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Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland

Christoph Sachße

/ 7 Minuten zu lesen

In der jüngeren deutschen Geschichte lassen sich markante Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements finden. Vor allem in Gestalt der Kommunalen Selbstverwaltung und der bürgerlichen Vereinskultur des 19. Jahrhunderts.

Einleitung

Der Bürger ist in die Politik zurückgekehrt. Waren in den Hochzeiten sozialstaatlicher Planungs- und Gestaltungsbegeisterung der siebziger Jahre bürgerschaftliches Engagement und bürgerschaftliche Selbstorganisation eher an den Rand der praktisch-politischen und gesellschaftstheoretischen Aufmerksamkeit gedrängt, so rücken sie gegenwärtig wieder ins Zentrum politischen und sozialwissenschaftlichen Interesses. Das Jahr 2001 wurde zum "Internationalen Jahr der Freiwilligen" ausgerufen. Eine Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements" wurde eingerichtet. "Freiwilligenbüros" schießen allerorten aus dem Boden. Preise für "Aktive Bürgerschaft" werden verliehen.

Die Ursachen dafür liegen einerseits in Krisen des herkömmlichen Systems wohlfahrtsstaatlicher Sicherung in Deutschland und - jenseits dessen - in tiefgreifenden Wandlungsprozessen, denen die bundesrepublikanische Gesellschaft insgesamt gegenwärtig unterliegt. In dieser Situation versprechen die Konzepte einer "Bürgergesellschaft" oder "Zivilgesellschaft" neue Perspektiven gesellschaftlicher Gestaltung, die den aktuellen Krisen und Verwerfungen Rechnung tragen sollen.

Der Begriff der Zivilgesellschaft artikuliert - im Kontrast zu dem seit Hegel etablierten Begriff der "bürgerlichen Gesellschaft" - das kritische Selbstverständnis einer politischen Gesellschaft; den Anspruch einer Entstaatlichung von Politik, eines erweiterten Politikverständnisses von bürgerschaftlicher Partizipation und Gestaltung auch jenseits der formalen Institutionen des Politikprozesses. Der Begriff der Zivilgesellschaft enthält also ein kritisches Potenzial, das der Alltagsrealität unserer Verfassung gleichsam den Spiegel ihrer eigenen Ansprüche vorhält: kritisch angesichts der faktischen bürokratischen Verkrustung und faktischen korporativen Vermachtung der formalen Strukturen verfassungsmäßig gewährleisteter demokratischer Willensbildung im politischen Gemeinwesen. Das Konzept der Zivilgesellschaft sucht nach neuen Wegen der Vermittlung von Staat und Gesellschaft jenseits der klassisch-liberalen Trennung von politischer Öffentlichkeit und entpolitisierter Privatsphäre durch eine Dreigliederung von Markt, Staat und Zivilgesellschaft: eine Gesellschaft aktiver Bürger, die durch politische Partizipation und Mitbestimmung auch und gerade jenseits der formalen politischen Institutionen das Gemeinwesen gestalten.

Die Zusammenhänge zu den eingangs erwähnten Krisen des Wohlfahrtsstaates und generellen staatlichen Steuerungsproblemen sind unübersehbar. Unübersehbar ist aber auch die Tatsache, dass bürgerschaftliches Engagement nicht durch markige Worte und suggestive Beschwörungsformeln aus dem Boden zu stampfen und steuerungstechnisch instrumentalisierbar ist. Seine Grundlage sind vielmehr neue Formen demokratischer Aneignung formaler Staatlichkeit, welche die tiefgreifende Umgestaltung politischer Institutionen ebenso voraussetzen wie die Umgestaltung individueller Mentalitäten. Die andere Seite vermehrter Mitbestimmung und Mitgestaltung ist die vermehrte Mitverantwortung, d. h. die Aufgabe des Anspruchs auf soziale Rundumsicherung, der der Entstaatlichung von Politik genauso entgegensteht wie Prozesse korporativer Vermachtung.

