der hebräischen Bibel, mit den unterschiedlichsten Namen nicht weniger als siebenhundert Mal erwähnt wird, findet sich die Stadt im Koran nicht ein einziges Mal namentlich genannt.

Ich bin vermutlich der einzige jüdische Israeli, der es jemals bis vor die Tore der heiligen Stadt Mekka in Saudi Arabien geschafft hat. Es war 1993, als ich in geheimer und inoffizieller journalistischer Mission für die Tageszeitung "Yedioth Ahronoth", deren Redaktion in Jerusalem ich seit 24 Jahren leite, dorthin flog. Dazu schloss ich mich der Entourage des damaligen deutschen Außenministers Klaus Kinkel an. Und als ich so an einer der Zufahrtsstraßen nach Mekka stand, wo nur Muslimen der Zugang erlaubt ist, und mich – unter meiner falschen Identität als deutscher Journalist – mit einigen strenggläubigen Muslimen unterhielt, verkündeten sie allesamt und ohne Ausnahme, Mekka und Medina seien die heiligsten Städte der Muslime. Jerusalem nahm keinen Spitzenplatz auf dieser Liste ein.

Insgesamt 72 verschiedene Namen werden Jerusalem im Tanach zugeschrieben: Jerusalem, Efrata, Ariel, Armon, Bamot, Bashan, Hügel der Boswellia, Gola, Gilad, Garten Gottes, Hoher Berg, Berg der Myrrhe, Berg Moed, Berg der Heiligkeit, Berg der Höhe Israels, Chefziba, Nabel des Landes, Jebus, Yafe Nof, Braut, Vollkommene Schönheit, Stuhl Gottes, Turm der Herde, Moriah, Ruhe, Feste, Heiligtümer, Freude des ganzen Landes, Erbteil, Stadt Davids, Eden, Stadt Gottes, nimmer verlassene Stadt, Zion, Stadt des großen Königs, Große unter den Völkern, Rachel und Shalem, um nur einige zu nennen.

Zurzeit, wenige Monate nach der für heftige Kontroversen sorgenden Erklärung des US-Präsidenten Donald Trump, Jerusalem sei die Hauptstadt Israels, und da alle Kontakte zwischen Israelis und Palästinensern im Bemühen um einen Frieden in der Region festgefahren sind, hat es den Anschein, als sei der Status von Jerusalem das Hauptproblem für jeden Friedensschluss. Soll Jerusalem nur die Hauptstadt des jüdischen Volkes sein? Oder eine zwischen beiden Völkern geteilte Hauptstadt? Die Möglichkeit, Jerusalem könnte allein zur Hauptstadt Palästinas werden, existiert nicht.

Jerusalem wird, wie gesagt, im Koran nicht ein einziges Mal erwähnt. Auch in jenen Jahren, als Israel noch nicht die Kontrolle über den Ostteil der Stadt hatte, wurde dieser nicht zur Hauptstadt des palästinensischen Volkes erklärt. Aus einem einfachen Grund: Die Existenz eines palästinensischen Volkes wurde zum damaligen Zeitpunkt noch nicht propagiert, obschon Muslime seit der Gründung des Islam im Jahre 632 durch den Propheten Muhammad ibn Abdallah (Mohammed) im Lande Israel gelebt hatten.

Juden gab es in Jerusalem jedoch bereits im ersten Jahrtausend vor der christlichen Zeitrechnung. Die Stadt wurde damals zur Hauptstadt des vereinigten Königreiches Israel und später zu der des Königreiches Juda. Seitdem hat die Stadt viele Herren und Namen erlebt – so wurde sie unter den Römern in Aelia Capitolina umbenannt, war danach erst eine byzantinische und dann eine muslimische Stadt, wanderte durch die Hände der Kreuzfahrer, der Mamluken und Osmanen und stand nach dem Ersten Weltkrieg unter britischem Mandat. 1948 wurde der Westteil der Stadt durch die Juden zur Hauptstadt des Staates Israel erklärt, während der Ostteil eine jordanische Stadt wurde. Und seit 1967 ist Jerusalem wieder unter jüdisch-israelischer Vorherrschaft vereint.

