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Staat und Religion in Deutschland | Religionspolitik | bpb.de

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Staat und Religion in Deutschland Historische und aktuelle Dynamiken im Religionsrecht

Hans Michael Heinig

/ 15 Minuten zu lesen

Das deutsche Religionsrecht steht vor neuen Herausforderungen, doch es hat Erfahrung mit gesellschaftlichen Dynamiken. Deshalb gilt: Wer die Vergangenheit des Religionsrechts ignoriert, wird seine Gegenwart nicht begreifen und seine Zukunft nicht sinnvoll gestalten können.

Das Religionsverfassungsrecht in Deutschland ist in hohem Maße historisch geprägt. Wer die Vorgeschichte der religionsrechtlichen Ordnung außer Acht lässt, verkennt am Ende die Herausforderungen der Gegenwart. Der Blick zurück hilft zudem für den nach vorne: Ohne Kenntnis der bisherigen Dynamiken erscheinen die weiteren Perspektiven allzu statisch. Dann wird etwa ausgeblendet, welch langen Weg die Kirchen zurückgelegt haben, bis sie zu den heutigen Stützen einer liberaldemokratischen Verfassungsordnung wurden. Beides verzerrt die Realitäten auf ungute Weise.

Vom Reformations- zum Säkularisierungsfolgenrecht

Das Religionsrecht in Deutschland ist zunächst einmal "Reformationsfolgenrecht", denn es wurde entscheidend durch die mit der 1517 einsetzenden Reformation einhergehende Kirchenspaltung geprägt: Anders als im Norden und Süden Europas bildeten sich hierzulande zwei gleichstarke Religionsparteien heraus. Der Streit um den wahren Glauben mündete in konfessionellen Bürgerkriegen, denen der Westfälische Frieden 1648 ein Ende setzte. Mit ihm wurde die religiöse Wahrheitsfrage im politischen Raum ein Stück weit suspendiert. Eine Frühform säkularisierter öffentlicher Gewalt entstand – doch nur auf der Ebene des Reiches selbst. Die einzelnen Territorialstaaten folgten zunächst dem Ideal konfessioneller Homogenität: Die Landesherren entschieden über die Religion in ihrem Herrschaftsbereich. In protestantischen Territorien entstand das landesherrliche Kirchenregiment, doch auch in den katholischen Reichsständen kam es zu einem engen Bündnis von Thron und Altar.

Religionsfreiheit und Gleichbehandlung aller Religionen und Weltanschauungen setzten sich erst allmählich durch. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 und der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 markieren wichtige Etappen, ebenso die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848 und die anschließend von oben "oktroyierten" Verfassungen. Deren Freiheits- und Gleichheitsrechte waren wenig belastbar, wie insbesondere Bismarcks Kulturkampf gegen die römisch-katholische Kirche zeigte. Dieser setzte alsbald nach der 1871 vom protestantischen Preußen orchestrierten Reichsgründung unter Ausschluss des katholischen Österreichs ein. Der deutsche Katholizismus wurde allen Verfassungsgarantien zum Trotz rabiat verfolgt – ein lange nachwirkendes Trauma.

Mit der Gründung der Weimarer Republik kam es auch religionsverfassungsrechtlich zu einer einschneidenden Zäsur: Das landesherrliche Kirchenregiment fand ein Ende, ebenso jede sonstige Form von Staatskirchentum und Staatsreligion. Die Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 garantierte erstmals für ganz Deutschland verfassungsrechtlich die individuelle und korporative Religionsfreiheit und verbot Diskriminierungen aus Gründen der Religion oder Weltanschauung.

