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Munizipale Realitäten | Jerusalem | bpb.de

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Munizipale Realitäten Wer hat das Sagen in Jerusalem?

Inge Günther

/ 16 Minuten zu lesen

Politische Ansprüche und Alltagswirklichkeit klaffen in Jerusalem weit auseinander. Israelis in West- und Palästinenser in Ost-Jerusalem leben in Parallelwelten; weder politisch noch rechtlich sind sie gleichgestellt. Der Tempelberg ist die letzte Trumpfkarte der Palästinenser.

Politischer Anspruch und Alltagswirklichkeit klaffen in Jerusalem weit auseinander. In Festtagsreden sprechen israelische Politiker gerne von der "ewig vereinten jüdischen Kapitale". Ein 1980 von der Knesset verabschiedetes Grundgesetz definiert Jerusalem ohne Abstriche als Israels Hauptstadt, also einschließlich des annektierten Ostteils. Tatsächlich sind die arabischen Viertel für die meisten Israelis terra incognita, unbekanntes Gebiet, in das sie schon wegen Sicherheitsbedenken selten einen Fuß setzen.

Die Palästinenser wiederum erheben Anspruch auf Ost-Jerusalem als ihre Hauptstadt. Die Vereinten Nationen stehen dabei mehrheitlich hinter ihnen. Die israelische Annexion hat der Weltsicherheitsrat 1980 in der Resolution 478 für null und nichtig befunden, woraufhin die 16 ausländischen Botschaften, die es bis dahin in Jerusalem gab, nach Tel Aviv zogen. Die Entscheidung des US-Präsidenten Donald Trump, die Botschaft seines Landes im Mai 2018 in umgekehrte Richtung zu verlegen, hat die Ost-Jerusalemer zwar in helle Empörung versetzt – aber nicht wenige Palästinenser haben ihre Kompromisse mit Israel gemacht, das bessere Arbeitsplätze und eine Sozialversicherung zu bieten hat. Dennoch ist es mit der Wiedervereinigung Jerusalems nicht allzu weit her. Real besehen, leben Israelis und Palästinenser in Parallelwelten; weder politisch noch rechtlich sind sie gleichgestellt.

Vereint und doch geteilt

Während die Israelis – rund 60 Prozent der 865.000 Stadtbewohner –, selbstredend volle Staatsbürger sind, genießen die Palästinenser aus dem Ostteil – also immerhin knapp 40 Prozent –, nur ein Residenzrecht, das widerrufen werden kann. Was vor über 50 Jahren von Israels Regierung als Provisorium gedacht war, hat sich zum Dauerzustand entwickelt, mit weitreichenden Folgen für das Zusammenleben.

Die Weichen dazu wurden in der Siegerstimmung nach dem Sechstagekrieg von 1967 gestellt. Israelische Truppen hatten die Jordanier in die Flucht geschlagen. Die Altstadt mit ihren heiligen Stätten sowie der gesamte arabische Teil Jerusalems waren in israelischer Hand. Noch während die Grenzbarrieren zwischen dem bis dahin jordanisch verwalteten Ostteil und dem jüdischen Westteil fielen, kam am 11. Juni 1967 das Kabinett von Premier Levi Eshkol zusammen, um über die Zukunft der Stadt zu beraten. Einhellig stimmte die Ministerrunde für die Wiedervereinigung. Entschieden wurde ebenso, die israelische Souveränität auf ganz Jerusalem auszudehnen, eine faktische Annexion.

