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Die Linke nach dem Sog der Mitte | Parteien und Wahlen | bpb.de

Parteien und Wahlen Editorial Die Mitte im Programmloch Die Linke nach dem Sog der Mitte Bereit für den Wechsel? Die strategische und inhaltliche Positionierung von CDU/CSU und FDP vor der Bundestagswahl 2002 Perspektiven des Rechtspopulismus in Deutschland am Beispiel der "Schill-Partei" Koalitionen und Kandidaten: Rückblick und Wahleinschätzung 2002 Fünf Jahrzehnte Wahlen in der Bundesrepublik: Stabilität und Wandel

Die Linke nach dem Sog der Mitte Zu den Programmdebatten von SPD, Grünen und PDS in der Ära Schröder

Tobias Dürr

/ 24 Minuten zu lesen

Haben die Richtungsbegriffe "links" und "rechts" ihre Bedeutung verloren? Und wenn nicht, was bedeutet dann eigentlich noch "links"?

I. Wenn die Mitte nicht mehr rechts von links ist

Im Frühjahr 2001 wartete Franz Müntefering mit ziemlich wunderlichen Einsichten auf. "Mitte ist da, wo die linke Volkspartei SPD ist", schrieb er seinerzeit in einem Thesenpapier: "Die linke Volkspartei SPD, das ist die Mitte."

Gut begreiflich an diesen Sätzen war immerhin das strategische Kalkül des sozialdemokratischen Generalsekretärs, die Unionsparteien als politische Phänomene ganz am rechten Rand des deutschen Parteiensystems zu verorten. Fast schon mutwillig dagegen wirkte Münteferings Bereitschaft, zu diesem Zweck alle gängigen Regeln von Logik und Semantik hintanzustellen. Denn wie könnte wohl etwas die Mitte markieren, was doch zugleich links sein soll? Was wäre überhaupt noch links, wenn links bereits in der Mitte läge? Behauptete Müntefering hier nicht geradezu die begriffliche Identität der Kategorien "Zentrum" und "Peripherie"? Wie sollte das möglich sein?

Erwartungsgemäß empört reagierten die Unionsparteien. "Die Mitte ist rechts von links" - mit diesem knappen, formal unbestreitbar zutreffenden Satz hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel inzwischen versucht, die von Franz Müntefering und der SPD angerichtete Unordnung wieder aus der Welt zu schaffen. Doch ganz so einfach ist die Sache nicht. Man könnte die ganze, im Grunde bereits seit dem erfolgreichen Neue-Mitte-Wahlkampf der SPD 1998 andauernde Kontroverse um die Zentralposition im Parteiengefüge als ziemlich inhaltsleeres Gezänk abtun, ließe sie nicht interessante Rückschlüsse auf die Bedeutungswandlungen und -verschiebungen zu, denen die politischen Richtungsbegriffe heute unterliegen. Wo dergleichen Ungewissheit hinsichtlich grundlegender politischer Ordnungsbegriffe wie "links" und "rechts" möglich geworden ist, da bestehen über deren Substanz und Gehalt offenbar keine allgemein geteilten Vorstellungen mehr. Zumal von einem Konsens darüber, mit welchen inhaltlichen Positionen und übergeordneten Prinzipien diese traditionsreichen Zuschreibungen jeweils verbunden sein könnten, kann anscheinend nicht mehr im Ernst die Rede sein, wenn historisch so unterschiedliche Parteien wie SPD und CDU meinen, denselben Platz in der "Mitte" reklamieren zu sollen.

Doch das ist nur die eine Seite des Problems. Denn schon Franz Münteferings etwas verwegen anmutender Versuch, die SPD gleichzeitig links und in der Mitte zu positionieren, lässt andererseits darauf schließen, dass die "politische Gesäßgeografie des 19. Jahrhunderts" (Heiner Geißler) als politisches Orientierungsraster noch längst nicht ausgedient hat. Tatsächlich kann die SPD bei aller Fixierung auf weltanschaulich ungebundene Wechselwähler nicht riskieren, fortan ausschließlich als Partei der Mitte zu gelten und ganz auf das hergebrachte Attribut "links" zu verzichten. Die Kerngruppen unter ihren Mitgliedern und Anhängern würden das nicht dulden, selbst wenn auch sie zuweilen nur noch unklare Vorstellungen darüber haben mögen, was unter linker Politik heute inhaltlich zu verstehen sei.

Die Verwirrung betrifft nicht nur die SPD. Zur politischen Linken zählen die Deutschen neben der Sozialdemokratie so disparate Parteien wie die PDS und die Grünen. Im Fall der SED-Nachfolgepartei zumindest deckt sich die Fremdwahrnehmung ganz mit der Selbstzuschreibung. Wo die SPD begrifflich laviert, bekennt sich die PDS umso eifriger dazu, als einzige Partei in Deutschland von links her grundsätzlich "gegen Krieg, gesellschaftliche Erstarrung und soziale Ungerechtigkeit" zu opponieren. Aus Sicht der PDS kann die SPD gar nicht weit genug in die Mitte rücken. Denn von der Neupositionierung der Sozialdemokraten in Richtung Mitte will die Heimatpartei des Ostens bei der bevorstehenden Bundestagswahl und darüber hinaus profitieren - als gesamtdeutsche Linksalternative zur SPD, ja zu sämtlichen anderen Parlamentsparteien, die sich allesamt nur noch "um Nuancen der gleichen Politik" stritten. Beträchtliches Selbstbewusstsein spricht aus derart summarischen Attacken gegen "das Versagen der herrschenden Politik" , von Zweifeln an der inhaltlichen Grundierung der eigenen Politik zeigt sich die PDS - zumindest in ihrem Wahlprogramm - kaum angekränkelt. Wo andere sich ihrer Sache nicht mehr sicher sind, gebärdet sie sich heute umso ostentativer als "links" und "sozialistisch". Ob die Partei ihren Hoheitsanspruch inhaltlich überzeugend auszufüllen vermag, ist eine ganz andere Frage.