Als Musterland freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements gelten seit Tocquevilles berühmter Würdigung des amerikanischen Vereinswesens als einer der Grundlagen der amerikanischer Demokratie die USA. Über den amerikanischen Traditionen bürgerschaftlicher Selbstorganisation und bürgerlicher Philanthropie sollte man aber die eigenständigen Traditionslinien zivilgesellschaftlichen Engagements in Deutschland nicht vergessen. Hier ist vor allem an die kommunale Selbstverwaltung und die bürgerliche Vereinskultur des 19. Jahrhunderts zu erinnern.

Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland verdankt ihre Entstehung der Preußischen Städteordnung vom November 1808. Diese zielte auf die Integration des aufstrebenden Bürgertums in den absolutistischen Staat durch das Angebot der Verwaltung der lokalen Angelegenheiten durch die Bürger selbst. Die hier begründeten Selbstgestaltungsrechte zogen zwangsläufig entsprechende Selbstgestaltungspflichten nach sich. Paragraph 191 der genannten Städteordnung bestimmte daher, dass die Bürger zur Übernahme "öffentlicher Stadtämter" verpflichtet waren, ohne dafür ein Entgelt beanspruchen zu können. Diese Regelung bildet gleichsam die Geburtsstunde des bürgerlichen Ehrenamtes. Dieses war also in seinem Ursprung administrativ, das heißt es war "Amt" im Sinne der Ausübung öffentlicher Gewalt. Und es beinhaltete die Selbstverwaltung der örtlichen Angelegenheiten. Die Entstehung des Ehrenamtes war somit untrennbar mit der Lokalgemeinschaft verbunden.

Das soziale Ehrenamt wurde dann 1853 durch das später berühmt gewordene "Elberfelder System" geschaffen, das die Durchführung der öffentlichen Armenpflege (als Teil der kommunalen Verwaltung) auf der Grundlage der Preußischen Städteordnung zur ehrenamtlichen Aufgabe der (männlichen) Bürger machte. Am Quartierprinzip des Elberfelder Systems - jener Bindung der Zuständigkeit des Armenpflegers an sein unmittelbares räumliches Umfeld, der das System seine Bedeutung verdankt - wird der Lokalbezug des Ehrenamtes noch einmal besonders deutlich. Die entscheidende Qualifikation des Armenpflegers bestand in seiner Eigenschaft als Bürger und Nachbar, seiner lokalen Vertrautheit und Präsenz.

Mit dem Elberfelder System begann eine Tradition ehrenamtlicher Armenpflege, welche die Organisation städtischer Armenfürsorge in Deutschland auf Jahrzehnte hinaus bestimmte. Einen gewissen Höhepunkt erfuhr sie im Rahmen der kommunalen, bürgerlichen Sozialreform der 1890er Jahre, als die deutschen Großstädte begannen, die herkömmliche Armenpflege zur kommunalen Sozialpolitik auszubauen. Damit zugleich wurde allerdings ein Schub der Bürokratisierung und Professionalisierung von kommunaler Politik im Allgemeinen und kommunaler Sozialpolitik im Besonderen in Gang gesetzt, der langfristig diesen Typus ehrenamtlicher Tätigkeit aushöhlte. Seit dem ersten Weltkrieg und verstärkt in der Zeit der Weimarer Republik wurden die ehrenamtlichen Funktionen in der öffentlichen Armenpflege durch berufliche und fachlich qualifizierte Tätigkeiten ergänzt und überlagert. In der Nachkriegs-Bundesrepublik fristeten und fristen sie nurmehr ein Schattendasein. Ehrenamtliche Armenpflege, aber auch ehrenamtliches Engagement in der kommunalen Selbstverwaltung generell, sind also Opfer von Bürokratisierung und Professionalisierung geworden. Kommunale Verwaltung ist heute eine Bürokratie wie andere auch.

