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Das Paradox der integrierten Ausgrenzung von gering qualifizierten Jugendlichen

Heike Solga

/ 15 Minuten zu lesen

In Deutschland hat die soziale Marginalisierung von Jugendlichen ohne Schulabschluss zugenommen. Diese werden nicht nur sukzessive vom Arbeitsmarkt verdrängt, sondern zunehmend von vornherein aussortiert.

I. Einleitung

1965 verließ noch etwa jeder fünfte Jugendliche in der Bundesrepublik die allgemein bildende Schule ohne Schulabschluss - d.h. weder mit qualifiziertem noch mit einfachem Hauptschulabschluss. Im Jahr 2000 waren es 86 600 bzw. neun Prozent aller Abgänger von allgemein bildenden Schulen. Im internationalen Vergleich ist die Misserfolgsquote im deutschen Schulsystem damit eine der niedrigsten - zumindest in Bezug auf formale Abschlüsse. Mitte der neunziger Jahre betrug der Anteil der 19- bis 21-Jährigen, die keinen höheren Sekundarschulabschluss vorweisen konnten, in Frankreich mehr als 25 Prozent und in Großbritannien fast 20 Prozent. Nur Schweden erreichte mit weniger als fünf Prozent einen deutlich geringeren Anteil als Deutschland und die Niederlande (9 Prozent). Trotz dieses Erfolgs hat die soziale Marginalisierung von Jugendlichen ohne Schulabschluss in Deutschland zugenommen. Ihr fehlender Abschluss gilt als Beleg dafür, dass sie den gestiegenen Leistungsanforderungen in der Schule nicht gerecht wurden - und dies zu einer Zeit, in der bei hoher Sockelarbeitslosigkeit die Konkurrenz um Ausbildungs- und Arbeitsplätze deutlich gestiegen ist.

Welche Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen stehen Jugendlichen ohne Schulabschluss unter diesen Umständen heute überhaupt noch offen? Um darauf eine Antwort zu geben, wird in diesem Beitrag dargestellt, wie die Schulkarrieren dieser Jugendlichen aussehen und mit welchen Problemen sie beim Übergang in Ausbildung und Beschäftigung konfrontiert sind. Die Gliederung des Beitrags folgt der Grobstruktur der Bildungs-, Ausbildungs- und Berufs(einstiegs)biografien dieser Jugendlichen, die sich in den vergangenen 50Jahren verändert haben. Die Analysen zeigen, dass die zunehmende Integration der Jugendlichen in das berufliche Bildungssystem - als ständige Versuche, ihnen doch noch den Weg in die so genannte Normalbiografie zu ebnen - die Ausgrenzungsgefahr in scheinbar widersprüchlicher Weise erhöht hat. Vorab sind zwei Vorbemerkungen sinnvoll:

Erstens werden diese Jugendlichen, wie empirische Untersuchungen zeigen, in ein eher ungünstiges soziales Umfeld hineingeboren. Die Familien sind häufig unvollständig, die Väter sind relativ oft arbeitslos, das Bildungsniveau der Eltern ist eher gering, und eine hohe Kinderzahl sowie ein niedriges Einkommen erschweren diese Situation häufig noch erheblich.

Zweitens: Die Datenlage für diese Personengruppe ist miserabel. Um die Lebensläufe dieser Jugendlichen in groben Zügen nachzeichnen zu können, werden die Daten der Deutschen Lebensverlaufsstudie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (MPIfB) verwendet. An dieser Untersuchung haben allerdings kaum Sonderschülerinnen und -schüler teilgenommen. Zudem werden nur westdeutsche Jugendliche betrachtet, da die Datenlage für Personen mit Migrationshintergrund noch schlechter ist. Hervorzuheben ist an dieser Stelle gleichwohl, dass insbesondere Jugendliche nichtdeutscher Herkunft eine signifikante Teilpopulation der gering qualifizierten Jugendlichen darstellen. So verlassen (immer noch) 20 Prozent der Jugendlichen ohne deutsche Staatsangehörigkeit die Schule ohne einen Hauptschulabschluss. Zudem befinden sich unter den jungen Erwachsenen ohne anerkannten Ausbildungsabschluss 50 Prozent nichtdeutscher Herkunft.