Bleiben die Grünen. "Wir haben als Partei der Ökologie linke Traditionen aufgenommen, wertkonservative und auch solche des Rechtsstaatsliberalismus", heißt es in der Präambel ihres neuen Grundsatzprogramms. "Die Frauenbewegung, die Friedensbewegung und die Bürgerrechtsbewegung in der damaligen DDR haben das Profil unserer Partei mit geprägt." Ökologisch, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei - so hatten zuvor in der Tat über zwei Jahrzehnte lang die vier programmatischen Prinzipien gelautet, auf die sich die "Anti-Parteien-Partei" berief. Doch bei aller Vielfalt ihrer Identitätsquellen haben Öffentlichkeit und Anhängerschaft die Grünen nahezu von Anfang an als eine linke, "links-alternative" Partei begriffen. Als kapitalismuskritische Befürworterin gesellschaftlicher Umverteilung war sie das ihrer Programmatik nach gewiss auch - von den biografischen Prägungen der führenden Funktionäre noch nicht einmal zu reden. Inzwischen liest man es anders. Neuerdings nämlich definieren die Grünen ihren "Kreis von Grundwerten" als "Ökologie, Selbstbestimmung, erweiterte Gerechtigkeit und lebendige Demokratie", was auf ein nennenswert linkes Selbstverständnis jedenfalls nicht mehr auf Anhieb schließen lässt. "Fast alles, was einmal die Grünen als links, sektiererisch, versponnen, kurz: als politisch nicht wirklichkeitstauglich auszeichnete, scheint beseitigt zu sein", bemerkt der langjährige Grünen-Beobachter Eckart Lohse ; "zu starke Zugeständnisse an den neoliberalen Zeitgeist" wirft Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft Verdi, seiner eigenen Partei vor. Als prinzipienfest links wird man die Grünen heute weniger denn je bezeichnen können - von der Öffentlichkeit für eine linke Partei gehalten werden sie dagegen weiterhin wie selbstverständlich.

In der politischen Vorstellungswelt der Deutschen ist die politische Ordnungskategorie "links" noch immer lebhaft präsent - bloß was mit ihr gemeint sein könnte, darüber gehen die Vorstellungen weit auseinander. Zugleich links und Mitte sein will die SPD; für die einzige echte Linkspartei hält sich die PDS; und ihre linken Wurzeln kappen oder doch wenigstens vergessen möchten, wie es scheint, am liebsten die Grünen. Doch wie auch immer, die drei traditionell als links geltenden Parteien der deutschen Politik kommen an dem alten, von vielen für überkommen gehaltenen Begriff noch immer nicht vorbei. Was immer ihre Vertreter sagen oder tun, man rechnet sie unverdrossen einer "Linken" zu, über deren Eigenschaften weithin jedoch gar keine klaren Auffassungen mehr bestehen. Klar zutage liegt damit einstweilen nur, dass mit dem Begriff "links" heute anderes bezeichnet wird als zu früheren Zeiten. Mit einer alten politischen Landkarte müssen sich sowohl die Parteien wie die Bürger in ungewohntem Gelände zurechtfinden.

II. Kein Abschied vom geerbten Kompass

What‘s left? Was bedeutet unter diesen Bedingungen also noch "links"? Was bleibt übrig von der Linken? So lauteten schon in den frühen Jahren nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime die Fragen nach der Zukunft jener Parteien, die sich traditionell der linken Hälfte des Parteienspektrums in Deutschland zugerechnet hatten. Ob es angesichts des vollständigen moralischen und materiellen Scheiterns des real existierenden Sozialismus überhaupt noch eine Perspektive für Parteien geben könne, die historisch aus denselben Quellen schöpften wie die untergegangenen Regime - in Deutschland wurde diese Frage in den neunziger Jahren keineswegs bloß bezogen auf die unmittelbare Nachfolgeorganisation der vormaligen Staatspartei SED gestellt. Erwartet wurde vielfach auch, dass der Zusammenbruch des Staatssozialismus auf verwickelten Wegen selbst dessen noch so entfernte weltanschauliche Verwandtschaft in Mitleidenschaft ziehen werde. "Der Sozialismus, der ... lange daran gewöhnt war, sich selbst zur Avantgarde zu zählen, ist plötzlich etwas Archaisches geworden und wird nun selbst der einst verachteten Vergangenheit zugerechnet", schrieb Anthony Giddens Mitte der neunziger Jahre. Den Zweifeln der Pulsnehmer von außen entsprachen tiefe Selbstzweifel der Betroffenen. "Die Linke nach dem Sieg des Westens" (Peter Glotz) war tatsächlich verunsichert und aus der Fassung, auch gekränkt und mutlos. Wo, wie es schien, mit einem Schlag "alle Ideen blamiert" waren und "alle Utopien verbraucht" (Karl Mannheim), da fehlten ihr nun offenbar auch der Kompass und die Koordinaten, um sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Und tatsächlich sah es bei den ersten freien Wahlen nach dem Epochenjahr 1989 zunächst ganz danach aus, als werde auf die historische Niederlage der diktatorischen Spielart des Sozialismus in Deutschland nun auch der Niedergang seiner demokratischeren Spielarten und aller sonst irgendwie Implizierten folgen.