Die israelische Regierung war sich zunächst jedoch unschlüssig darüber, was man mit den arabischen Jerusalemern anfangen solle. Ein Vertreter von Mapam, dem linken Vorläufer der Arbeitspartei, vertrat die Auffassung, man müsse sie zu israelischen Staatsbürgern machen, alles andere sei Diskriminierung. "Nicht unbedingt", hielt Menachem Begin vom Likud, der zehn Jahre später Premierminister werden sollte, dagegen. Sein Konzept, den Arabern in Jerusalem zunächst lediglich Residenzrechte einzuräumen, setzte sich schließlich durch. Der demografische Faktor gab den Ausschlag: Die Regierung wollte die bereits in Israel lebende arabische Minderheit nicht noch vergrößern – zumal Ende Juni 1967 das Jerusalemer Stadtgebiet erweitert wurde. Der bis zum Sechstagekrieg jordanisch verwaltete Ostteil wuchs dadurch um das Zehnfache auf 72 Quadratkilometer. Insgesamt 28 palästinensische Dörfer wurden eingemeindet, die bis dahin zum Jerusalemer Umland gehört hatten. Auch dabei ließen sich die israelischen Stadtplaner von demografischen Gesichtspunkten leiten. Es ging ihnen darum, möglichst viel Umland, aber möglichst wenig arabische Bewohner in die Jerusalemer Stadtgrenzen zu holen. "Man könnte sagen", bemerkt dazu der Politikwissenschaftler und Jerusalem-Experte Amnon Ramon, "dass Israels Annexion von Ost-Jerusalem ‚hohl‘ ist: Sie bezieht sich vor allem auf Territorium und nicht auf die Leute, die dort leben."

Für die Palästinenser hatte das tief greifende Folgen. Außerhalb liegende Dörfer wie Anata und Hisma, aber auch die Stadt Abu Dis verloren viele Ländereien. Dörfer, die sich plötzlich innerhalb Jerusalems wiederfanden, urbanisierten sich hingegen und verwandelten sich in städtische Viertel. In diesem Prozess fehlte es ihnen an politischer Vertretung. Muchtars, eine Art Ortsvorsteher, gab es zwar noch, doch besaßen sie wenig Befugnisse. Israel hatte die arabische Stadtverwaltung unter jordanischer Herrschaft gleich nach dem Sechstagekrieg annulliert. Ihre Aktivitäten wurden untersagt, ihr Grund und Boden in die öffentliche Hand der israelischen Verwaltung überführt.

Die Iriya, das seinerzeit von Bürgermeister Teddy Kollek regierte Rathaus in West-Jerusalem, widmete wiederum in Absprache mit der israelischen Regierung ein Drittel der 72 annektierten Quadratkilometer in Baugebiete für jüdische Siedlungen im Ostteil um. Fast ein Viertel wurde als "Grüne Zone" deklariert – Erholungsgebiet, für das keine Baugenehmigung erteilt wird. Am Ende ließen die Stadtplaner den Palästinensern neun Quadratkilometer, also rund 13 Prozent, als mögliches Bauland übrig. "Und vieles davon", so das United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA), "ist bereits bebaut".

Wohnungsbau ohne Lizenz

Nicht nur Bauland ist in Ost-Jerusalem rar. Weil sie schwer oder gar nicht an die nötigen Baugenehmigungen herankommen, bauen palästinensische Jerusalemer oft ohne Lizenz. Gerade an jüdischen Feiertagen, wenn die israelische Bauaufsicht nicht arbeitet, rotieren in den arabischen Vierteln die Zementmischer. Mal wird ein Zimmer angebaut, mal ein zusätzliches Stockwerk aufs Dach gesetzt, bisweilen wird auch ein großes Mehrfamilienhaus blitzschnell im Rohbau hochgezogen. Wenn die Außenwände stehen, ist der erste riskante Teil geschafft. Der Innenausbau fällt den städtischen Inspektoren weniger leicht auf.

Experten im Jerusalemer Rathaus schätzten bereits um die Millenniumswende, dass rund 40 Prozent der Häuser in Ost-Jerusalem unerlaubt errichtet wurden. Sowohl Stadtverwaltung als auch Innenministerium gehen dagegen mit Abrissbefehlen vor. 2017 haben die Behörden laut OCHA 142 Gebäude in den palästinensischen Stadtbezirken abgerissen, 2016 waren es 190. Die Angst vor den oft im Morgengrauen anrückenden Bulldozern treibt viele Ost-Jerusalemer um. Das hält sie allerdings nicht davon ab, sich mangels besserer Alternativen ungenehmigten Wohnraum zu verschaffen. Die Faustregel besagt, dass Israel allenfalls in der Lage ist, etwa jeden zehnten illegalen Bau zu zerstören.