II. "Schiffbruch" in der Schule

Seit Beginn der achtziger Jahre verlassen nur noch 10 Prozent aller Jugendlichen die Schule ohne einen Hauptschulabschluss. Bei den Mädchen beträgt der Anteil heute 7 Prozent, bei den Jungen 12 Prozent. Früher wie heute (in den alten Bundesländern) haben Jugendliche ohne Abschluss mehrheitlich eine Sonder- oder Hauptschule besucht. Seit den siebziger Jahren kommen etwa 40 Prozent dieser Jugendlichen von einer Sonderschule und etwa 50 Prozent von einer Hauptschule. Angesichts der gewandelten sozialen Bedeutung der Hauptschule (sie wird heute nur noch von 21 Prozent eines Altersjahrgangs besucht) machen die Hauptschülerinnen und -schüler (ohne Schulabschluss) - ähnlich wie Sonderschülerinnen und -schüler - aber erste Erfahrungen einer insitutionellen Aussonderung.

In Abbildung 1 wird überdies deutlich, dass Jugendliche ohne Abschluss die Schule heute deutlich länger besuchen als früher. In den Geburtskohorten bzw. -jahrgängen 1929 - 1931 (kurz 1930), 1939 - 1941 und 1949 - 1951 (kurz 1940/50) haben 50 Prozent der Jugendlichen ohne Abschluss die Schule in einem Alter bis zu 14 Jahren und 4 Monaten verlassen. In der Kohorte 1964/71 hingegen besuchten 50 Prozent von ihnen die Schule auch noch im Alter von 16,5 Jahren und älter. Die Altersdifferenz bei Schulende beträgt damit mehr als zwei Jahre. In keiner anderen Bildungsgruppe ist das Schulabschlussalter so stark angestiegen; bei den Abiturienten erhöhte es sich um drei Monate, bei den Schülerinnen und Schülern mit mittlerer Reife um vier Monate und bei jenen mit einem Hauptschulabschluss um anderthalb Jahre. Damit besuchen die Jugendlichen dieser Gruppe - abgesehen von den Abiturienten (hier beträgt der Altersdurchschnitt bei Schulende in allen vier Kohorten etwa 19,5 Jahre) - die Schule heute etwa genauso lange wie Schulabgänger mit mittlerer Reife und sogar 10 Monate - also ein ganzes Schuljahr - länger als Jugendliche mit Hauptschulabschluss.

Diese Verlängerung der Schulzeit hat (mindestens) drei Ursachen:

1. die generelle Verlängerung der Schulzeit an Haupt- und Sonderschulen um ein Jahr;

2. die erhöhte gesellschaftliche Bildungsnorm und die sich daraus auch für sie ergebende Pflicht, sich um den Erwerb eines Abschlusses zumindest mehrfach (in Form von Klassenwiederholungen) bemüht zu haben;

3. ihre geringen Chancen auf dem Ausbildungsmarkt, so dass sie mangels Alternativen länger auf der Schule verbleiben. So weist z.B. eine Untersuchung der Bundesanstalt für Arbeit und des Bundesinstituts für Berufsbildung für das Jahr 2001 aus, dass 41 Prozent der bei den Arbeitsämtern vorstellig gewordenen Ausbildungssuchenden ohne Schulabschluss auch weiterhin eine allgemein bildende Schule der Sekundarstufe I besuchen; der Anteil der erfolglos gebliebenen Ausbildungssuchenden mit einem Haupt- oder höheren Schulabschluss liegt, einschließlich des Schulbesuchs in der Sekundarstufe II, unter oder bei 10 Prozent.

Damit definiert sich das Scheitern dieser Jugendlichen in der Schule heute in zweifacher Weise: durch den fehlenden Schulabschluss und den deutlich längeren Schulbesuch. Dabei werden ihre schlechteren Schulleistungen heute eher als 'individuelles Versagen' interpretiert, da die Öffnung der höheren Bildungsinstitutionen generell mit besseren Bildungschancen gleichsetzt wird. Darüber hinaus führt ihr signifikant höheres Alter beim Verlassen der Schule zu neuartigen Stereotypisierungen - im Sinne von '"Solange auf der Schule und doch nicht geschafft'".