Denn alles, was links war oder doch öffentlich als links wahrgenommen wurde, geriet nun erst einmal tief in die Krise. Unter Führung von Oskar Lafontaine steckte die SPD bei der Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bundestag im Dezember 1990 mit nur 33,5 Prozent der Stimmen eine verheerende Niederlage ein. Die westdeutschen Grünen, erst drei Jahre zuvor mit 8,3 Prozent auf dem Höhepunkt ihres Erfolges angelangt, schafften es nicht wieder in den Bundestag, und kaum noch jemand hielt ihr gänzliches Ende für ausgeschlossen. Die PDS als unmittelbare Erbin der rundum ruinierten SED schließlich wurde im Westen der Republik als reines Phänomen von Übergang und Umbruch gedeutet. Selbst in Ostdeutschland galt sie zunächst bloß als sektiererisches Sammelbecken einer Minderheit ewiggestriger Genossen, die sich schnell verflüchtigen werde. Danach sah es zunächst auch aus: Nur 2,4 Prozent der Stimmen entfielen bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 auf die PDS; in den ersten gesamtdeutschen Bundestag gelangte die Partei überhaupt nur, weil das Bundesverfassungsgericht bei dieser einen Wahl für Ost- und Westdeutschland separate Sperrklauseln vorgeschrieben hatte. Ein Jahr darauf wollten Umfragen zufolge nur noch ganze fünf Prozent der Ostdeutschen die Erben der DDR-Staatspartei wählen. Selbst die Anwesenheit der PDS in den Parlamenten der neuen Bundesländer schien nun gefährdet.

Das also war die Lage. Die PDS sah einer trüben Zukunft als außerparlamentarisches Konventikel einer handvoll Unbelehrbarer entgegen; mit den Grünen ging es zu Ende; und ob die Sozialdemokratie den Untergang der sozialistischen Utopie langfristig überdauern könne, galt mindestens als ungewiss. Kurz, zu Beginn der neunziger Jahre des abgelaufenen Jahrhunderts sah es nicht gut aus für die Parteien der deutschen Linken. Doch dann kam alles anders. Zumindest in wahlpolitischer Hinsicht hat sich bislang keine einzige der Weissagungen vom unweigerlich bevorstehenden Niedergang der politischen Linken bewahrheitet. Im Gegenteil: Seit ihrem bemerkenswerten Wahlsieg von 1998 stellen die Sozialdemokraten gemeinsam mit den Grünen die Bundesregierung. Zugleich ist die PDS, als starke Regionalpartei der ostdeutschen Länder mittlerweile tief verwurzelt, zur bundespolitischen Größe mit weiterer Wachstumsperspektive im gesamtdeutschen Parteiensystem geworden. Vor dem Hintergrund der Erwartungen der frühen Jahre mutet das überraschend an. Fast scheint es, als wären alle Überlegungen zur geistigen, moralischen und programmatischen Misere der Linken seit und wegen der Revolution von 1989 ganz voreilig und intellektuell verstiegen gewesen: Als ob sich die Wähler in ihrer Mehrheit je nennenswert um die Tauglichkeit der programmatischen Grundorientierungen kümmern würden, auf welche sich die Parteien jeweils bezogen! Und tun sie das nicht, worin eigentlich sollte sich dann die Lage nach dem vermeintlich so fundamentalen Gezeitenwechsel des Jahres 1989 von den Verhältnissen zuvor unterscheiden?

Jedenfalls waren grundsätzliche Zweifel daran, dass die herkömmliche Differenzierung zwischen "rechts" und "links" in der Politik überhaupt noch sinnvoll sei, in den frühen neunziger Jahren weit verbreitet. Diese Unterscheidung werde "als überholt betrachtet", beobachtete der politische Philosoph Norberto Bobbio 1994, "als sinnlos, vorausgesetzt, sie hatte in der Vergangenheit einen Sinn." So sahen es viele - aber wie sich zeigen sollte, blieben diese vielen doch die Minderheit. Denn wie auch Bobbio festgestellt hat, ist das Rechts-Links-Schema der Politik keineswegs überholt. Die Akteure in den politischen Parteien jedenfalls nehmen sich heute wie eh und je seit der Französischen Revolution auf einem politischen Kontinuum zwischen "rechts" und "links" wahr.

Was für die Selbstwahrnehmung der Parteien gilt, das gilt erst recht für deren Außenwahrnehmung durch die Bürger. Wie Meinungsforscher immer wieder eindeutig feststellen, fällt es den meisten Menschen nicht nur leicht, ihre eigenen politischen Grundeinstellungen auf einer Skala zwischen den Polen "rechts" und "links" zu verorten. Die Mehrzahl der Bürger hat auch ziemlich genaue, selbst über lange Zeiträume sehr wetterfeste Vorstellungen über den Ort der Parteien auf der Rechts-Links-Achse. Die Sache ist zeitlos einfach: In der linken Mitte des Parteienspektrums hat demnach die SPD ihren Platz, in der rechten Mitte die CDU. Zwischen den beiden Volksparteien besetzt die FDP gewissermaßen die Mitte der Mitte. Zur Linken der SPD machen die Deutschen die Grünen aus, links von diesen wiederum die PDS. Zur Rechten der CDU wird die CSU eingeordnet, jenseits von ihr nur noch die Republikaner und die DVU. So war es, so ist es geblieben.

Offensichtlich werden aber Zuordnungen dieses Musters der gewachsenen Komplexität der politischen Konfliktdimensionen kaum gerecht. "Links - Rechts ist als Orientierungsschema nicht überholt, für die Gesamtheit heute wichtiger Positionen aber nicht komplex genug", bemängelt etwa Joachim Raschke. Das mag so sein. In der Tat ist ja ganz unerfindlich, in welcher Weise Einstellungen zu den klassischen sozioökonomischen Verteilungskonflikten (Kapital gegen Arbeit) der Politik und zu neueren wertbezogenen, "postmateriellen" Themen der Auseinandersetzung (Ökologie, Frieden, Frauen, Emanzipation, Selbstverwirklichung, Autonomie) adäquat auf einer einzigen, eindimensionalen Links-Rechts-Koordinate abgebildet werden könnten. Vielmehr stehen diese Konfliktlinien auf unübersichtliche Weise quer zueinander. Doch verblüffend genug, kaum jemand sieht sich aufgrund dieser unzweifelhaft gewachsenen Komplexität der politischen Konfliktdimensionen dazu veranlasst, auf die Selbst- und Fremdkategorisierung mit Hilfe der Gattungsbegriffe "links" und "rechts" zu verzichten. Recht umstandslos gelingt es den Bürgern, die widersprüchliche Vielfalt ihrer materiellen und nichtmateriellen politischen Anliegen trotz allem auf diese Begriffe zu beziehen. Das alte Rechts-Links-Schema absorbiert auch neue Dimensionen der Politik ziemlich rückstandsfrei. Mag es noch so wenig komplex geworden sein - für die meisten Menschen bleibt es die zentrale Dimension politischer Orientierung. In den Worten des Parteienforschers Peter Mair: "For all the changes experienced in recent years, it is clear that left and right remain the major organizing principle in modern West European politics, but also help to create a uniform foundation for contemporary patterns of policy competition."