Der Verein gilt gemeinhin als typische Organisationsform bürgerlichen Lebens und bürgerlicher Lebenswelt im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Verein auch zur typischen Organisationsform der Privatwohltätigkeit, des privaten - konfessionellen wie nicht konfessionellen - Engagements für die Armen und Hilfsbedürftigen. In den Städten des Deutschen Reiches bestand neben der öffentlichen Fürsorge eine bunte, unübersichtliche Vielzahl privater wohltätiger Einrichtungen für verschiedene Adressatengruppen und Konfessionen, die häufig nach hunderten, in den Metropolen gar nach tausenden zählte, wobei die Organisationsform des Vereins gegenüber der traditionellen Stiftung zunehmend an Bedeutung gewann. Der Wirkungskreis dieser Vereine war grundsätzlich lokal. Hier wiederholt sich also der Entstehungszusammenhang von bürgerlichem Sozialengagement und Lokalgemeinschaft, der auch die kommunale Selbstverwaltung kennzeichnet.

Dabei waren die Trennlinien zwischen beiden Sektoren nicht immer scharf. Die Leitungsfunktionen im öffentlichen wie im Vereinssektor wurden häufig in Personalunion wahrgenommen. Die sozial engagierten lokalen Eliten waren also auf beiden Sektoren gleichzeitig aktiv. Interessant ist das so genannte Frankfurter Modell zur Koordination des weitgehend ungeordneten Nebeneinanders von öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege. Der Frankfurter Ansatz bestand in Grundzügen darin, dass das städtische Armenamt versuchte, die privaten Vereinigungen dadurch in einen Kooperationsverbund einzubeziehen, dass es einerseits gezielt Aufgaben an private Vereine delegierte, diese dann systematisch subventionierte und schließlich die städtischen Interessen in der privaten Fürsorge dadurch zur Geltung brachte, dass Vertreter des Armenamtes in die Vorstände und Leitungsgremien der privaten Vereinigungen entsandt wurden. Hier wurden die späteren Formen der Koordination öffentlicher und privater Wohlfahrtspflege nach dem Prinzip der Subsidiarität, wie die Fürsorgegesetzgebung der Weimarer Republik sie einführte, in Ansätzen bereits vorweggenommen. Die liberale Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre beginnt sich aufzulösen. Der bürgerliche Verein wird zum Bestandteil jener "repolitisierten Sozialsphäre" (Jürgen Habermas), die für ein zivilgesellschaftliches Konzept von Gesellschaft charakteristisch ist.

Kennzeichnend für die bürgerliche Vereinskultur des späten 19 Jahrhunderts ist die Homogenität ihres sozialen Trägers: des wohlhabenden, vor allem aber gebildeten Bürgertums der deutschen Städte, das sich in den neunziger Jahren zu einer regelrechten sozialen Bewegung formierte: der bürgerlichen Sozialreform, die in der kommunalen Sozialpolitik beachtliche Durchschlagkraft entfaltete und ihre Dynamik einem von Sozialverantwortung getragenen freiwilligen Bürgerengagement verdankte.

Auch der Vereinskultur blieb das Schicksal der Bürokratisierung und Professionalisierung nicht erspart. Mit ihrem sozialen Träger, dem gehobenen Bildungsbürgertum, ging auch die bürgerliche Vereinskultur in Weltkrieg und Inflation unter. Die Weimarer Republik war die große Zeit des Aufstiegs der Wohlfahrtsverbände, eines neuen Typs zentralisierter Großbürokratie der Wohlfahrtspflege.