III. Integration und Ausgrenzung im beruflichen Bildungssystem

Nach dem Verlassen der Schule wird von dieser Gruppe genauso wie von Jugendlichen mit Schulabschluss erwartet, dass sie ihr Leben "auf einen bestimmten biographischen Fluchtpunkt hin organisieren" - nämlich auf eine unbefristete Vollzeiterwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt. Doch in der Bildungs- und Wissensgesellschaft gilt es, sich stärker als früher für das Berufsleben zu qualifizieren. Der Weg ins Berufsbildungssystem, der in der Vergangenheit vor allem von Personen mit Abitur und mittlerer Reife sowie jungen Männern mit Hauptschulabschluss beschritten wurde, stellt daher heute auch für Jugendliche ohne Schulabschluss die Normalität dar. Bei den Frauen ist der Anteil derer, die berufliche Bildungsangebote wahrnehmen, von 31 auf 84 Prozent gestiegen, bei den Männern von 76 auf 92 Prozent (s.Abbildung2). Damit haben in den Geburtsjahrgängen 1964 und 1971 nur 16 Prozent der Frauen und acht Prozent der Männer ohne Schulabschluss nie den Fuß ins berufliche Bildungssystem gesetzt.

Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Jugendlichen durch berufliche Bildungsmaßnahmen oder Ausbildungen die Möglichkeit haben, den fehlenden Schulabschluss zu kompensieren. Tatsächlich nehmen sie weit seltener als andere Jugendliche eine 'reguläre' Ausbildung auf. Mit dem 'amtlichen Stempel des Defizitären' versehen (nämlich ohne Schulabschluss und als Haupt-, wenn nicht gar Sonderschüler), haben sie viel weniger Chancen auf dem Ausbildungsmarkt. Bei der Berufsberatung der Arbeitsämter wird ihnen erneut vermittelt, dass sie derzeit weder für eine reguläre Ausbildung noch für eine Beschäftigung geeignet seien. Ihre Schwierigkeiten beim Übergang in die Arbeitswelt werden vor allem als individuelle Leistungs- und Motivationsdefizite definiert. Sie werden als Personen charakterisiert, "die nicht behindert sind, die aber dennoch Handikaps mitbringen, seien es individuelle Beeinträchtigungen: lernbeeinträchtigte Jugendliche, z.B. ohne Hauptschul-Abschluss, Sonderschulabgänger, mit schwerwiegenden Bildungsdefiziten; psychische und physische Handikaps [oder, H.S.] soziale Benachteiligungen: sozial benachteiligte Jugendliche, z.B. verhaltensgestörte, drogenkranke/-abhängige Jugendliche, Strafentlassene/-gefangene, Jugendliche mit Migrationshintergrund, allein erziehende junge Frauen". Aufgrund dieser Zuordnung werden sie in ein "Parallelsystem ergänzender Angebote" bzw. ausbildungs- und berufsvorbereitender 'Maßnahmen' kanalisiert. Mehr noch, der fehlende Schulabschluss gilt als "Zeichen ihrer Unfähigkeit" für eine gleichberechtigte Beteiligung am Ausbildungsmarkt. Für die Teilnahme an diesen Maßnahmen müssen sie sich damit quasi einer Selbststigmatisierung aussetzen.

Ziel dieser 'Maßnahmen' ist es, die 'Versäumnisse' dieser Jugendlichen in der Schulzeit auszugleichen und sie ausbildungs- und beschäftigungsreif zu machen. Sie landen daher häufig in so genannten Trainingsprogrammen, d.h. in Maßnahmen zur Leistungs- und Eignungsfeststellung bzw. im 'Profiling', in Maßnahmen zur beruflichen Orientierung und Berufswahlentscheidung oder zur Ausbildungsvorbereitung insbesondere in schulischer Form (wie z.B. im Berufsvorbereitungsjahr oder in berufsvorbereitenden Förderlehrgängen der Arbeitsverwaltung). Daher verwundert es nicht, dass die Übergangsquote in die durch das Sozialgesetzbuch (SGB) III geregelten Maßnahmen bei diesen Jugendlichen am höchsten ist. Die Folge ist allerdings, dass sie - ähnlich wie an ihrer Hauptschule oder Schule für Lernbehinderte - wieder 'unter sich' sind. Auch hier fehlen positive Vorbilder durch Mitschülerinnen und Mitschüler. Darüber hinaus wird mit ihrer erneuten institutionellen "Ausgliederung" weniger ein positives Signal zur Förderung ihrer Lernbereitschaft ausgesendet. Vielmehr erhöht sich die Gefahr, dass sich ihre 'Negativkarriere' fortsetzt. Ferner sind Abbrüche programmiert, da die Jugendlichen den Schulabschluss in einem Jahr nachholen sollen - und dies mit jenen Lerninhalten und Werten, "an denen viele dieser Jugendlichen bereits in der Grund- und Hauptschule gescheitert sind".

Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts zu den Übergangsmustern von 2 323 Frauen und Männern im Alter von 18 bis 25 Jahren zeigt dementsprechend, dass nur 30 Prozent der an diesen 'Maßnahmen' teilnehmenden jungen Erwachsenen den Übergang in eine stabile Ausbildung oder Beschäftigung schafften. Über die Hälfte (55 Prozent) der Interviewten haben hingegen drei bis sechs Maßnahme-Stationen durchlaufen. Ähnliches zeigen erste Ergebnisse zum Jugendsofortprogramm JUMP. Von den 16- bis 18-jährigen JUMP-Teilnehmern befand sich etwa ein Drittel im Anschluss an JUMP wieder in einer "Maßnahme", und mehr als 20 Prozent waren erneut arbeitslos. Mehr als 40 Prozent der 24- bis 25-Jährigen wurden nach Abschluss der JUMP-Maßnahme erneut in die Arbeitslosigkeit entlassen. Doch auch von dieser Gruppe befanden sich ca. 20Prozent nach Abschluss der JUMP-Maßnahme in einer weiteren "Maßnahme".

Bei diesen jungen Erwachsenen - insbesondere wenn sie ohne Schulabschluss waren - gibt es damit bereits vor dem 25. Lebensjahr Anzeichen einer sich verfestigenden "Arbeitslosigkeits-Maßnahme-Karriere": Die Jugendlichen werden von Station zu Station weitergeschoben. Viele von ihnen definieren diese "Stationen" daher auch häufig nicht als Arbeit. Sie fühlen sich stigmatisiert und nehmen ihre berufsbezogenen Ansprüche und Motivationen zurück: "Die Anpassung an das aktuell Mögliche wird zu ihrem dominanten Interpretationsmuster der Alltagsbewältigung." Die Jugendlichen geraten damit unter einen enormen Normalisierungsdruck, den (Aus-)Bildungsabstand verringern zu müssen, der in vielen Fällen zu erneutem Versagen führt. Dies wird von ihnen und ihrer Umwelt häufig als ein "individuelles Versagen" interpretiert. Die Folge ist eine weitere Entmutigung.

Ferner ist anzumerken, dass die Jugendlichen, die eine Berufsausbildung aufgenommen haben (vgl. Abbildung 2), keinesfalls alle im dualen System bzw. in einer regulären Ausbildung an einer (Berufs-)Fachschule landeten. Zu ihnen gehören auch jene Jugendlichen, die in staatlich geförderten schulischen, über- und außerbetrieblichen Ausbildungen untergekommen sind.