Auf ihren guten alten Links-Rechts-Kompass, ohne den im Übrigen ja auch die Rede von der "Mitte" ganz sinnlos wäre, wollen die Bürger also nicht gern verzichten. Ein Kompass schafft Orientierung, auf die man umso weniger verzichten mag, je unübersichtlicher einem die Landschaft erscheint. "Der Nutzen des Links-Rechts-Schemas liegt darin, dass es die vielfältigen Konfliktkonstellationen in der politischen Arena auf einen einfachen Dualismus verkürzt, der die politische Einschätzung und Selbsteinschätzung des Wählers auch ohne größere Sachkenntnis möglich macht", schreibt der Politikwissenschaftler Frank Decker. Es ist, so gesehen, durchaus kein Wunder, dass sich die Erwartung als Irrtum erwiesen hat, dieses erprobte Referenzsystem habe nach 1989 seine Schuldigkeit getan und werde anderen - welchen? - mehr Gewissheit versprechenden politischen Ordnungsmustern Platz machen. Ebenso wenig traf erkennbar die Prognose zu, dass in linker Tradition stehende Parteien nunmehr keine nennenswerten elektoralen Chancen mehr besitzen würden. Norberto Bobbio hatte den richtigen Riecher: "Existieren also die Rechte und die Linke noch?" - so fragte er bereits 1994 mit suggestivem Unterton. "Und wenn sie noch existieren und sich behaupten, wie kann man dann sagen, sie hätten keine Bedeutung mehr? Und wenn sie noch eine Bedeutung haben, worin besteht sie?" Das ist tatsächlich die entscheidende Frage. Denn wenn es heute auch unzweifelhaft so sein mag, dass SPD, Grüne und PDS im Verständnis der Bürger in je unterschiedlich scharfer Ausprägung die "politische Linke" in Deutschland konstituieren, so ist damit keineswegs schon gleichermaßen eindeutig geklärt, ob diese Parteien ihrem programmatischen Selbstverständnis nach heute eigentlich (noch) links sind - oder auch nur links sein wollen.

III. Von Gleichheit, Fortschritt, Zuversicht

Nur wenig in der Politik verändert sich so schwerfällig wie die Vorstellungen, die sich die Bürger von den Profilen der Parteien machen. Die Vorurteile und nicht hinterfragten Annahmen über die mutmaßlichen programmatischen Profile der Parteien sitzen viel tiefer, als professionelle Politikbeobachter üblicherweise vermuten. Die "Partei der Wirtschaft" und die "Partei der sozialen Gerechtigkeit", die "Partei des Bürgertums" und die "Partei der kleinen Leute" - all diese zählebigen Zuschreibungen existieren selbst dort weiter, wo sich die tatsächlichen sozialen und politischen Gegebenheiten längst verändert haben, die mit ihnen beschrieben werden sollen. Über die gewandelte Wirklichkeit der Parteien besagen sie nicht viel. Es könnte also immerhin sein, dass sich zwischen der Fremdzuschreibung durch die Bürger und der Selbstwahrnehmung der Parteien Lücken auftun. Ist überhaupt noch "links" drin, wo die Wähler unverdrossen "links" vermuten?

Wer die Frage beantworten will, kommt ohne irgendeinen Maßstab nicht aus. Aber welche überdauernden Kriterien für linke Politik in einem substanziellen Sinne lassen sich eigentlich benennen, mit deren Hilfe diese Frage überhaupt beantwortet werden könnte? Das Problem lässt sich prinzipiell angehen oder konkret. Für Norberto Bobbio besteht, sehr grundsätzlich, das wichtigste und beständige Unterscheidungsmerkmal zwischen der Rechten und der Linken in deren unterschiedlicher Haltung zum Ideal der Gleichheit: "Das Thema, das in allen Variationen wiederkehrt, ist das des Gegensatzes zwischen horizontaler oder egalitärer Vision der Gesellschaft und vertikaler oder nichtegalitärer Vision", schreibt Bobbio. Das ist das eine.

Als zeitlos hilfreich erweist sich daneben das typisierende Begriffspaar des britischen Philosophen Michael Oakeshott, der zwischen den Prinzipien einer "Politik der Zuversicht" und einer "Politik der Skepsis" unterscheidet. Dabei kennzeichnet die Kategorie "Politik der Zuversicht" jene Grundhaltung, für die "die Tätigkeit des Regierens im Dienste der Vervollkommnung des Menschen" steht, während mit "Politik der Skepsis" die genau entgegengesetzte grundsätzliche Disposition beschrieben wird, diese Möglichkeit rundweg zu bestreiten. Im Angesicht ihrer zahllosen Gefährdungen die bestehende Ordnung überhaupt aufrechtzuerhalten - dem Skeptiker erscheint bereits das als Maximum des Möglichen und Erstrebenswerten. Zweifellos gibt diese Entgegensetzung von zuversichtlicher und skeptischer Politik eine wesentliche Dimension des historischen Gegensatzes zwischen "linker" und "rechter", "progressiver" oder "konservativer" Politik ziemlich genau wieder. In ähnlicher Weise unterscheidet der Historiker Eric Hobsbawm zwischen den "Kräften der Bewegung und denen der Beharrung oder spezifischer zwischen der Partei des Fortschritts und der Partei der Beharrung" .