Für die Entwicklung von freiwilligem Sozialengagement war und ist der Aufstieg der Wohlfahrtsverbände von zutiefst ambivalenter Bedeutung. Einerseits generieren sie als Wertgemeinschaften neue universelle Motivationsgrundlagen und schaffen einen verbreiterten Organisationsrahmen für freiwilliges Sozialengagement jenseits der traditionellen Lokalgemeinschaft. Andererseits aber leiten sie das Ende der Identität von freiwilligem Sozialengagement und privater Wohlfahrtskultur, ja tendenziell das Ende traditioneller privater Wohlfahrtskultur überhaupt ein. In Form des Spitzenverbandes der freien Wohlfahrtspflege hat sich der Wohltätigkeitsverein von einer Institution bürgerlicher Selbstorganisation zur professionellen Großbürokratie gewandelt, sozusagen zur gesellschaftlichen Außenstelle staatlicher Sozialbürokratie. Die professionell-bürokratischen Strukturen von Organisation und Arbeit aber höhlen langfristig die sozio-kulturellen Milieus aus, denen die Motivation zu traditionellem verbandlichen Sozialengagement entspringt. Zwar rekrutieren die großen Wohlfahrtsverbände bis heute freiwillige Helfer in erheblicher Zahl, aber die Entwicklung stagniert, während das hauptberufliche Personal rapide zunimmt.

In der jüngeren deutschen Geschichte lassen sich also markante Traditionslinien bürgerschaftlichen Engagements finden, an welche die heutige Diskussion anknüpfen kann. Jede aktuelle Diskussion muss sich aber der Erfahrung von Professionalisierung und Bürokratisierung der bisherigen Formen dieses Engagements stellen. Aktuelle empirische Untersuchungen zeigen - bei allen Kontroversen und Differenzen im Einzelnen - übereinstimmend, dass das dauerhafte institutionelle Sozialengagement, das in Deutschland herkömmlicherweise mit dem Begriff "Ehrenamt" verbunden ist, zurückgeht, dass das bürgerschaftliche Engagement insgesamt aber zunimmt. Das Wachstum betrifft also vor allem die Formen "neuer Ehrenamtlichkeit": Formen des Engagements, die mehr auf die biographische Situation und die Selbstverwirklichungsinteressen der Akteure eingehen und weniger von vorgegebenen verbandlichen Interessen diktiert werden können. Diese pluralen Formen des Sozialengagements müssen sich zudem einem neuen Problem stellen, das der bürgerlichen Sozialreform noch unbekannt war: Bürgerschaftliches Engagement setzt einen gemeinsamen Horizont geteilter Normen und Werte voraus, der in aktuellen Prozessen ethnischer und sozialer Pluralisierung und Differenzierung zumindest an Konturen verliert. Zivilgesellschaftliche Demokratisierung, gesellschaftliche Pluralisierung und individuelle Freiheit stehen also in einem prekären Spannungsverhältnis, das steuernder Stabilisierung dringend bedarf. Ansätze staatlicher Aktivierung zivilgesellschaftlichen Engagements stehen aber vor dem Problem, dass diese Art des Engagements sich gegen unmittelbare politische Instrumentalisierung sträubt, Chancen der Förderung daher am ehesten in "weichen" Formen der Ermutigung und Förderung liegen, die zu entwickeln zentrale Aufgabe künftiger sozialer Politik sein wird.

Internetverweise des Autors

Über die Diskussion im Allgemeinen informieren die verschiedenen Webseiten der Enquete-Kommission "Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements": www.bundestag.de/gremien/enga/index.html

Über die Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung informiert der Hessische Landkreistag: www.hessischerlandkreistag.de/Aktivitaeten/frage4.htm

Über die Geschichte der Privatwohltätigkeit und der Freien Wohlfahrtspflege informiert: www.muenchen.de/campus/Paed/we4/sozialpolitik/ Mat_03.pdf

Dr. jur., geb. 1944; Professor für Geschichte und Theorie der Sozialen Arbeit am Fachbereich Sozialwesen der Universität Gesamthochschule Kassel (GhK).

Anschrift: GhK, FB 4, Mönchebergstr. 19, 43109 Kassel.
E-Mail: sachsse@hrz.uni-kassel.de

Veröffentlichungen u. a.: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialreform und Frauenbewegung in Deutschland 1871-1929, Opladen 1994²; Stufen der Gemeinwohlförderlichkeit: Bürgerschaftliche Organisationen und Steuerprivileg, Gütersloh 2001.