Im Tanach wird die Eroberung Jerusalems durch König David im ersten Buch der Chronik geschildert: "Und David und ganz Israel zogen hin nach Jerusalem, das ist Jebus; denn die Jebusiter wohnten dort im Lande. Und die Bürger von Jebus sprachen zu David: Du wirst nicht hereinkommen. David aber eroberte die Burg Zion, das ist Davids Stadt. Und David sprach: Wer die Jebusiter zuerst schlägt, der soll Hauptmann und Oberster sein. Da stieg Joab, der Sohn des Zeruja, zuerst hinauf und wurde Hauptmann. David aber wohnte auf der Burg, daher nennt man sie ‚Stadt Davids‘. Und er baute die Stadt ringsum, vom Milo an rundumher. Joab aber stellte die übrige Stadt wieder her. Und David nahm immer mehr zu an Macht, und der HERR Zebaoth war mit ihm."

Der jüdischen Tradition zufolge bestand der erste oder salomonische Tempel rund vierhundert Jahre lang, bis er im Spätsommer des Jahres 586 v. Chr. durch den Feldherrn des babylonischen Königs Nebukadnezar II. bei der Eroberung Jerusalems gänzlich zerstört wurde. Die nachfolgenden gut sechshundert Jahre gelten als historische Epoche in der Geschichte des jüdischen Volkes und des Landes Israel, die als Zeit des zweiten Tempels bezeichnet wird. Jerusalem war Hauptstadt Judäas. Das wichtigste Bauwerk in Jerusalem in jener Epoche war der Tempel, und die Juden waren die bei Weitem dominanteste ethnisch-religiöse Gruppe in der Stadt. Jerusalem war das Zentrum des religiösen Lebens aller Juden, auch jener, die im Exil lebten, die ihre Hoffnungen mit der Stadt verbanden und dorthin pilgerten. Im Sommer des Jahres 70, am 9. des Monats Av, eroberte Titus den Tempelberg, steckte das Heiligtum in Brand und legte die gesamte Stadt in Schutt und Asche.

Mit Verkündigung des Christentums als offizielle römische Religion durch Kaiser Konstantin wurde Jerusalem im Jahre 313 auch für Christen zu einer heiligen Stadt, in der fortan viele Kirchenbauten errichtet wurden. Erst 638 wurde Jerusalem nach zweijähriger Belagerung durch die Muslime erobert und vom Patriarchen Sophronius an den Kalifen Umar ibn al-Khattab persönlich übergeben. Nach Einnahme der Stadt wurde der sogenannte Umariyya-Vertrag unterzeichnet, in dem im Gegenzug für die Kapitulation allen Bewohnern Jerusalems Unversehrtheit und Schutz zugesichert und den Juden gestattet wurde, in die Stadt zurückzukehren, in der ihre Vorväter schon eintausend Jahre zuvor gelebt hatten. Der Tempelberg und die Klagemauer, die in den Tagen der christlichen Herrschaft unter Unrat und Geröll begraben gelegen hatten, wurden freigelegt und gereinigt.

Dieser kursorische historische Abriss mag dazu dienen, klarzumachen und zu beweisen, was die meisten Israelis heute sagen: Jerusalem ist seit alters her eine Stadt, in der Juden gelebt haben, und in bestimmten Epochen war sie zudem die Hauptstadt des jüdischen Volkes, da der Tempel über der Stadt thronte, der erst in Brand gesteckt und dann neu errichtet wurde, ehe er abermals angezündet wurde und den Flammen zum Opfer fiel. Seine Überreste jedoch bestehen bis heute fort.

Warum also wird überhaupt eine Kontroverse darum geführt, welchem Volk dieses schöne und außergewöhnliche Jerusalem Hauptstadt ist?

Die Hauptstadtfrage

Ich bin als jüdischer Israeli, wie sehr viele meiner Landsleute, selbstverständlich der Meinung, dass Jerusalem auf immer die Hauptstadt des jüdischen Volkes und des Staates Israel sein wird. Doch andererseits fällt es schwer, die Tatsache zu ignorieren, dass in dieser Stadt seit nunmehr 1.400 Jahren auch Muslime leben und dass heutzutage rund ein Drittel ihrer 900.000 Einwohnerinnen und Einwohner keine Juden sind.