IV. Ohne Debatten verwelken die Parteien

Wichtige Hinweise auf den Zustand von Grundwerten und Prinzipien der Parteien geben weniger die fertig formulierten Manifeste als die Debatten, die zuvor über diese Dokumente geführt worden sind. Über politische Ziele und Prinzipien zu diskutieren und dabei aus einer Vielfalt widersprüchlicher Vorstellungen einen kollektiv geteilten politischen Willen zu machen - nicht zuletzt dieser kommunikative Mechanismus der Integration ist es, mit dem Parteien ihren Fortbestand selbst über lange Zeiträume hinweg sicherstellen. Hören sie auf, sich über den Sinn und die Zwecke ihres Tuns zu verständigen, verwelken Parteien irgendwann.

In den Parteiführungen ist man sich dieses Zusammenhangs bewusst - jedenfalls im Prinzip. Deshalb sind derzeit alle drei präsumtiven Linksparteien mehr oder weniger intensiv mit dem Versuch beschäftigt, ihrer politischen Alltagsarbeit neue programmatische Überbauten zu verschaffen. Die Grünen haben ihr neues Grundsatzprogramm im März 2002 beschlossen, die neuen Manifeste von SPD und PDS sind derzeit noch in Vorbereitung. Dabei ist innerhalb der PDS seit Anfang 1999 kontrovers und vielstimmig über das neu zu beschließende Parteimanifest gestritten worden. Hingegen haben die Sozialdemokraten im Herbst 2001 nach wenig inspirierten und inspirierenden Debatten ihrer Grundsatzprogrammkommission unter Leitung von Rudolf Scharping den Beschluss gefasst, die Beschäftigung mit ihrem neuen Grundsatzprogramm im Wahljahr 2002 erst einmal auszusetzen. Stattdessen wolle man sich nun "ganz auf die Arbeit am Regierungsprogramm für die nächste Legislaturperiode konzentrieren", erläuterte der SPD-Parteivorsitzende Gerhard Schröder diesen Schritt - angesichts der unübersehbaren Integrations- und Orientierungsbedürfnisse seiner Partei eine durchaus fragwürdige Entscheidung.

Programmatisch gemeinte Texte produzieren alle Parteien in der Tat auch in Wahljahren - gerade in Wahljahren sogar. Doch anders als bei der Beschäftigung mit Grundsatzprogrammen steht bei der Formulierung von Wahlprogrammen der kurzfristige Effekt im Vordergrund. Wo Grundsatzprogramme vorwiegend dem Zweck dienen, im Prozess ihrer Entstehung ins Innere der Partei hinein Integration und Orientierung zu stiften, sollen Wahlprogramme so viel Publikum wie möglich über die jeweiligen Kerntruppen der Parteien hinaus beeindrucken. Nicht um die Beteiligung und Zusammenführung möglichst weiter Kreise der Parteimitglieder geht es bei dieser Art von programmatischer Positionierung, sondern um maximale Außenwirkung. Und nicht so sehr auf den Prozess der Programmfindung kommt es bei den Wahlmanifesten an, sondern auf die Wettbewerbsfähigkeit des fertigen Programmprodukts in der Konkurrenz der Parteien. Formell zwar durch Parteitage verabschiedet, werden die Wahlplattformen der Parteien gleichwohl nicht mittels nennenswert demokratischer, womöglich gar kontroverser Willensbildung von unten nach oben erarbeitet. Eher sind es die strategischen Kalküle der professionellen Wahlkämpfer in den Gremien, Parteizentralen und halbautonomen Antragskommissionen, die den harten Kern dieser Art der Programmformulierung ausmachen. In nochmals verstärktem Maße gilt das für regierende Parteien, deren wahlprogrammatische Positionierung sehr weitgehend im Top-down-Verfahren nach den Vorgaben aus Kanzleramt und Ministerien vollzogen wird.

Nicht nur zwischen dem Bild, das sich Wähler von Parteien machen, und deren tatsächlichen inhaltlichen Positionierungen sind also beträchtliche Diskrepanzen möglich. Auch zwischen den politischen Präferenzen harter Kerne von Parteimitgliedern und dem wahlprogrammatischen Angebot strategisch kalkulierender Parteieliten können sich erhebliche Lücken auftun. Dieser Hinweis auf die eingeschränkte Aussagekraft und Reichweite programmatischer Festlegungen wird umso notwendiger, je weniger Parteien noch als originäre politische Aktionsausschüsse klar konturierter gesellschaftlicher Interessen oder dynamischer sozialer Bewegungen gelten können. Anders als in den abgelaufenen Zeiten fest umrissener Milieus und weltanschaulicher Vergemeinschaftungen ergibt sich damit auch das programmatische Profil von Parteien jeder Provenienz nicht mehr folgerichtig aus bestimmten ideologischen Traditionen oder sozialkulturellen Verwurzelungen, sondern wird voluntaristischer und eklektischer, auswechselbarer und beliebiger.

V. Ankunft in der betulichen Mitte

Unter den - in welchen Abstufungen auch immer - als links geltenden Parteien in Deutschland ist zweifellos die PDS diejenige, die den Vorwurf der programmatischen Verwaschenheit am wenigsten verdient. Weniger als SPD und Grüne setzen die Postkommunisten in diesem Wahljahr auf ideologisch ungebundene Wechselwähler. Eher im Gegenteil: Ihren festen Wählerstamm in Ostdeutschland hofft die PDS mittlerweile verstärkt um enttäuschte Linke aus dem Umfeld von SPD und Grünen zu ergänzen. Entsprechend geradeheraus und - für jeden Kenner sofort erkennbar - in enger Anlehnung an die geistigen Väter des Sozialismus beschreibt die Partei die eigene gesellschaftliche Rolle und Funktion in der Präambel ihres Wahlprogramms: "Deutschland braucht diese PDS, die gegen die Vorherrschaft des Großkapitals in Staat und Gesellschaft ankämpft, die Engagement der Menschen will und die natürlichen Lebensgrundlagen verteidigt. Ihr gesellschaftliches Ziel ist demokratischer Sozialismus - eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung der Einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird." Man mag das für verschroben und anachronistisch halten oder für bestechend und wegweisend - eine im Verhältnis zu den übrigen Parteien scharfkantige Positionsbestimmung ist es auf jeden Fall.