Laut dem früheren Stadtverordneten Meir Margalit hat sich die Verwaltung bis 2001 meist damit begnügt, in solchen Fällen Bußgelder zu verhängen. In West-Jerusalem sei dies noch heute so, zitiert er den früheren Stadtplaner David Kroyanker: "Im jüdischen Sektor bekommt jeder, der ein Baudelikt begeht, nach drei Jahren ein 300-Schekel-Ticket und macht mit seinem nächsten unautorisierten Projekt weiter." Dass die Bauinspektoren offensichtlich in manchen Fällen bewusst wegschauen, zeigt auch das Beispiel eines siebengeschossigen Wohnhauses im Besitz der ultrarechten Siedlerorganisation Ateret Cohanim: Eine Baugenehmigung besitzt es nicht, aber es steht seit Jahren unübersehbar, drapiert mit riesiger israelischer Flagge, im arabischen Viertel Silwan, das von nationalreligiösen Juden als "Ir David" – Stadt Davids – beansprucht wird.

Für Unmut auf palästinensischer Seite sorgt auch, dass nach herrschender Rechtslage Israelis Häuser in Ost-Jerusalem zurückfordern können, die vor der Staatsgründung 1948 in jüdischem Besitz waren. Umgekehrt können Palästinenser aber nicht auf Rückgabe vormaligen Eigentums in West-Jerusalem klagen. Gerade die ideologischen jüdischen Siedler nutzen dies und andere zweifelhafte Methoden, um wie zuletzt im Sommer 2017 im Viertel Sheikh Jarrah palästinensische Wohnungen zu übernehmen. Der Anführer der siedlernahen Organisation Israel Land Fund, der Stadtverordnete Arieh King, wirbt offen für eine "Judaisierung" der arabischen Stadtteile, um "ganz Jerusalem zu erlösen". Diversen Angaben zufolge leben zwischen 1.000 und 2.000 dieser Siedler-Hardliner verschanzt hinter Gittern und Überwachungskameras in palästinensischen Vierteln.

In größerem Maßstab verstellen die Siedlungsprojekte, die Israel seit 1967 auf annektiertem Land in Ost-Jerusalem gebaut hat, eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes. Der rapide gewachsene Siedlungsgürtel mit über 210.000 Menschen schnürt die arabischen Viertel zunehmend ein. Allerdings haben sich einige Palästinenser inzwischen selbst in ältere, schlechter ausgestattete Siedlerwohnungen eingekauft.

Bürger zweiter Klasse

Zwar ist es den arabischen Bewohnern Ost-Jerusalems gemäß Artikel 5 des israelischen Nationalitätsgesetzes von 1952 unter gewissen Bedingungen möglich, die israelische Staatsbürgerschaft anzunehmen, jedoch haben bis heute nur etwa 20.000 (rund sechs Prozent) einen entsprechenden Antrag gestellt.

Das Residenzrecht entpuppte mit den Jahren freilich seine Tücken. Volle Bürgerrechte wie das Wahlrecht zur Knesset sind für die palästinensischen Bewohner Ost-Jerusalems damit nicht verbunden. Als "ständige Residenten" dürfen sie zwar an Kommunalwahlen teilnehmen, was sie aber in der Regel nicht tun, damit ihnen keiner vorwerfen kann, sie hätten sich mit der israelischen Besatzung abgefunden. Die Folge: Der Stadtrat muss auf ihre Stimmen nicht zählen und sich um ihre Belange wenig kümmern. So fließt nur etwa ein Zehntel des städtischen Budgets in die palästinensischen Viertel, die Lebensqualität im jüdischen Westteil und dem arabischen Ostteil klafft weit auseinander.

Erkennen lässt sich das bereits am Gefälle in der Infrastruktur. In den arabischen Vierteln quellen die Abfallcontainer über, weil die Müllabfuhr zu selten kommt. Viele Straßen sind kaputt. Post wird so gut wie gar nicht ausgetragen. Einige Gebiete haben nicht mal ein Abwassersystem. Auch mangelt es im Gegensatz zu West-Jerusalem an Parks und Spielplätzen. Die städtischen Schulen für palästinensische Kinder sind, von ein paar Vorzeigeeinrichtungen abgesehen, heruntergekommen, vielerorts fehlt es an Klassenzimmern. "Wir können keine Loblieder auf das vereinte Jerusalem singen", dämpfte auch Israels Staatspräsident Reuven Rivlin die Jubelstimmung anlässlich des 50. Jahrestages der Wiedervereinigung Jerusalems im Mai 2017, "solange der Ostteil das ärmste urbane Gebiet in Israel ist".