Intensiv wurde damals diskutiert, wie das Auseinandertreten von Staat und Kirche gestaltet werden sollte. Man fand einen originellen Kompromiss zwischen den widerstreitenden Interessen: Deutschland sollte nicht den französischen Weg des Laizismus gehen und die Religion aus dem staatlich verfassten öffentlichen Leben verdrängen, sondern die Trennung sollte "schiedlich-friedlich" erfolgen. Punktuell blieben Kooperationen möglich, etwa bei theologischen Fakultäten oder dem konfessionellen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen. Auch die öffentlich-rechtliche Rechtsform für Religionsgemeinschaften blieb erhalten und war fortan allen Religionen und Weltanschauungen zugänglich. Man wollte so die Mitgliederbesteuerung als effiziente Finanzierungsform erhalten und die kulturelle Bedeutung des Religiösen unterstreichen. Zudem sah man, dass der Körperschaftsstatus eine Selbstorganisation gemäß dem theologischen Selbstverständnis oftmals besser ermöglicht als das bürgerliche Vereinsrecht.

Die Weimarer Republik scheiterte so frühzeitig, dass sich die Religionsbestimmungen ihrer Verfassung im demokratischen Alltag nicht richtig bewähren konnten. Erst in der Bonner Republik ließ sich im Detail durchbuchstabieren, was die 1919 vollzogene Trennung von Staat und Kirche bedeutet – nun vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs durch den NS-Staat, der eine mörderische Religionspolitik betrieben hatte.

Unveränderter Textbestand, veränderte Gesellschaft

Der Parlamentarische Rat übernahm 1949 die wesentlichen Bestimmungen des Weimarer Religionskompromisses in das Grundgesetz (GG). Das Grundrecht der Religionsfreiheit wurde allerdings, anders als in Art. 135 WRV, in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ohne Gesetzesvorbehalt neu gefasst. Nur Verfassungsrechte Dritter und Gemeinwohlbelange mit Verfassungsrang sollten Einschränkungen der Religionsfreiheit rechtfertigen. Der Textbestand des Religionsverfassungsrechts blieb bis heute unverändert, wird also 2019 hundert Jahre alt. Doch die Religionsempirie hat sich erheblich verändert. Waren 1949 noch nahezu alle Bürgerinnen und Bürger Mitglied in einer der beiden großen christlichen Kirchen, setzten ab den 1960er Jahren zunehmend Säkularisierungs-, Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse ein. Im urbanen Raum und Ostdeutschland stellen diejenigen, die nicht religiös oder weltanschaulich organisiert sind, inzwischen oft die Mehrheit. Zudem veränderte Migration die Zusammensetzung der religiösen Zugehörigkeiten in Deutschland erheblich.

Dieser Wandel von einer bikonfessionellen zur multi-, diffus- und nichtreligiösen Gesellschaft spiegelt sich auch in der Rechtspraxis wider. Unmittelbar nach der Gründung der Bundesrepublik hatte sich zunächst eine äußerst kirchenfreundliche Lesart des Grundgesetzes etabliert: Staat und Kirchen galten als Ordnungsmächte auf Augenhöhe, den Kirchen wurde quasi eigene Souveränität zugestanden. Der Ansatz stieß schnell auf Kritik, und das Bundesverfassungsgericht erteilte ihm schließlich eine Absage: Alle Religionsgemeinschaften seien selbstverständlich der staatlichen Rechtsordnung unterworfen und zugleich durch diese in ihrer Freiheit geschützt.

Nach und nach wandelten sich die den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zugrundeliegenden Sachverhalte, wie sich auch die Gesellschaft in Religionsdingen veränderte. Ging es anfänglich eher um den Minderheitenschutz in einer christlich geprägten Gesellschaft, waren in jüngerer Zeit etwa der islamische Religionsunterricht, Ladenöffnungen an Adventssonntagen, der Körperschaftsstatus für die Bahai oder die Verteilung von Landesleistungen zwischen unterschiedlichen jüdischen Gemeindeverbänden Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen.