Weitaus weniger apodiktisch, ja geradezu defensiv und wolkig hingegen fällt heute der Versuch der Grünen aus, ihren gesellschaftlichen Ort zu benennen. Was sie waren, sind sie offensichtlich nicht mehr - und wollen sie auch nicht mehr sein. Aber was sind sie dann? "Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss", heißt es wenig selbstgewiss im neuen Grundsatzprogramm der Partei. "Inzwischen sind wir nicht mehr die ‘Anti-Parteien-Partei‘, sondern die Alternative im Parteiensystem. Die entscheidende Veränderung war, dass wir uns zu einer Reformpartei entwickeln wollten und mussten, um erfolgreich zu bleiben. Unsere Visionen und Ziele wollen wir heute durch eine langfristig angelegte Reformstrategie erreichen." Das klingt zögerlich. Die Grünen sind sich ihrer Sache erkennbar nicht mehr so ganz sicher. Einleuchtende Erklärungen dafür haben sie durchaus zur Hand: "Themen, mit denen wir zu Beginn als Außenseiter auftraten, sind heute im Zentrum der Gesellschaft angekommen." Genau das war gewiss das Ziel der Grünen - unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidbarkeit ist es heute zugleich ihr Problem.

Aber es ist eben ein Problem, mit dem sich keineswegs allein die Grünen herumschlagen. Wer in der Mitte ankommen will, der darf programmatisch und habituell kaum Ecken und Kanten haben. Doch wer keine Ecken und Kanten mehr hat, der büßt andererseits seine Konturen ein und macht sich verwechselbar - das ist das Dilemma. Zur Partei der Mitte zu werden, ohne dabei zugleich die spezifisch eigene programmatische und kulturelle Textur vollends einzubüßen - eben darin besteht deshalb die Gratwanderung, bei der auch die Sozialdemokraten nur mit größter Mühe und unter semantischen Verrenkungen nach dem Muster Müntefering gerade noch das Gleichgewicht halten. Immerhin den Versuch einer besonderen sozialdemokratischen Deutung der Mitte, "die ja zuallererst eine soziale Kategorie ist", hat letzthin Gerhard Schröder unternommen. Aus "ärmlichen Verhältnissen" stammend, sei er wie viele andere Angehörige seiner Generation und der nachfolgenden Jahrgänge zur SPD gekommen, weil diese neue Lebenschancen versprochen habe: "Für unsere Partei sollte die Mitte der Gesellschaft nicht länger durch Herkunft bestimmt sein, sondern durch Leistung und Gemeinsinn. Da sind wir angekommen. ... Die heutige Mitte hat ihren Weg in die soziale und politische Verantwortung nicht durch Anpassung an ein Juste-Milieu gemacht, sondern durch Aufbegehren gegen Autoritäten." Eine neue Generation hat, so sieht es Gerhard Schröder, eine kulturell neuartige, posttraditionale Mitte der Gesellschaft hervorgebracht, die sich mit der Sozialdemokratie in gleichsam selbstverständlichem Einklang befindet.

Diese Deutung besitzt einige Plausibilität. Das generationelle Zentrum der (west)deutschen Gesellschaft bilden heute die Geburtsjahrgänge 1950 bis 1970. In dieser Alterskohorte haben die beiden heutigen Regierungsparteien bei allen Wahlen seit den achtziger Jahren konstant hohe Mehrheiten erzielt. Der Politikwissenschaftler Franz Walter hat diese Jahrgänge die "sozial-liberale Kohorte" genannt, denn sie sind tief geprägt vom Zeitgeist und den Konflikten der siebziger und achtziger Jahre, von der "Willy-Wahl" 1972 bis zu den Aufmärschen von Mutlangen und Brokdorf. Das wirkt nach bis heute. Das üblicherweise unterstellte Wechselwahlverhalten auch zwischen den politischen Lagern ist jedenfalls für die Angehörigen dieser - inzwischen - mittleren Jahrgänge eher untypisch. Und es sind die Sozialdemokraten und die Grünen, die davon noch immer profitieren.

Gemeinsam ist den gesellschaftlichen Selbstverortungen der Grünen, des sozialdemokratischen Bundeskanzlers und der sozial-liberalen Alterskohorte das Motiv der "Ankunft". Aufgebrochen an den sozialen oder kulturellen Rändern der westdeutschen Republik repräsentieren sie heute die politisch und ökonomisch erfolgreichen Kerngruppen des Landes, was sie zugleich sehr grundsätzlich von den in diesem Sinne Zukurzgekommenen der ostdeutschen PDS unterscheidet. Die vormals noch Randständigen und Widerborstigen der Bonner Republik sind in der mentalen Mitte Deutschlands angelangt. Das verändert die Mitte und damit die deutsche Gesellschaft insgesamt - es hat aber auch die "Angekommenen" selbst verändert. Wo nicht mehr der Aufbruch, sondern die Ankunft und das saturierte "Gefühl der Lebensmitte" die individuelle und generationelle Erfahrungswelt bestimmen, da bleiben auch die politischen Koordinaten und Prioritäten der Betroffenen nicht so, wie sie waren. "Von der Mitte aus wird die Gesellschaft geführt", hat Gerhard Schröder erklärt. "Wohlgemerkt: geführt. Nicht zurückgezerrt oder verwaltet." Völlig unmöglich ist das sicherlich nicht, verstanden als Politikstil von wirklichkeitsangemessener Komplexität ist es sogar sehr wünschenswert. Und doch erweist sich politische Führung in Zeiten der Neuen Mitte als ebenso schwierig, wie das in der Ära der alten Mitte unter Helmut Kohl schon der Fall war.