Dennoch sind Palästinenser in Ost-Jerusalem im Vergleich zu jenen im Westjordanland bessergestellt. Wer als Resident eine "blaue ID", eine israelische Identitätskarte, besitzt, hat Anspruch auf die Kupat Cholim, die staatliche Krankenversicherung, sowie auf Kindergeld. Zudem brauchen palästinensische Stadtbewohner, anders als ihre Verwandten aus den besetzten Gebieten keine Sondererlaubnis, um sich innerhalb Israels frei zu bewegen. Dies ist vor allem ein Vorteil bei der Jobsuche. Ob in Jerusalemer Hotels und Restaurantküchen, im Straßenbau, in Kfz-Werkstätten, auf dem Mahane Yehuda Markt oder auch bei der Busgesellschaft Egged: Überall sind Araber beschäftigt. Fielen die rund 35.000 Arbeitskräfte aus dem Ostteil plötzlich aus, wäre West-Jerusalem praktisch lahmgelegt. Aber da letztlich beide Seiten profitieren – die gezahlten Löhne sind für die israelischen Betriebe recht günstig, und für die palästinensischen Arbeitnehmer bedeuten sie zumindest ein geregeltes Einkommen –, bleibt der politische Konflikt in diesem Verhältnis für gewöhnlich außen vor.

Allerdings kann Israel das Residenzrecht auch wieder entziehen, zum Beispiel wenn Palästinensern Nachweise fehlen, dass Jerusalem ihr Lebensmittelpunkt ist. Wer sieben Jahre im Ausland gearbeitet hat oder der billigeren Mieten halber jenseits der Stadtgrenzen wohnt, verwirkt seinen Status als Resident. Auch ein Zweitpass ist ein Risiko, denn nach israelischer Auslegung können Palästinenser mit einem Zweitpass genauso gut woanders leben. Dass ihre Familien womöglich seit Generationen zu den alteingesessenen Jerusalemern gehören, zählt nicht. Von israelischen Staatsbürgern verlangt das Innenministerium keine Belege, dass ihr Lebensmittelpunkt Jerusalem ist.

Darüber hinaus besteht Israel auf "eine minimale Loyalitätspflicht zum Staat Israel". In einem Präzedenzfall wurden vier Ost-Jerusalemer Mitglieder der radikalislamischen Hamas, die 2006 in den Palästinensischen Legislativrat gewählt worden waren, aus der Stadt verbannt. Im September 2017 kippte Israels Oberstes Gericht die Entscheidung jedoch, weil höchstens Zugezogenen wegen mangelnder Loyalität der Aufenthalt in der Stadt verwehrt werden könne, nicht aber Einheimischen. Die Richter räumten der Regierung aber eine Frist ein, die Rechtslücke mit einer Gesetzesnovelle zu schließen, die die Knesset im März 2018 verabschiedet hat. Demnach ist der israelische Innenminister nun befugt, Palästinensern, die sich strafbar gemacht oder einen "Loyalitätsbruch" begangen haben, das Residenzrecht zu entziehen.

In der Praxis nutzt Israel den Residenzrechtsentzug bereits seit Längerem auch als Strafmaßnahme nach Anschlägen. Als im Herbst 2015 eine palästinensische Gewaltwelle mit Messerattacken und Fahrzeugrammen losbrach, erließ die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu ein Dekret, Angreifer aus Ost-Jerusalem samt ihrer Familien auszuweisen. Bürgerrechtler kritisierten dies als unzulässige Kollektivstrafe. Insgesamt hat das israelische Innenministerium seit 1967 über 14500 Palästinensern das Residenzrecht aberkannt. In etwa 80 Prozent der Fälle geschah dies nach 1995. Die Betroffenen können dagegen Rechtsmittel einlegen und bis zur Entscheidung der Klage einen temporären Aufenthaltstitel erhalten, vorausgesetzt, sie bringen die nötigen Anwaltskosten auf. Umso akribischer werden in palästinensischen Haushalten stapelweise Stromrechnungen und Quittungen über die gezahlte Arnona, die jährliche Stadtsteuer, sowie Schulzeugnisse der Kinder gesammelt, um ja keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass ihr Lebensmittelpunkt in Jerusalem ist.