Wie erfolgreich sind nun Jugendliche ohne Schulabschluss letztlich beim Abschluss einer anerkannten Berufsausbildung? Abbildung 3 zeigt, dass sich der Anteil junger Männer ohne Schulabschluss, die im Alter von 25 Jahren keine Ausbildung vorweisen konnten, in den vergangenen 50 Jahren etwas verringert hat. Für die 1930er-Geburtskohorte lag dieser Anteil bei 37 Prozent, in den Geburtsjahrgängen 1964/1971 bei 27 Prozent. Trotz dieses Rückgangs hat sich der relative Abstand zu den Jugendlichen mit Hauptschulabschluss erhöht. In der 1930er-Kohorte blieben junge Männer ohne Schulabschluss etwa anderthalbmal so häufig auch ohne Ausbildungsabschluss wie Abgänger mit einem Hauptschulabschluss. In den Geburtskohorten 1964/71 war das Risiko jedoch fünfeinhalbmal so hoch. Für weibliche Schulabgänger ohne Schulabschluss zeichnet sich mit der generell angestiegenen Bildungsbeteiligung von jungen Frauen ein anderes Bild. Absolut betrachtet sank der Anteil von Frauen ohne abgeschlossene Ausbildung bei dieser Gruppe von gut 80 Prozent auf ca. 32 Prozent. Gleichwohl hat sich ihr relativer Abstand zu den Schulabgängerinnen mit Hauptschulabschluss unwesentlich erhöht; früher wie heute ist das Risiko von Frauen ohne Schulabschluss, keine Ausbildung abzuschließen, etwa doppelt so hoch wie bei jungen Frauen mit Hauptschulabschluss. Dieser geringe Abstand von Frauen ohne und mitHauptschulabschluss spiegelt allerdings den bekannten Sachverhalt wider, dass Mädchen mit Hauptschulabschluss deutlich schlechtere Ausbildungschancen haben als Jungen mit vergleichbarer Schulbildung, und ist damit nicht Ausdruck eines 'Erfolgs' der jungen Frauen ohne Schulabschluss.

Abschließend bleibt zu fragen, welchen "Wert" die erworbene Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt hat. Jugendliche ohne Schulabschluss, die eine abgeschlossene Ausbildung vorweisen können, tragen ein deutlich höheres Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, als Ausgebildete mit einem Hauptschul- oder höheren Schulabschluss. Eine Ursache dafür ist, dass ihnen nur die so genannten Behindertenberufe sowie ein sehr kleines Segment an Ausbildungsberufen im Handwerk, in der Landwirtschaft sowie in der Hauswirtschaft im städtischen Bereich offen stehen. Diese Berufe gehören jedoch heute mehrheitlich zu den besonders beschäftigungsinstabilen, schrumpfenden und stärker von Arbeitslosigkeit bedrohten Branchen. Zudem absolvieren die Jugendlichen ihre Ausbildung hauptsächlich in Kleinbetrieben mit einer deutlich geringeren Übernahmequote oder in außerbetrieblichen Einrichtungen.

IV. Diskontinuierliche Erwerbskarrieren

Wie gestaltet sich nun der Übergang in den Arbeitsmarkt und die Erwerbsbiografie dieser Jugendlichen (bis zum 25. Lebensjahr)? Abbildung 4 zeigt, dass der Arbeitsmarkteinstieg von Jugendlichen ohne Schulabschluss heute deutlich später erfolgt als früher. Während in der 1930er-Kohorte die ersten 50 Prozent im Alter von bis zu 16 Jahren und 5 Monaten eine Erwerbstätigkeit aufnahmen, erfolgte der Berufseinstieg in der 1964/1971er-Kohorte im Alter von bis zu 20 Jahren und 7Monaten. Das ist im Kohortenvergleich ein Unterschied von mehr als 4 Jahren.

Auch im Vergleich zu Schulabgängern mit Hauptschulabschluss findet der Erwerbseinstieg von Jugendlichen ohne Schulabschluss heute deutlich später statt - obgleich Erstere vor ihrer ersten Berufstätigkeit weit häufiger eine reguläre, zwei- bis dreijährige Ausbildung absolvierten. Von den Schulentlassenen mit einem Hauptschulabschluss (der Geburtskohorten 1964/1971) begann die Hälfte ihren ersten Job bereits im Alter von bis zu 19 Jahren und zwei Monaten. Das sind 17 Monate, also fast anderthalb Jahre früher. Dieser Unterschied zwischen Jugendlichen ohne und mit Hauptschulabschluss zeigt sich allerdings erst ab den Geburtsjahrgängen 1964 und 1971. In der 1930er- und 1940/1950er-Kohorte erfolgte ihr Arbeitsmarkteinstieg in der Regel noch ein halbes Jahr vor den Schulabgängern mit Hauptschulabschluss, bei der 1955/1960er-Kohorte fand er etwa zeitgleich statt. Beim Einstiegsalter von männlichen und weiblichen Jugendlichen ohne Schulabschluss gibt es in der Kohorte 1964/71 keinen großen Unterschied. Männer nehmen ihre erste mindestens sechsmonatige Erwerbstätigkeit in der Regel ein halbes Jahr früher auf als Frauen.