Die Mitte der Gesellschaft ist ein Ort, den diejenigen, die sich ihr zurechnen, üblicherweise nicht gerne wieder verlassen möchten. Die Mitte will am liebsten so bleiben, wie sie ist. Das macht sie vergleichsweise berechenbar, zugleich allerdings auch unbeweglich, statisch, immer ein bisschen phlegmatisch, kaum noch zu begeistern für irgendwelche "Innovationen", "Aufbrüche" oder "Visionen". "Der deutsche Volksstamm hat es gern gemächlich" - so hat Wilhelm Hennis das fortbestehende Dilemma bereits vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht. "Erregte, aufgeregte Zeiten: den Dreißigjährigen Krieg, die entsetzlichen Kriege dieses Jahrhunderts, die damit verbundene Mobilisierung, Unruhe, den enormen Verlust an allen Sicherheiten und Traditionen haben wir in unguter Erinnerung." Zumal für die so genannten Volksparteien, die ohne den Zuspruch der Sesshaften und Angekommenen keine Mehrheiten erzielen können, zahlt sich Rücksichtnahme auf die Wesensart der ruhebedürftigen Mitte deshalb fast immer aus. "Die Mentalität der Mehrheit der Deutschen", schreibt der Historiker Hans-Ulrich Wehler, "ist eine erfolgsverwöhnte Mentalität." Und eben das hat Folgen - und zwar besonders für Parteien mit linkem Selbstverständnis.

VI. So wie es ist, geht es nicht weiter

What‘'s left? Das Streben nach mehr gesellschaftlicher Gleichheit, angereichert um die Zuversicht, dieses größere Maß an sozialer Egalität mit den Mitteln freiheitlicher, demokratischer Politik tatsächlich verwirklichen zu können? So ungefähr ließe sich der Gehalt der Kategorie "links" in äußerster Verknappung vermutlich auch heute noch zusammenfassen. Dass für eine so verstandene linke Politik kein Anlass mehr bestünde, werden angesichts der unbestreitbaren Probleme von Globalisierung, von flexiblem und digitalem Kapitalismus im Ernst nur die wenigsten behaupten. Dramatische Umbrüche der sozialen Voraussetzungen demokratischer Politik sind längst in vollem Gange. "Es herrscht ein starkes, tief verwurzeltes und weit verbreitetes Gefühl, dass es so nicht weitergeht", schreibt der große liberale Soziologe Ralf Dahrendorf. Künftig werde der aufsteigenden "globalen Klasse" ein Heer der dauerhaft Überflüssigen und Ausgeschlossenen, Verlorenen und Hoffnungslosen gegenüberstehen, sagt er voraus. Den einen geht es grenzenlos glänzend, die anderen werden in der neuen Ökonomie - anders als in der untergehenden Ära des Industrialismus - schlechterdings nicht gebraucht. Von den "verbleibenden 40 Prozent, wenn es nicht mehr sind", spricht Dahrendorf: "Sie vereinigen nämlich alle Nachteile auf sich: niedrigere Einkommen, höhere Arbeitslosigkeit, einen schlechten Gesundheitszustand, größere Gefährdung durch Unfälle, weniger Engagement in öffentlichen Dingen und nicht zuletzt mehr Bildungsprobleme mit ihren Kindern."

Es leuchtet auf Anhieb ein, weshalb diese historisch beispiellose Konstellation gerade Parteien mit traditionell linkem Selbstverständnis ins Mark treffen muss. Als historische Schrittmacher von Gleichheit und Fortschritt, für die sie noch immer gehalten werden, sind sie bei Strafe ihres Abstiegs darauf verwiesen, weiterhin glaubwürdige "Zuversicht in die Gestaltbarkeit der Zukunft" zu vermitteln - gerade der gesellschaftlichen Mitte gegenüber, die sich vor dem Wandel fürchtet.

Gleichzeitig aber belegen Wahlergebnisse überall in Europa nur zu deutlich, dass linke Tradition und Programmatik derzeit keine wirklich überzeugenden Antworten auf die Phänomene neuer Ungleichheit, Exklusion und Entfremdung im globalisierten Kapitalismus bieten. In diesem Dilemma behilft man sich im Wahljahr 2002 mit Bordmitteln und dem technokratischen Jargon der Neuen Mitte. Wo die PDS so großspurig wie steril "die Regierenden" mit ihrer "Politik der sozialen Kälte" anprangert und voraussetzungslos nach wohlfahrtsstaatlicher Zuteilungsgerechtigkeit überkommener Machart verlangt, backen andererseits Sozialdemokraten und Grüne sehr kleine Brötchen. Von der Fortsetzung der Haushaltskonsolidierung und stärkerer Förderung der Familien soll der sozialdemokratische Bundestagswahlkampf handeln, von besseren Bildungseinrichtungen und, vage am Rande, vom "Prinzip der Nachhaltigkeit" auf allen Ebenen. "Projekte und Vorhaben" wiederum hat der grüne Spitzenkandidat Joseph Fischer im Wahlkampf angekündigt, "in deren Mittelpunkt Ökologie und Modernisierung stehen" sollen. Begeistern kann das alles nicht so richtig.

"Globalisierung ist eine Herausforderung für uns", haben die Grünen im Übrigen in ihr neues Grundsatzprogramm geschrieben. So ähnlich liest man es überall, denn "die Globalisierung gestalten" wollen schließlich sämtliche Parteien. Aber niemand vermag so richtig zu sagen, was so ein Satz bedeuten soll, und viel spricht dafür, dass es nicht zuletzt genau diese beliebigen Leerformeln sind, die das Vertrauen der Menschen in die Gestaltungskraft demokratischer Politik so gründlich untergraben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Franz Müntefering, Warum für die CDU in der Mitte kein Platz mehr ist, in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 5.2.2001.