Ist es also vorstellbar, die Stadt von neuem zu teilen? Die Antwort eines jeden Israelis, ganz gleich ob politisch links oder rechts stehend, lautet unisono: entschieden nein! Und doch gibt es nicht wenige Israelis, die zu einem Kompromiss bereit wären, der vielleicht so aussehen könnte, dass es einen jüdischen Bürgermeister für den Westteil und einen arabischen für den Ostteil der Stadt gibt.

Ich habe in letzter Zeit palästinensische Freunde, darunter etliche Journalistenkollegen, gefragt, ob die Möglichkeit besteht, dass die Palästinenser im Rahmen eines Friedensabkommens Jerusalem als Hauptstadt Israels anerkennen. Ihre durchgehende Antwort lautete: Nein, wenn nicht zugleich ein Teil von Jerusalem als Hauptstadt Palästinas anerkannt wird. Im Gegenzug und aus Anlass dieses Aufsatzes habe ich die Umkehrfrage auch Israelis gestellt: Wäret ihr bereit, dass ein Teil von Jerusalem zur Hauptstadt Palästinas wird? Und ich war einigermaßen überrascht von der Einheitlichkeit der Antworten. Eine absolut ablehnende Haltung gab es nicht, doch die Israelis, die seit siebzig Jahren sehnsüchtig auf Frieden und ein Ende des Konfliktes in der Region hoffen, verbanden – und zwar ausnahmslos alle – die Erhebung der arabischen Viertel in Ost-Jerusalem zur Hauptstadt Palästinas mit der Bedingung, dass nicht nur ein echter und endgültiger Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina unterzeichnet werden müsste, sondern vor allem mit der Auflage, dass die Stadt vereint bleibt und die Gesetze des israelischen Staates für alle Teile Gültigkeit behalten. Anderenfalls werde hier das schiere Chaos ausbrechen.

Die Juden haben nur einen einzigen Staat auf der Welt – Israel. Die Muslime dagegen haben 22 Staaten. Die Juden haben nur eine einzige heilige Stadt, die Muslime aber deren drei, zählt man neben Mekka und Medina auch Jerusalem hinzu. Und Juden lebten in Jerusalem über 1.600 Jahre, bevor der Islam das Licht der Welt erblickte. All jene Staaten, die sich seit Jahren und Jahrzehnten weigern, Jerusalem als Hauptstadt des jüdischen Staates Israel anzuerkennen, existierten noch nicht einmal, als Jerusalem vor mehr als 3.300 Jahren bereits das Zentrum des jüdischen Landes war. Und die Hauptstädte dieser heutigen Staaten waren damals Sumpfland, Wälder und unbehauste Berge.

Verwahren sich zum Beispiel Länder wie Frankreich, in denen es heute eine große muslimische Minderheit gibt, dagegen, Jerusalem zur Hauptstadt des jüdischen Volkes zu erklären, nur aus Furcht vor den Muslimen im eigenen Land oder weil es heute – nachdem sechs Millionen Juden im Holocaust ermordet wurden – nur mehr etwa 15 Millionen Juden auf der Welt gibt, während gleichzeitig jeder vierte Mensch auf der Welt Muslim ist?

Interessant ist auch, dass die Forderung, Jerusalem zur Hauptstadt einer muslimischen Gemeinschaft oder eines Staates zu machen – Jordanien eingeschlossen, das immerhin fast zwanzig Jahre dort herrschte –, lange gar nicht aufkam. Erst als 1968 die Palästinensische Befreiungsorganisation durch Jassir Arafat gegründet wurde, verkündete er sogleich, Jerusalem müsse die Hauptstadt des palästinensischen Volkes werden.

Nur Alles oder Nichts möglich?

Die Juden werden niemals die Absicht verfolgen, in Jerusalem die Religionsausübung, welcher Glaubensgemeinschaft auch immer, einzuschränken. In der Stadt sind Hunderte von Kirchen, Moscheen und annähernd zweitausend Synagogen. Die freie Ausübung ihrer Religion ist allen, auch den kleinsten Glaubensgemeinschaften gestattet, seien es Baptisten, Katholiken, Sunniten, Schiiten, die Bratslaver Chassidim oder die Anhänger des Rabbis aus Gur. Die große Befürchtung vieler Israelis ist: Sollte auch nur ein Teil von Jerusalem zur Hauptstadt Palästinas werden, wäre es mit der Religionsfreiheit dort vorbei.