In Anbetracht ihrer Beteiligung an Maßnahmen der Berufsvorbereitung und -bildung sowie ihres -milde formuliert - 'verspäteten' Erwerbseinstiegs zeigt sich bei Personen ohne Schulabschluss folgendes Gesamtbild: In der 1964/71er-Kohorte waren 16Prozent der Männer ohne Schulabschluss zwischen dem Verlassen der Schule und dem 25.Lebensjahr länger als 12 Monate arbeitslos, d.h., sie waren weder erwerbstätig noch in Schule, Berufsvorbereitung, Ausbildung oder beim Wehrdienst. Dieser Anteil hat sich über die Kohorten hinweg erhöht. In den beiden älteren Kohorten waren es dagegen nur 6 und 11 Prozent (die 1930er-Kohorte sei hier wegen der Nachkriegswirren von dem Vergleich ausgenommen). Damit ist das Risiko, arbeitslos zu werden, für diese Jugendlichen heute deutlich größer. Bei den Frauen ohne Schulabschluss hat die Nichterwerbstätigkeit zwar über die Kohorten hinweg abgenommen, ist aber mit 28 Prozent immer noch sehr hoch (Gleiches gilt allerdings auch für Frauen, die lediglich einen Hauptschulabschluss besitzen).

Von den Geburtsjahrgängen 1964 und 1971 waren im Ergebnis 25 Prozent der Männer und Frauen ohne Schulabschluss zwischen dem Verlassen der Schule und dem 25. Lebensjahr (in der Regel eine Spanne von ca. sechs bis sieben Jahren) weniger als zwei Jahre erwerbstätig. Dieser Anteil hat sich im Kohortenvergleich deutlich erhöht (bei den Männern von 5 auf 26 Prozent, bei den Frauen von 11 auf 25 Prozent). Auch im Vergleich zu den Jugendlichen mit Hauptschulabschluss ist er überproportional angestiegen. Zudem hat sich der Anteil derjenigen, die zum Zeitpunkt des Interviews (siehe Angaben in Abbildung 2) noch nie erwerbstätig waren, gleichfalls stark erhöht. In der Kohorte 1964/71 sind sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen ohne Schulabschluss immerhin ca. 13 Prozent noch nie einer mindestens sechsmonatigen Erwerbstätigkeit nachgegangen (bei den Personen mit Hauptschulabschluss und mittlerer Reife waren es nur vier Prozent). In der 1955/1960er-Kohorte (mit einem vergleichbaren Alter zum Zeitpunkt des Interviews) traf dies hingegen nur auf wenige Männer und nur sieben Prozent Frauen zu.

Damit wirkt sich für eine größere Zahl der Jugendlichen die soziale Herkunft nicht nur in der Schule, sondern auch im Ausbildungssystem und letztlich im Erwerbssystem nachteilig aus. Auf Grund ihrer geringeren Abschlussquote sowie ihrer eher beschäftigungsinstabilen Berufe ist das Risiko einer diskontinuierlichen Erwerbskarriere - einfache Beschäftigung und sich wiederholende Arbeitslosigkeit - oder einer generellen Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt bei ihnen deutlich größer.

V. Abschließende Bemerkungen

Die präsentierten Befunde zeigen, dass auch Jugendliche ohne Schulabschluss in immer stärkerem Maße an den in Deutschland linear konzipierten und hochgradig institutionalisierten Bildungs- und Qualifizierungslaufbahnen teilnehmen. Für viele von ihnen bedeutet dies jedoch eine "Maßnahmekarriere": Die Wettbewerbsfähigkeit dieser Jugendlichen erhöht sich durch diese Sondermaßnahmen nur wenig, da es sich nicht um alternative Übergangspfade handelt. Die Integration in das berufliche Bildungssystem stellt daher für viele eine Verlängerung der "institutionellen Aussonderung" in der Schule dar; dies kann - aufgrund des Etiketts der fehlenden Schul- und überproportional häufig fehlenden Ausbildungsabschlüsse - paradoxerweise die Gefahren ihrer Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt erhöhen.