  2. Vgl. Renate Köcher, Die Mitte ist weder rot noch schwarz. Der Wechselwähler ist nicht derjenige, als der er häufig beschrieben wird, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 20.2.2002.

  3. Es geht auch anders: Nur Gerechtigkeit sichert Zukunft! Programm der PDS zur Bundestagswahl 2002, Berlin 2002.

  4. Ebd.

  5. Ebd.

  6. Grün 2020 - Wir denken bis übermorgen: Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen, Berlin 2002.

  7. Vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 - 1977, Köln 2001.

  8. Eckart Lohse, Brave Grüne ohne Botschaft, in: FAZ vom 15.3.2002.

  9. Zit. in: Ulrike Herrmann, Die Mitte ist grün, in: die tages"zeitung (taz) vom 18.3.2002.

  10. Anthony Giddens, Jenseits von rechts und links, Frankfurt/M. 1997, S. 83.

  11. Vgl. Peter Glotz, Die Linke nach dem Sieg des Westens, Stuttgart 1992.

  12. Vgl. Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992.

  13. Vgl. Christopher Lasch, The True and Only Heaven. Progress and Its Critics, New York-London 1991, S. 21 ff.

  14. Norberto Bobbio, Rechts und Links. Gründe und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung, Berlin 1994.

  15. Vgl. Peter Mair, Party System Change. Approaches and Interpretations, Oxford 1997, S. 24 ff.

  16. Joachim Raschke, Die Zukunft der Grünen, Frankfurt/M.-New York 2001, S. 56.

  17. P. Mair (Anm. 15), S. 27.

  18. Frank Decker, Jenseits von rechts und links? Zum Bedeutungswandel der politischen Richtungsbegriffe, in: Uwe Backes/Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, 10. Jahrgang, Baden-Baden 1998, S. 33 - 48, hier S. 36.

  19. N. Bobbio (Anm. 14), S. 7.

  20. Vgl. Franz Walter/Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000, S. 253.

  21. N. Bobbio (Anm. 14), S. 74.

  22. Michael Oakeshott, Zuversicht und Skepsis. Zwei Prinzipien neuzeitlicher Politik, Berlin 2000, S. 54 ff.

  23. Eric Hobsbawm, Das Gesicht des 21. Jahrhunderts, München-Wien 2000, S. 117.

  24. Vgl. Programmkommission der PDS, Zum Stand der programmatischen Debatte und der eigenen Tätigkeit: Bericht der Programmkommission an den Dresdener Parteitag, Berlin 2001.

  25. Vgl. Grundsatzprogrammkommission der SPD, Zwischenbericht: Wegmarken für ein neues Grundsatzprogramm, Berlin 2001.

  26. Vgl. dazu Hans-Dieter Klingemann/Andrea Volkens, Struktur und Entwicklung von Wahlprogrammen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1994, in: Oscar W. "Gabriel u. a. (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, Opladen 1997, S. 517 - 536, hier S. 518 f.

  27. Vgl. F. Walter/T. Dürr (Anm. 20).

  28. Es geht auch anders (Anm. 3). Die Gründerväter schrieben: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 4, Ost-Berlin 1959, S. 482.

  29. Grün 2020 (Anm. 6), Präambel, Abschnitt III.

  30. Ebd.

  31. Gerhard Schröder, Rede anlässlich des Kongresses "Die Mitte in Deutschland" der SPD in Berlin am 20.2.2002.

  32. Vgl. Franz Walter, Partei ohne Botschaft. Probleme und Chancen der deutschen Sozialdemokratie zwischen Neuer Mitte und ergrauender Gesellschaft, in: Berliner Republik, 2 (2000) 4, S. 58-65; neuerdings auch ders., Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002.

  33. Für Ostdeutschland gilt das keineswegs - mit beträchtlichen Folgen für die so genannte innere Einheit. Dazu vgl. Gunnar Hinck, Gekommen sind andere. Im Westen der Republik gibt das rot-grün geprägte Kulturmilieu den Ton an - die Wessis im Osten sind zumeist konservativ und bürgerlich, in: Berliner Republik, 4 (2002) 1, S. 76 - 80.

  34. Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 - 1948, Frankfurt/M. 1995, S. 95.

  35. Vgl. M. Oakeshott (Anm. 22), S. 225 ff.

  36. Wilhelm Hennis, Totenrede des Perikles auf ein blühendes Land. Ursachen der politischen Blockade, in: ders., Auf dem Weg in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998, S. 155 - 167, hier S. 165.

  37. Hans-Ulrich Wehler, Bonn - Berlin - Weimar. Droht unserer Republik das Schicksal von Weimar?, in: ders., Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert, München 2000, S. 98 - 113, hier S. 106.

  38. Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, München 2002, S. 25.

  39. Ders., Globale Klasse und neue Ungleichheit, in: Merkur, 54 (2000) 11, S. 1057 - 1068, hier S. 1063.

  40. Erneuerung und Zusammenhalt - Wir in Deutschland. Regierungsprogramm 2002 - 2006 der SPD, Entwurf des Parteivorstands vom 23.4.2002, S. 10.

  41. Es geht auch anders (Anm. 3).

Dr. disc. pol., geb. 1965; Politikwissenschaftler und Chefredakteur der Zeitschrift "Berliner Republik" in Berlin.

Anschrift: Redaktion "Berliner Republik", Stresemannstraße 30, 10963 Berlin.
E-Mail: duerr@b-republik.de

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Rüdiger Soldt) Die CDU nach Kohl, Frankfurt/M. 1998; (zus. mit Franz Walter) Die Heimatlosigkeit der Macht. Wie die Politik in Deutschland ihren Boden verlor, Berlin 2000.