So ist es Juden etwa untersagt, zu Synagogen oder Heiligengräbern im Westjordanland zu gelangen. Um das Josephsgrab in Nablus zu besuchen, müssen zahlreiche Soldaten die jüdischen Betenden begleiten, da stets befürchtet werden muss, dass ihnen dort etwas angetan wird. Ja, nach 1948 hatten die Muslime sogar sämtliche Synagogen in der Altstadt von Jerusalem zerstört und den jüdischen Friedhof auf dem Ölberg verwüstet. Beispiele wie diese genügen, um die überwiegende Mehrheit aller Juden in Israel davon zu überzeugen, dass man den Palästinensern keine wie auch immer geartete Kontrolle über Teile von Jerusalem ermöglichen sollte.

Es spricht vieles dafür, dass Jerusalem bislang das Hauptproblem auf dem Weg zu einem Frieden im Nahen Osten war und auch künftig sein wird. Die Frage der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 und ihrer Nachkommen oder die des Grenzverlaufs von 1967 lassen sich eher lösen. Sicher wird ein Kompromiss gefunden werden, wie viele Flüchtlinge, wenn überhaupt, zurückkehren dürfen, und wie weit sich Israel aus dem Westjordanland wird zurückziehen müssen. Demgegenüber scheint sich eine Lösung in Bezug auf die Frage der Kontrolle und den Status von Jerusalem als Hauptstadt nicht in Form eines Kompromisses finden zu lassen. Daher wird diese Frage bei allen künftigen Friedensgesprächen der letzte zu lösende Punkt auf der Tagesordnung bleiben.

Ausklang

Man erzählt sich, Herschele Ostropolier – ein frommer jüdischer Till Eulenspiegel, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf dem Gebiet der heutigen Ukraine lebte und Held zahlloser erfundener Anekdoten ist – sei einmal mit knurrendem Magen in eine Herberge gekommen. In der Tasche hatte er nicht einen roten Heller mehr. Doch wohlgemut wandte sich Herschele an den Herbergsvater und bat um ein Abendessen. Der Wirt, der sah, mit wem er es zu tun hatte, erwiderte: "Leider ist uns für heute alles Essen ausgegangen." Herschele, der ein bisschen heruntergekommen und seltsam wirkte, begann, gereizt auf und ab zu gehen und dabei wütend zu brummen: "Wenn ich nicht auf der Stelle ein Abendessen bekomme – bin ich genötigt zu tun, was mein Vater seinerzeit tat." Dies wiederholte er mehrere Male, und seine Miene wurde zusehends finsterer, seine Augen sprühten mit jedem Schritt Funken. Der Wirt erschrak und bekam es mit der Angst zu tun, was der ungebetene Gast wohl anstellen würde. Schnell lud er ihn ein, an einem gedeckten Tisch Platz zu nehmen, und wünschte guten Appetit.

Nachdem Herschele seinen Hunger gestillt hatte und wieder freundlich dreinschaute, wagte der Herbergsvater zu fragen: "Und, was hat Ihr Herr Vater getan, wenn man ihm kein Abendessen gewährte?" "Mein Herr Vater", sagte Herschele, "pflegte in solchen Fällen ins Bett zu gehen und mit leerem Magen einzuschlafen …"

Beide Seiten – Israelis wie Palästinenser – drohen jedes Mal aufs Neue, ohne den eigenen Herrschaftsanspruch und eine Proklamation Jerusalems als die ihrige Hauptstadt werde es im Nahen Osten bitter und böse enden. Doch vielleicht sollten die Verantwortlichen beider Seiten tatsächlich einmal mit leerem Magen schlafen gehen und intensiv über eine kreative Lösung für die Zukunft dieser festgefügten Stadt, des unteilbaren Jerusalems, nachdenken.

Übersetzung aus dem Hebräischen: Markus Lemke, Hamburg.

arbeitet in seiner Geburtsstadt Jerusalem als leitender Redakteur bei der israelischen Tageszeitung "Yedioth Ahronoth". E-Mail Link: gadl@yedioth.co.il