Lange Zeit herrschte in der Bundesrepublik ein breiter Konsens darüber, wie die Leitlinien des Grundgesetzes zu verstehen sind: Ungleichbehandlungen zwischen Religionen und Weltanschauungen sind nur eingeschränkt bei Vorliegen sachlicher Gründe zulässig. Religion ist nicht nur Privatsache, sondern kann von den Bürgerinnen und Bürgern in die staatliche Sphäre hineingetragen werden. Der Staat hat aber keine eigene religiöse Identität. Er darf sich nicht mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren. Abgesehen von den in der Verfassung geregelten Ausnahmen gilt der Grundsatz, dass Religionsgemeinschaften keine staatlichen Aufgaben wahrnehmen sollen und der Staat keine religiösen Aufgaben übernimmt. Doch der religiös-weltanschaulich neutrale Staat muss als Kultur- und Sozialstaat nicht gänzlich religionsblind agieren. Er kann etwa Diakonie und Caritas als Leistungserbringer berücksichtigen und darf sich für gesellschaftliche Wirkungen von Religionskulturen interessieren. Er kann den freien Zusammenschluss religiöser Bürgerinnen und Bürger fördern, so wie er auch sportliche oder künstlerische Aktivitäten unterstützt. Er darf auf die kulturellen Prägekräfte des Religiösen hinweisen, etwa im Schulunterricht.

Gerade im schulischen Bereich zeigt sich aber auch, wie stark sich die Gesellschaft in religiös-weltanschaulichen Fragen verändert hat. Exemplarisch steht dafür der Streit um das Kopftuch der Lehrerin. Er bietet zugleich Anschauungsmaterial, wie das Grundrecht der Religionsfreiheit "praktisch funktioniert".

Kopftuch, Kreuz und Kippa: Religionsfreiheit in der Praxis

In der religionsoffenen, kooperativen Tradition des deutschen Religionsrechts hätte ein gelassen-toleranter Umgang mit religiös bedingten Kleidungsformen in der Schule nahegelegen. Doch seit Ende der 1990er Jahre wird in Deutschland intensiv und kontrovers über die Frage diskutiert, ob eine Lehrerin in einer öffentlichen Schule aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen darf. Theoretisch geht es in diesen Debatten immer auch um das Kreuz an der Halskette oder um die Kippa als Kopfbedeckung. Doch im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das islamische Kopftuch. Die einen begreifen kopftuchtragende Lehrerinnen als Ausdruck von Religionsfreiheit und gleichberechtigter Religionsausübung, gelungener Integration und weiblicher Emanzipation. Andere sehen dagegen einen islamischen Machtanspruch manifestiert und die mühsam errungene emanzipative Geschlechterordnung bedroht.

An dem Beispiel zeigt sich, wie unsere Gesellschaft insgesamt in Anknüpfung an die Erfahrungen der bikonfessionellen Gesellschaft – zuweilen auch in Abkehr von diesen – mal nachdenklich und tastend, mal konfrontativ und in Echokammern verkapselt nach dem richtigen Umgang mit der religiös-weltanschaulichen Vielfalt sucht. Diese Suche erstreckt sich auf Fragen individueller Religionsfreiheit ebenso wie auf korporative Rechte von Religionsgemeinschaften mit Blick auf Religionsunterricht, theologische Fakultäten, Gefängnis- und Militärseelsorge, aber auch als Leistungserbringer im Sozialstaat und als öffentlich-rechtliche Körperschaften eigener Art, die nicht Teil der Staatsverwaltung sind. Übergreifend stellt sich die Frage, wie es mit der Öffentlichkeit von Religion in staatlich verantworteten Sphären der Gesellschaft weitergeht.

Damit Grundrechte ihren Freiheitsschutz effektiv und rational entfalten können, schichtet man in juristischer Betrachtung unterschiedliche Fragenkreise ab: Welches Verhalten und welche Personen werden grundrechtlich generell geschützt (Schutzbereich)? Gibt es im konkreten Fall eine dem Staat zurechenbare Beeinträchtigung dieser Freiheit (Eingriff)? Ist ein solcher Grundrechtseingriff durch das Grundgesetz legitimiert (verfassungsrechtliche Rechtfertigung)?