Abschließend ist anzumerken, dass dieses pessimistische Bild überzeichnet sein könnte. So gibt es eine signifikante Zahl von Jugendlichen, denen ein erfolgreicher Einstieg ins Erwerbsleben gelingt - nämlich jenen, die durch oder ohne das Nachholen eines Schulabschlusses in eine etwas höherwertige Ausbildung einmünden und auf dieser Basis ein relativ kontinuierliches Erwerbsleben aufweisen. Von den Jugendlichen der Geburtsjahrgänge 1964/71 sind dies aber - soweit es sich aus den Erwerbsbiografien bis zum 25. Lebensjahr prognostizieren lässt - weniger als 40 Prozent. Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass hier nur von westdeutschen Jugendlichen berichtet wurde und Schulentlassene (-abgänger) von Sonderschulen in den verwendeten Daten deutlich unterrepräsentiert sind. Die bekannten Befunde zu den Übergangsmustern von Migrantenjugendlichen (-kindern) und Sonderschulentlassenen legen nahe, dass diese es deutlich schwerer haben als die hier betrachteten Jugendlichen. Angesichts der angespannten Lage auf dem ostdeutschen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ist ebenfalls für ostdeutsche Jugendliche ohne Schulabschluss von sehr prekären Übergangsbiografien auszugehen. Insofern ist es umgekehrt wahrscheinlich, dass in diesem Beitrag - aufgrund der Nichtberücksichtigung dieser problematischen Personengruppen - die Schwierigkeiten von Jugendliche ohne Schulabschluss unterschätzt wurden.

Relevante Internetseiten:

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Asa Murray/Hilary Steedman, Growing Skills in Europe (TSER Discussion paper, Nr. 399), London 1998.

  2. Vgl. Heike Solga, Jugendliche ohne Schulabschluss und ihre Wege in den Arbeitsmarkt, in: Kai U. Schnabel u.a. (Hrsg.), Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick, Reinbek (i.E.); Hartmut Willand, Zur Ausbildungs- und Beschäftigungssituation Jugendlicher mit niedrigem schulischen Qualifikationsniveau, in: Didaktik der Berufs- und Arbeitswelt, 6 (1987) 3 - 4, S. 43 - 67.

  3. Es handelt sich dabei um die Daten des Projekts "Lebensverläufe und gesellschaftlicher Wandel" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Leitung der Studie: Karl Ulrich Mayer). Überdies werden die Daten der Studie "Ausbildungs- und Berufsverläufe in Westdeutschland" für die Geburtsjahrgänge 1964 und 1971 verwendet. Diese Untersuchung wurde vom MPIfB und dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) gemeinsam durchgeführt. Letzteres erhielt dafür auch Mittel des Europäischen Sozialfonds. Für weitere Informationen siehe (http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/bag/projekte/frg.htm sowie http:/ /www.mpib-berlin.mpg.de / de / forschung / bag / projekte / occupation.htm).

  4. Ostdeutschland wird nicht behandelt, da hier der historische Vergleich für die vergangenen 50 Jahre im Vordergrund steht. Für Analysen zu gering qualifizierten Jugendlichen in der DDR vgl. Kai Maaz, Ohne Ausbildungsabschluss in der BRD und DDR: Berufszugang und die erste Phase der Erwerbsbiographie von Ungelernten in den 1980er Jahren (Arbeitsbericht 3/2002 der Selbstständigen Nachwuchsgruppe "Ausbildungslosigkeit" des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung), zu finden unter: (http://www.mpib-berlin.mpg.de/de/forschung/nwg/).

  5. Für einige Analysen zu Migrantenjugendlichen vgl. H.Solga (Anm. 2).

  6. Vgl. BIBB/EMNID, Jugendliche ohne Berufsausbildung. Eine BIBB/EMNID-Untersuchung, Bonn 1999.

  7. Doch auch Schulentlassene mit (nur) einem Hauptschulabschluss sind 'Außenseiter' des deutschen Schulsystems geworden. Ihr Anteil hat sich von 60 Prozent im Jahr 1965 auf nur noch 26 Prozent drastisch verringert.

  8. In den ostdeutschen Bundesländern kommen sie in größerem Umfang auch von Schulen mit mehreren Bildungsgängen, da die Hauptschule in einigen ostdeutschen Bundesländern nicht eingeführt wurde. Vgl. H. Solga (Anm. 2).

