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Editorial | Zukunft der Gewerkschaften | bpb.de

Zukunft der Gewerkschaften Editorial Streik ist wie Krieg Der neue Arbeitsmarkt und der Wandel der Gewerkschaften Der neue Strukturwandel: Herausforderung und Chance für die Gewerkschaften Unvermindert wichtig: Gewerkschaften vor alten und neuen Aufgaben Der Arbeitskampf als Instrument tarifpolitischer Konfliktbewältigung

Editorial

Katharina Belwe

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Das deutsche Erfolgsmodell der Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften steht auf dem Prüfstand. Reformen der Tarif-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik sind unabdingbar.

Das deutsche Erfolgsmodell der Tarifverhandlungen zwischen organisierten Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften steht auf dem Prüfstand. Die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Die Globalisierung, die Europäisierung, die Tertiarisierung und die Digitalisierung der Arbeitswelt sowie die Pluralisierung von Lebensstilen, eine neue Vielfalt von Beschäftigungsformen, die Zunahme der Erwerbstätigkeit von Frauen, aber auch die Alterung der Gesellschaft stellen die Sozialpartner vor neue Herausforderungen. Reformen sind unabdingbar.

Die Arbeitgeberseite setzt sich für flexibilitätssteigernde, beschäftigungsfördernde Reformen der Tarif-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ein, die Gewerkschaften lehnen diese weitgehend ab. Sie gelten deshalb als Reformbremser und werden zum Sündenbock gemacht. Ihnen wird eine Mitschuld an der anhaltenden Wirtschaftskrise, an steigenden Sozialkosten, fehlenden Arbeitsplätzen und an der Investitionszurückhaltung der Arbeitgeber zugeschrieben. Das Streikdesaster um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland und die Schlammschlacht um den Vorsitz der IG-Metall haben zu einem weiteren Imageverlust und einem drastischen Rückgang der Mitgliederzahlen der Gewerkschaften beigetragen.

Dabei, so Gisela Wild in ihrem Essay, braucht die Gesellschaft starke Gewerkschaften: als Gegengewicht zur Unternehmerseite und als Ordnungsfaktor. Deren Führung muss über egoistische Verbands- und Eigeninteressen hinaus das Ganze im Blick haben. Sie muss begreifen, dass Reformen - wenn es nicht zum Kollaps des Sozialstaats kommen soll - unumgänglich sind.

Wolfgang Schroeder und Lothar Funk nähern sich dem Thema aus unterschiedlicher Perspektive. Einig sind sie sich darin, dass die Gewerkschaften nicht adäquat auf die Veränderung der Rahmenbedingungen reagiert haben. Anhaltender Mitgliederschwund und eine verzerrte Mitgliederstruktur der Arbeitnehmerorganisationen sind die Folge. Ein Umbau der gewerkschaftlichen Organsations- und Kommunikationsstrukturen ist aus Sicht beider Autoren dringend erforderlich. Schroeder, der das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden als System kommunizierender Röhren deutet, verweist zugleich auf die Verantwortung der Arbeitgeberverbände. Funk sieht Handlungsbedarf bei den Gewerkschaften: Durch eine Neubeurteilung der notwendigen Reformen in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik und eine Stärkung ihrer Kernkompetenz - der Tarifpolitik - könnten sie ihre wirtschaftspolitische Glaubwürdigkeit erhöhen und damit die Talfahrt stoppen.

Ein wesentlicher Aspekt gewerkschaftlicher Neuorientierung und Modernisierung liegt nach Ute Klammer und Reiner Hoffmann in ihrer Europäisierung. Auf dem europäischen Arbeitsmarkt, der national und international durch steigende Machtasymmetrie gekennzeichnet ist, würden Gewerkschaften zur Vertretung und Unterstützung der abhängig Beschäftigten mehr denn je gebraucht - und hätten hier auch Erfolge zu verzeichnen.

Arbeitskämpfe und Streikdauer sind in Deutschland bei konstanter Anzahl der Streikenden in den vergangenen drei Jahrzehnten zurückgegangen, so das Ergebnis eines internationalen Vergleichs. Hagen Lesch warnt jedoch davor, aus diesem Befund voreilige Schlüsse zu ziehen. Der Autor befürchtet, dass es angesichts des weiter wachsenden wirtschaftlichen Reformdruckes künftig verstärkt zu politisch motivierten Streiks kommen könnte.