Glaubens- und Handlungsfreiheit

Im Schutzbereich der Religionsfreiheit soll sich der Einzelne in seiner religiösen und weltanschaulichen Orientierung frei entfalten können. Die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG genannten Merkmale des Glaubens, Bekenntnisses und der Religionsausübung sind in ihrem Sinnzusammenhang zu verstehen. Religionsfreiheit meint dann die "Freiheit, einen Glauben zu haben oder keinen zu haben, einen Glauben anzunehmen oder abzulehnen, seinen Glauben zu behalten oder aufzugeben, ihn zu bekennen oder nicht zu bekennen, eine bestimmte Handlung aus religiösen Motiven zu tun oder aus religiösen Motiven zu unterlassen oder sein Handeln von jeder religiösen Motivation freizuhalten". In der Konsequenz ist die Religionsfreiheit weit zu verstehen als "das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln".

Der Einzelne muss plausibel vermitteln können, dass sein Verhalten religiös motiviert ist. Dabei kommt es nicht darauf an, ob religiöse Autoritäten ein bestimmtes Tun oder Unterlassen für zwingend geboten halten. Die Religionsfreiheit ist nicht darauf beschränkt, autoritativen Lehrmeinungen zu folgen. Individuelle religiös-weltanschauliche Selbstbestimmung meint gerade, sich eine eigene Überzeugung bilden zu dürfen. Beim Kopftuch ist es deshalb unerheblich, dass unter Muslimen umstritten ist, welche Bekleidungsformen die islamische Überlieferung fordert.

Auch der in politischen Debatten zuweilen zu hörende Vorhalt, der Islam sei eine politische Ideologie und keine Religion, muss für die Frage, was vom Schutzbereich des Art. 4 GG erfasst wird, unbeachtet bleiben. Religionsfreiheit in vollem Sinne kann der Staat nur gewähren, wenn er sich selbst für theologisch inkompetent erklärt und auf die religiöse Wahrheitsfrage keine eigenen Antworten zu geben sucht. In der Praxis gibt es immer wieder Grenzfälle, wenn zu entscheiden ist, ob etwas als "Religion" im Rechtssinne gelten kann – beispielsweise wenn Religionskritiker sich als Anhänger eines fliegenden Spaghettimonsters gerieren. In Bezug auf den Islam lässt sich aber nicht ernsthaft bezweifeln, dass dieser eine Weltreligion mit jahrhundertelanger Tradition darstellt. Er zeichnet sich durch für Religionen typische soziale Funktionen, kulturelle Praktiken und sprachliche Eigenarten aus. Deshalb fällt das in der islamischen Glaubenstradition stehende Verhalten unzweifelhaft in den Schutzbereich der Religionsfreiheit. Rechte Dritter und Belange des Gemeinwohls bleiben hingegen bei der Schutzbereichsbestimmung unberücksichtigt. Sie spielen im modernen Grundrechtsdenken erst auf der Ebene der Rechtfertigung von Freiheitsbeeinträchtigungen eine Rolle, da im liberalen Rechtsstaat nicht der Freiheitsgebrauch, sondern seine staatliche Einschränkung begründet werden muss.

Dieses Modell zur Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsfreiheit hat sich noch unter Bedingungen des Bikonfessionalismus in den 1960er Jahren ausgebildet, behält aber auch unter veränderten gesellschaftlichen Umständen seine Gültigkeit. Es gibt zwar immer wieder Vorschläge, den Schutzbereich restriktiver zu fassen. Doch wer die Religionsfreiheit auf Gottesdienste und Gebete oder auf die Befolgung amtlicher kirchlicher Lehrmeinungen beschränken will, verfehlt die eigentliche Pointe der Religionsfreiheit, nämlich den Schutz individueller religiös-weltanschaulicher Selbstbestimmung, aus der sich Rechte der Religionsgemeinschaften letztlich ableiten.