Demografische Entwicklung

Real besehen hat sich Israels rigider Umgang mit den Arabern in Ost-Jerusalem im Hinblick auf das Ziel, ihre Zahl zu begrenzen, als kontraproduktiv entpuppt. 1967 stellten die Palästinenser nur etwa 25 Prozent der Stadtbevölkerung. Ein Anteil von 30 Prozent sollte nicht überschritten werden, empfahl ein Regierungskomitee noch 1973. Inzwischen nähert sich der Anteil der palästinensischen Bewohner der 40-Prozent-Marke (derzeit 37 Prozent). Das liegt nicht allein an ihrer höheren Geburtenrate, die nur von der Geburtenrate ultraorthodoxer Jüdinnen übertroffen wird. Gerade weil sie den Verlust ihres Status als Jerusalemer fürchteten, sind viele Palästinenser in die Stadt zurückgezogen. Sie ziehen beengte Wohnverhältnisse in einem winzigen, feuchten Apartment in der Altstadt immer noch einem Dasein im Westjordanland ohne soziale Absicherung vor.

Die Tendenz, unbedingt Jerusalemer bleiben zu wollen, hat sich durch die seit 2003 von Israel errichtete Sperranlage verstärkt. Der sechs bis acht Meter hohe Betonwall, der als Reaktion auf zahlreiche Anschläge von Attentätern aus dem Westjordanland gebaut wurde, schneidet nicht nur Ost-Jerusalem vom traditionellen Einzugsgebiet im Westjordanland ab, er verläuft teils mitten durch arabische Wohngebiete. Jeder vierte Palästinenser wohnt nun hinter der Mauer, von wo aus man nur über kilometerlange Umwege und Checkpoints in die Stadt gelangt. Für diese Außenbezirke, die formell noch auf Stadtgebiet liegen, gibt es nicht mal mehr eine minimale kommunale Versorgung. Abgeschnitten vom Hinterland, mit dem Ost-Jerusalem früher engen Handel betrieb, hat sich aber auch die soziale Lage in Vierteln innerhalb der Mauer verschlechtert. Arbeitslosigkeit, Drogen- und Eigentumsdelikte sind entsprechend gestiegen. Offiziellen Zahlen zufolge, auf die sich das Jerusalem Institute for Policy Research (JIPR) beruft, fallen 77 Prozent der palästinensischen Familien und sogar 83 Prozent ihrer Kinder unter die Armutsgrenze. Zum Vergleich: Die Armutsrate unter israelischen Kindern liegt bei 21 Prozent.

Tatsächlich ist Jerusalem nicht nur die größte, sondern auch die einkommensschwächste Stadt Israels. Das liegt nicht zuletzt an der wachsenden Zahl ultraorthodoxer Juden, zu denen sich nach Angaben des zentralen israelischen Statistikbüros 36 Prozent der jüdischen Stadtbevölkerung rechnen. Von den Männern der strengfrommen Haredim – die hebräische Bezeichnung der schläfengelockten Gottesfürchtigen – geht nur etwa jeder Zweite einer geregelten Arbeit nach. Die andere Hälfte widmet sich dem Torah-Studium in den Yeshivot, den Religionsschulen, und lebt von Sozialhilfe.

Gesunken ist indessen der säkulare Anteil an der jüdischen Bevölkerung. Aber nicht nur junge, moderne Israelis haben in den vergangenen Jahren Jerusalem vermehrt den Rücken gekehrt. Auch viele Familien, die einen traditionell-religiösen, aber eben nicht strikt frommen Lebensstil pflegen, zieht es weg, weil ihnen West-Jerusalem zu teuer geworden ist. Einer Studie des JIPR zufolge leidet die Stadt seit Jahren an einem negativen Wachstum von fast zehn Prozent. Die Zahl der jährlich Wegziehenden übertrifft die Zahl der Zuziehenden um etwa 7000.

Um diese Entwicklung zu stoppen, wird in Israel seit geraumer Zeit über ein "Groß-Jerusalem"-Gesetz diskutiert. Es sieht den Anschluss von israelischen Siedlungsblöcken im Westjordanland wie Maʹale Adumim, Gush Etzion und Givʹat Zeʹev vor, die um die 20 Autominuten von der Stadtgrenze entfernt liegen. Diese Gebiete sollen nicht komplett eingemeindet, sondern lediglich als "Tochter-Behörden" unter das Dach der Jerusalemer Stadtverwaltung gestellt werden. Dies käme einer Annexion nahe, wäre offiziell aber noch keine. Käme der Gesetzesvorstoß durch, könnten über 100.000 Siedler bei Kommunalwahlen mit über den Bürgermeister und den Stadtrat von Jerusalem abstimmen. Allerdings hat Netanyahu die Vorlage vorerst zurückgestellt, da Washington Bedenken anmeldete.