  9. Vgl. BA/BIBB, Grundzählungen der Befragung von Bewerberinnen und Bewerbern nach Ausbildungsstellen differenziert nach Geschlecht und Schulabschluss, 2002, Online: (http://www.bibb .de/forum/projekte/erste_schwell/6_2002/geschlecht_schule.pdf, Download: 17.09.2002).

  10. Martin Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, in: Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, Frankfurt/M. 1994, S. 221.

  11. Dies galt zumindest bis zum Zeitpunkt des Interviews, siehe Angaben in Abbildung 2.

  12. BIBB, Förderung von Benachteiligten in der Berufsbildung, Bonn 2002, Online: (http://www.bibb .de/aufgaben/arbfeld/benachteiligt/benachteiligt2.htm, Download: 17.09. 2002).

  13. Frank Braun, Jugendarbeitslosigkeit und Benachteiligtenförderung, in: Rudolf Tippelt (Hrsg.), Handbuch Bildungsforschung, Opladen 2002, S. 768.

  14. Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000, S. 411.

  15. Vgl. Lothar Lappe/Christine Preiß/Erich Raab, Fehlstart in den Beruf?, in: DJI Bulletin, 38 (1996), S. 8 - 11.

  16. Vgl. Heike Solga/Sandra Wagner, Paradoxie der Bildungsexpansion: Die doppelte Benachteiligung von Hauptschülern, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 4 (2001) 1, S. 107 - 127.

  17. Karin Schober-Gottwald, Jugendliche ohne Berufsausbildung, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 9 (1976) 2, S. 174 - 196.

  18. Vgl. Tilly Lex, Berufswege Jugendlicher zwischen Integration und Ausgrenzung, München 1997, S. 232f.

  19. Vgl. Hans Dietrich, JUMP - das Jugendsofortprogramm. Unterschiede in den Förderjahren 1999 und 2000 und der Verbleib der Teilnehmer nach Maßnahmeende (IAB-Werkstattbericht, Nr. 3), Nürnberg 2001, S. 18.

  20. Barbara Stauber/Andreas Walther, Institutionelle Risiken sozialer Ausgrenzung im deutschen Übergangssystem. Nationaler Bericht für Deutschland zum TSER-Projekt "Misleading Trajectories", Tübingen 1999, S. 55. Online verfügbar unter: (http://www.iris-egris.de/pdfs/tser-bericht-deutschland.pdf; abgefragt am 10.09.2002).

  21. Vgl. Walter R. Heinz, Arbeit, Beruf und Lebenslauf, Weinheim 1995; ders., Soziale Benachteiligung und berufliche Förderung Jugendlicher im regionalen und internationalen Vergleich, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 92 (1996) 2, S. 151 - 161.

  22. Vgl. die Analysen in Alexander Reinberg/Ulrich Walwei, Qualifizierungspotenziale von "Nicht-formal-Qualifizierten" (IAB Werkstattbericht, Nr. 10), Nürnberg, 15.11.2000, S. 33.

  23. Vgl. H. Solga (Anm. 2).

  24. Zur Erinnerung: Der durchschnittliche Altersunterschied bei den einzelnen Kohorten bei Schulende betrug etwa zwei Jahre.

  25. Gemessen anhand der Indikatoren 1. abgeschlossene Berufsausbildung bis zum Alter von 25 Jahren; 2. zwischen dem Verlassen der Schule und dem 25. Lebensjahr länger als ein Jahr erwerbstätig und 3. weniger als 7 Monate arbeitslos.

  26. Anmerkung der Redaktion: Siehe hierzu den Beitrag von Cornelia Kristen in dieser Ausgabe.

Dr. phil., geb. 1964; Leiterin der Selbständigen Nachwuchsgruppe "Ausbildungslosigkeit: Bedingungen und Folgen mangelnder Berufsausbildung" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.
Anschrift: MPI für Bildungsforschung, Lentzeallee 94, 14195 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: solga@mpib-berlin.mpg.de

Veröffentlichungen zu den Themen gering qualifizierter junger Erwachsener sowie zum ostdeutschen Arbeitsmarkt.