Rechtfertigung staatlicher Freiheitsbeschränkung

Der Parlamentarische Rat entschied sich 1949 bewusst dagegen, einen Gesetzesvorbehalt für die Religionsfreiheit aufzunehmen. Der Gesetzgeber sollte das Grundrecht nicht für beliebige politische Zwecke einschränken dürfen, sondern nur, soweit das unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zur Sicherung der Rechte Dritter oder sonstiger Gemeinwohlbelange mit Verfassungsrang erforderlich ist. Kollidierende Rechte müssen zu einem möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden. Wann ein Recht Dritter der Religionsfreiheit entgegensteht und wie genau ein angemessener Rechtsgüterausgleich aussieht, ist nicht immer einfach zu bestimmen. Fachleute sind in diesen Detailfragen selten einer Meinung.

Im Falle des Kopftuchs einer Lehrerin ging der Dissens so weit, dass der Erste und der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts sich widersprechende Entscheidungen trafen. Der Zweite Senat sah 2003 in der Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie im religiösen Erziehungsrecht der Eltern der Religionsfreiheit des Lehrpersonals potenziell entgegenstehende Rechte Dritter. Daneben bemühte er die staatliche Schulaufsicht (Art. 7 Abs. 1 GG), die auch den Schulfrieden als Integrations- und Funktionsvoraussetzung für die Beschulung umfasst. Da größere religiöse Vielfalt mit einer größeren Konfliktträchtigkeit einhergehe, sei möglicherweise eine distanzierendere Trennung von Staat und Religion geboten, als sie traditionell in Deutschland gepflegt wird. Jedenfalls erzeuge religiös konnotierte Bekleidung bei Lehrerinnen und Lehrern eine "abstrakte Gefahr" für den Schulfrieden. Deshalb könne der Gesetzgeber solche verbieten.

Der Erste Senat widersprach 2015. Religiös geprägte Kleidung wie das islamische Kopftuch sei eine Alltagserscheinung. Da die Religionsfreiheit nicht vor der Konfrontation mit religiös-weltanschaulichen Überzeugungen anderer schütze, seien die Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie das religiöse Erziehungsrecht der Eltern nicht substanziell beeinträchtigt. Zudem reiche eine abstrakte Gefahr für den Schulfrieden nicht aus, um vom Lehrpersonal neutral gehaltene Kleidung zu verlangen. Entscheidend seien die konkreten Umstände vor Ort oder zumindest im Schulbezirk. Ein pauschales Verbot sei unverhältnismäßig.

Einig war man sich im Bundesverfassungsgericht hingegen darin, wie mit der Vieldeutigkeit des "Symbols" Kopftuch umzugehen ist. Das Gericht machte sich die in der Gesellschaft teils verbreitete Überzeugung, das islamische Kopftuch sei Ausdruck einer emanzipationsfeindlichen Grundhaltung, nicht zu eigen. Solche Deutungen gebe es zwar und sie trügen zur Konfliktträchtigkeit des Kopftuchs bei. Doch sie überlagerten nicht einfach die grundrechtlich geschützte religiöse Intention der Kopftuchträgerin.

Aufschlussreich sind auch die Aussagen beider Senate zu der Frage, ob religiös geprägte Kleidung von Staatsbediensteten einen Verstoß gegen die Verpflichtung zur religiös-weltanschaulichen Neutralität darstellt. Dieser Grundsatz wird im Grundgesetz nicht ausdrücklich erwähnt, sondern der Religionsfreiheit, den religionsbezogenen Gleichheitsgarantien (Art. 3 Abs. 3 GG, Art. 33 Abs. 3 GG, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 2 WRV) sowie dem Verbot der Staatskirche (Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 1 WRV) in einer Zusammenschau entnommen. Bei religiös geprägter Bekleidung wie einer Kippa oder einem Kopftuch sei allen bewusst, dass diese nur individuelle Überzeugungen der Lehrpersonen zum Ausdruck bringe, die sich der Staat als Ganzer nicht zu eigen mache, so das Bundesverfassungsgericht.