Gleichzeitig laufen Überlegungen, drei arabische Stadtteile, die östlich der Sperrmauer liegen, darunter das übervölkerte Flüchtlingslager Shuʹafat, auszugrenzen. Das Ziel davon sei, bekannte Transportminister Yisrael Katz freimütig, Tausende jüdische Bewohner nach Jerusalem zu holen und die arabische Präsenz in der Stadt zu schwächen. Bei den palästinensischen Stadtbewohnern zeichnet sich derweil ein Meinungsumschwung ab, künftig israelische Kommunalwahlen nicht mehr zu boykottieren. Laut einer Erhebung der Hebräischen Universität sprachen sich jüngst 58 Prozent der Ost-Jerusalemer für eine Teilnahme aus, um die ungleichen Verhältnisse in der Stadt zu verbessern.

Streit um den Tempelberg

Im hebräischen Namen für Jerusalem – Yerushalayim – steckt zwar das Wort Frieden, shalom, was als göttliche Verheißung verstanden wird, und auch im arabischen Namen al-Quds, wörtlich übersetzt mit "die Heilige", spiegelt sich der religiöse Charakter der Stadt wider. Doch gerade die heiligen Stätten geraten immer wieder in den Brennpunkt des Konfliktes zwischen Juden und Muslimen. Nichts hat so oft für politischen Zündstoff, für Gewaltausbrüche und harte Konfrontationen gesorgt, wie der Streit um jenes Areal in der Altstadt, auf dem zu biblischen Zeiten ein jüdischer Tempel stand, aber wo sich heute seit 1300 Jahren Felsendom und al-Aqsa-Moschee befinden. Erinnert sei nur an die Zweite Intifada ab September 2000, die geprägt war von Selbstmordattentaten und Militäroffensiven, die nahezu 1.000 Israelis und 3.000 Palästinenser das Leben kosteten. Der Auslöser war eine Visite des damaligen israelischen Oppositionschefs Ariel Sharon, der mit massivem Begleittross den Tempelberg besucht hatte.

Auf diesem Felsplateau, von dem aus Prophet Mohammed seine nächtliche Himmelsreise angetreten haben soll, genießen muslimische Gläubige religiöse Vorrechte. Aus Respekt vor ihrem drittwichtigsten Heiligtum nach Mekka und Medina hatte der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan nach dem Sechstagekrieg 1967 der islamischen Waqf-Behörde zugestanden, das Moscheegelände, genannt Haram al-Sharif ("erhabenes Heiligtum"), weiter zu verwalten. Nicht-Muslimen sind zwar Besuche erlaubt, aber keine Gottesdienste oder Gebete. Das Oberrabbinat untersagt frommen Juden sogar grundsätzlich ein Betreten des Tempelberges. Da niemand genau wisse, wo einst das Allerheiligste mit der Bundeslade und den auf Steintafeln eingravierten zehn Geboten lag, wäre es ein Frevel, auf diese göttliche Stelle versehentlich einen Fuß zu setzen. Dieses Verbot hat die Ultraorthodoxie 2013 erneut bekräftigt. Die heiligste Stätte des Judentums ist daher die Kotel, die westliche äußere Mauer des Tempelplateaus, die von dem im Jahr 70 zerstörten Herodes-Tempel erhalten blieb. Der Platz vor der "Klagemauer" ist einer Synagoge gleichgestellt, in der Juden beten oder Bar-Mitzvah-Feiern ausrichten.