Damit unterscheidet sich das Kopftuch der Lehrerin in einem entscheidenden Punkt vom auf staatliche Anordnung aufgehängten Kreuz im Klassenzimmer, das die Gemüter 1995 bewegte. Damals verwarf das Bundesverfassungsgericht eine Bestimmung im bayerischen Schulgesetz, nach der in jedem Klassenzimmer ein Kreuz aufzuhängen war. Das Gericht hob später ausdrücklich die Unterschiede zwischen dem Kopftuch der Lehrerin und dem Kreuz im Klassenzimmer hervor. Während im staatlichen Anbringungsbefehl zugleich zum Ausdruck komme, dass die durch das Kreuz symbolisierten Glaubensgehalte "vorbildhaft und befolgungswürdig" sind, habe religiös geprägte Kleidung einzelner Lehrpersonen für sich keine solche appellative Wirkung. Im Kruzifix-Beschluss 1995 betonte das Verfassungsgericht zudem, dass man das Kreuz keineswegs auf die vom Christentum geprägte abendländische Kultur reduzieren könne. Der religiös-weltanschaulich neutrale Staat dürfe zwar christliche Bezüge im öffentlichen Schulwesen zulassen, doch müsse er dabei Zwang so weit wie möglich ausschließen. So dürfen etwa Schulgebete und -gottesdienste nur veranstaltet werden, wenn die Teilnahme freiwillig ist. Ebenso sind Schulkreuze im Zweifel abzuhängen.

Zunehmende Konsistenzprobleme als Ausdruck gesellschaftlicher Verlegenheit

Jede der drei skizzierten Leitentscheidungen ist für sich nachvollziehbar begründet. Doch zusammengenommen sind sie über den engen Kreis von Rechtsexperten hinaus nicht einfach zu vermitteln. Mal soll das Grundgesetz ein allgemeines gesetzliches Verbot religiöser Bekleidung von Staatsbediensteten ermöglichen (so die Entscheidung 2003), dann wieder doch nicht (so 2015). Das auf staatliche Veranlassung hin aufgehängte Kreuz im Klassenzimmer muss bei Widerspruch von Schülern und Eltern weichen, das Kopftuch der Lehrerin hingegen, folgt man der Entscheidung von 2015, nur bei konkreter Störung des Schulfriedens. Der Staat darf zwar "christliche Gemeinschaftsschulen" betreiben, aber für diese kein verpflichtendes Kreuz im Klassenzimmer vorsehen (so 1995).

Rechtstechnisch lassen sich diese Ergebnisse jeweils nachvollziehen, und doch entsteht auf das Ganze gesehen der Eindruck mangelnder Konsistenz. Nun ist es wohlfeil, vom Verfassungsgericht zu verlangen, seine Entscheidungen besser aufeinander abzustimmen. Tatsächlich ist das Gericht immer auch den Strömungen der Zeit ausgesetzt. Der Islam in seinen vielen Facetten stößt gegenwärtig auf teils pauschale, ja hasserfüllte, teils differenzierte gesellschaftliche Vorbehalte. Zugleich erscheint eine Privilegierung des christlichen Glaubens oder der christlichen Kirchen mehrheitlich nicht akzeptabel. Hinzu tritt der fortschreitende Trend zu säkularen Seinsdeutungen. Diese Gemengelage löst seit einiger Zeit verstärkt laizistische Tendenzen aus, die gegenläufig zur verfassungsrechtlichen Intention und Tradition in Deutschland stehen.