Dieses Arrangement gilt seit 1967 als der "Status quo" Jerusalems, der anlässlich des Friedensvertrages von 1994 zwischen Israel und Jordanien noch einmal bekräftigt wurde. Als oberster Hüter des Moscheegeländes fungiert nominell der Haschemitische König. Für die Sicherheit sind indes die Israelis zuständig. Die näheren Details sind nicht schriftlich fixiert und daher Auslegungssache. Zehn der elf offenen, jahrhundertealten Tore zum Moscheegelände kontrollieren die Waqf-Wächter, die penibel darauf achten, dass nur Muslime passieren. Aber an vielen Ecken der Altstadt stehen israelische Einsatzkräfte bereit, um gegebenenfalls einzugreifen. Zudem öffnet Israel seit 2003 wochentags für vier Stunden einen Zugang für Tempelberg-Touristen. Bis zur Zweiten Intifada ab Herbst 2000 verfügte die Waqf-Behörde noch allein über die Ausgabe der Besuchertickets.

Eintrittsrechte und Sicherheitsfragen bieten immer wieder Konfliktstoff, etwa wenn Israel mit Verweis auf die Sicherheitslage Altersbeschränkungen für die Teilnahme am Freitagsgebet in der al-Aqsa-Moschee festsetzt. Wie weit die Wahrnehmung beider Seiten auseinanderklafft, zeigt exemplarisch der Streit um die Metalldetektoren, die Netanyahu im Juli 2017 nach einem tödlichen Schusswaffenangriff auf zwei Polizisten an den Zugängen zum Tempelberg aufstellen ließ. Aus Protest rief der Mufti zum Boykott von al-Aqsa auf, woraufhin Tausende Ost-Jerusalemer sich zu Sitzstreiks und Massengebeten außerhalb der Altstadt versammelten. "Was für Israelis nichts weiter als eine übliche Sicherungsmaßnahme ist, wird von Palästinensern als Expansion israelischer Kontrolle über das (Moschee-)Gelände und Abweichung vom Status quo gesehen", konstatierte die Bürgerrechtsgruppe Ir Amim. Schließlich ordnete der Premierminister auf jordanischen Druck hin den Abbau der Detektoren an.

Netanyahu selbst hat zwar vielfach betont, den Status quo zu respektieren, aber genau diesen stellen jüdische Nationalisten infrage. Ihr Fernziel ist der Wiederaufbau des Tempels, was erheblich zu den Spannungen zwischen den Religionen beiträgt. Früher galten die Tempelberg-Getreuen in Israel als "exotische Spinner". Inzwischen haben ihre Verfechter Anhänger bis in die Regierungspartei Likud hinein. Ihr gehört zum Beispiel auch der Knesset-Abgeordnete Yehuda Glick an, der prominenteste Vorstreiter der Tempelberg-Bewegung. Jahrelang führte der in New York geborene Rabbi nationalreligiöse Juden persönlich auf den Haram al-Sharif, um dort in einem von ihm propagierten "Akt des zivilen Ungehorsams" zu beten – in muslimischen Augen eine Provokation. Nachdem Glick im Oktober 2014 das Attentat eines fanatisierten Arabers aus Ost-Jerusalem, der ihn mit vier Kugeln niederschoss, nur knapp überlebte, hat er seine Aktivitäten ins Parlament verlegt. Auf Weisung des Regierungschefs musste er zunächst zwar wie alle Minister und Abgeordneten zwei Jahre lang von Besuchen auf dem Tempelberg Abstand nehmen. Doch Glicks Anhänger pilgern weiter zum Tempelberg, begleitet von israelischer Polizei und argwöhnischem Waqf-Personal, die vereint aufpassen, dass keine unerlaubten religiösen Zeremonien begangen werden.

Zum "Ritual" gehören ebenso islamische Frauengruppen, Murabitat genannt, die ganze Tage auf dem Moscheeplateau verbringen, um nach Leibeskräften "Allahu Akbar" zu skandieren, sobald jüdische Siedler und andere Nationalreligiöse in Sicht sind. Israel verbietet den Palästinensern in Jerusalem zwar politische Aktivitäten. Doch der Tempelberg alias Haram al-Sharif ist ihre letzte Trumpfkarte. Der Ruf al-Aqsa sei in Gefahr, kann die gesamte arabische und islamische Welt alarmieren. Und das kann auch Israel unter Druck bringen. Gerade weil es das Sagen in Jerusalem hat.

ist freie Journalistin. Bis Ende 2017 berichtete sie für mehrere deutsche Zeitungen, unter anderem die "Frankfurter Rundschau", als Nahost-Korrespondentin aus Jerusalem.