Angesichts der etwa in Frankreich gemachten Erfahrungen ist zu bezweifeln, dass Deutschland mit einem radikalen Systemwechsel im Religionsverfassungsrecht gut beraten wäre. Gleichwohl verliert das Verfassungsrecht momentan an orientierender Kraft. Niemand vermag etwa auf der Grundlage der bislang entschiedenen Fälle verlässlich zu prognostizieren, wie das Bundesverfassungsgericht demnächst über das Kopftuch von Staatsanwältinnen und Richterinnen entscheiden wird. Im politischen Raum wurde jüngst gar diskutiert, ob nicht Kindern vor Erreichen der Religionsmündigkeit per se das Tragen religiös geprägter Kleidung verboten werden soll. Weil die Verfassungswidrigkeit eines solchen Verbotes allen evident gewesen wäre, hätte es solch eine Debatte noch vor zehn Jahren nicht gegeben. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis auch die Weihnachtskrippe auf dem städtischen Marktplatz und der Weihnachtsbaum vor dem Bundeskanzleramt infrage gestellt werden.

Gegen solche Tendenzen wollte jüngst die Bayerische Staatsregierung ein Zeichen setzen und beschloss, dass in jeder Landesbehörde ein Kreuz im Eingangsbereich aufzuhängen sei. Der Beschluss stieß auf massive Kritik, auch aus den Reihen der Kirchen und der akademischen Theologie. Demonstrierten bayerische Politiker und Bischöfe in München 1995 noch gemeinsam gegen den Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, ergab sich 2018 eine ganz neue Frontstellung: Kirchlicherseits witterte man eine Instrumentalisierung des Zentralsymbols des Christentums für Wahlkampfzwecke und zeigte sich ob seiner Profanisierung besorgt, da das Kreuz in einer Behörde des religiös-weltanschaulich neutralen Staates von Rechts wegen seines religiös-theologischen Sinngehaltes entkleidet werde. So löste eine Geste, die wertkonservative und kirchlich gebundene Wählerinnen und Wähler ansprechen sollte, am Ende allenthalben Irritationen aus, bei entschieden Säkularen, religiös Indifferenten, Muslimen und Juden, aber eben auch bei Christen. Im Kontrast zu 1995 zeigt sich abermals, wie weit fortgeschritten die Erosion alter bundesrepublikanischer Selbstverständlichkeiten in Fragen der religiös-weltanschaulichen Ordnung ist, selbst in Bayern.

Ausblick

Viele Fachleute betonen, dass Deutschland in der Vergangenheit mit seinem Religionsverfassungsrecht auf das Ganze gesehen gute Erfahrungen gemacht hat. Der religiös-weltanschauliche Frieden war gesichert. Die allen Religionen eigenen destruktiven Potenziale wurden eingehegt, ihre sozialproduktiven Kräfte stimuliert. Wechselseitige Übergriffigkeiten zwischen Religion und Politik waren die Ausnahme. Die Bürgerinnen und Bürger pflegten untereinander zivilitätssichernde Toleranz.

Freilich kann selbst der klügste Verfassungstext seine eigene praktische Wirksamkeit nicht garantieren. In Zukunft wird das auf gleiche Freiheit, kooperative Trennung und Öffentlichkeit angelegte Religionsverfassungsrecht seine integrierenden Wirkungen nur weiter entfalten, wenn auch die maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen hinreichend entgegenkommende Lebenshaltungen ausbilden. Die weitere Dynamik wird deshalb vor allem davon abhängen, ob ein nachhaltiger Interessenausgleich zwischen säkular und religiös gesonnenen Bürgerinnen und Bürgern gelingt; die Gesellschaft insgesamt besser lernt, von einzelnen Religionskulturen ernsthaft ausgehende Gefahren für das Gemeinwohl von bloßen kulturellen Fremdheitserfahrungen zu unterscheiden; die gesellschaftlich maßgeblichen Religionskulturen glaubwürdig darstellen können, dass sie mit einer liberaldemokratischen Gesellschaftsordnung verträglich sind; hinzukommende institutionelle Akteure mit den ungeschriebenen Spielregeln des deutschen Neokorporatismus elegant umzugehen wissen; und ob Zugewanderte sich eine ihnen fremde Geschichte, zu der auch die Religions(rechts)geschichte gehört, als ihre zu eigen machen und als solche weiterschreiben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu diesen Einflüssen etwa in jüngster Zeit Hans Michael Heinig, Prekäre Ordnungen. Historische Prägungen des Religionsrechts in Deutschland, Tübingen 2018; Horst Dreier, Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne, München 2018, S. 63ff.; Christoph Schönberger, Etappen des deutschen Religionsrechts von der Reformation bis heute, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 4/2017, S. 333–347, mit Kommentaren von Stefan Korioth (ebd., S. 348–353) und Olivier Beaud (ebd., S. 354–361); Hendrik Munsonius, Öffentliche Religion im säkularen Staat, Heidelberg 2016, S. 11ff.

  2. Zum Katholizismus etwa Christian Waldhoff, Katholizismus und Verfassungsstaat, in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 2010, Bonn 2011, S. 43ff. und zum Protestantismus Hans Michael Heinig, Säkularer Staat, viele Religionen, Freiburg/Br. 2018, S. 81ff.

  3. Vgl. Christian Walter, Reformationsfolgen, Säkularisierungsfolgen, Pluralisierungsfolgen, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 4/2017, S. 395–414.

  4. Die einzelnen Maßnahmen sind dokumentiert in Ernst-Rudolf Huber/Wolfgang Huber (Hrsg.), Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Darmstadt 1976, S. 395ff.

  5. Im Überblick etwa Karl-Hermann Kästner, in: Wolfgang Kahl/Christian Waldhoff/Christian Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Heidelberg 2010, Art. 140 Rn. 1ff. Siehe auch den Beitrag von Thomas Großbölting in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  6. Siehe auch den Beitrag von Gert Pickel in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  7. Zum schulischen Religionsunterricht siehe auch den Beitrag von Riem Spielhaus und Zrinka Štimac in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).

  8. Michael Germann, in: Volker Epping/Christian Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar Grundgesetz, München 2016, Art. 4, Rn. 21.

  9. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 108, S. 282 (297); ständige Rechtsprechung.

  10. BVerfGE 138, 296ff.; BVerfGE 108, 282ff. Zu beiden Entscheidungen etwa Heinig (Anm. 2), S. 17f., S. 109ff..

  11. BVerfGE 108, S. 282 (301, 303).

  12. BVerfGE 138, 296ff.

  13. Zu Gehalt und Grenzen des Grundsatzes vgl. Heinig (Anm. 2), S. 12ff.; mit etwas anderem Akzent Dreier (Anm. 1), S. 95ff.

  14. BVerfGE 138, 296 (340).

  15. BVerfGE 93, 1 (20).

  16. Die in Reaktion auf den Kruzifix-Beschluss eingeführte Widerspruchslösung hat das Bundesverfassungsgericht in der Folge nicht beanstandet. Vgl. Bundesverfassungsgericht, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1999, S. 757ff.

  17. Siehe auch den Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.)

  18. Vgl. etwa Christian Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, München 2010; Christoph Möllers, Religiöse Freiheit als Gefahr?, in: Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer 68/2009, S. 47–93, hier S. 87; Stefan Korioth, Reform des deutschen Religionsrechts?, in: Horst Groschopp (Hrsg.), Konfessionsfreie und Grundgesetz, Aschaffenburg 2010, S. 13–28, hier S. 13ff.

  19. Vgl. Heinig (Anm. 2), S. 27ff.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Hans Michael Heinig für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, an der Georg-August-Universität Göttingen.
E-Mail Link: ls.heinig@jura.uni-goettingen.de