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Zeitlupenland Deutschland? Zum Vollzugsdefizit wirtschaftspolitischer Reformen

Peter Franz Stefan Immerfall Stefan Peter / Immerfall Franz

/ 15 Minuten zu lesen

Die rot-grüne Bundesregierung war 1998 mit großem Reformeifer angetreten. Im Verlauf der Regierungsarbeit muss dieser wohl abhanden gekommen sein, vermuten Peter Franz und Stefan Immerfall.

Einleitung

Noch vor fünf Jahren haben die beiden Autoren dieses Beitrags relativ hoffnungsvoll von der Reformfähigkeit am "Standort Deutschland" gesprochen. Ebenfalls vor vier Jahren ist eine rot-grüne Regierung mit dem selbstbewussten Anspruch angetreten, sich des Mehltaus und der Verkrustungen der Kohl-Ära zu entledigen und - zumindest anfangs - im Gleichklang mit reformorientierten Ideen der britischen Labour Party zur "Neuen Mitte" und zu einer stärker moderierenden Rolle des Staates ein neues Staatsverständnis zu justieren. Vieles wurde auf den Weg gebracht: Bisherige Tabus, namentlich bei der Zuwanderung oder der Regelung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, angefasst, der Einstieg in die kapitalgedeckte Rentenversicherung geschafft, erste Fortschritte in der Steuerreform und Haushaltskonsolidierung erzielt und die internationale Rolle Deutschlands neu bestimmt. Und dennoch verfestigte sich schon vor dem Ende der ersten und verstärkt mit Beginn der zweiten Legislaturperiode für diese rot-grüne Koalition in der Bevölkerung und bei Beobachtern der Eindruck, dass der Reformstau anhält und wesentliche Aufgaben nicht verrichtet worden sind. Dieser Eindruck wird in den letzten Monaten noch verstärkt durch eine Art "Torschlusspanik", dass es für manche Reformen bald zu spät sein könnte, wenn nicht heute oder in allernächster Zeit gehandelt würde.

Mit Blick auf die 1998 von uns aufgestellte Liste der Schwächen des "Modells Deutschland" ist festzuhalten, dass aus heutiger Sicht kein Einziger der monierten Punkte als erledigt angesehen werden kann. Seine Schwächen sind jedoch seit Jahrzehnten ebenso bekannt und im Wesentlichen die Gleichen wie die angebotenen Rezepte. Somit handelt es sich nicht um ein Erkenntnis-, sondern um ein Umsetzungsproblem. Natürlich sind nicht alle Notlagen hausgemacht, aber seit Jahren hinkt Deutschland vergleichbaren Volkswirtschaften in der Wirtschaftsdynamik hinterher, und seit noch längerer Zeit braucht Deutschland mehr Wirtschaftswachstum, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Ähnlich düster sieht es im internationalen Vergleich mit anderen Wohlstandsindikatoren aus.

Selbst den Ruf als "Reiseweltmeister" droht Deutschland zu verlieren. Es liegt auf der Hand, dass der Mangel an Reformwillen und Reformtempo die magere ökonomische Performanz beeinflusst. Während so unterschiedliche Länder wie Schweden oder Großbritannien heute die Früchte großen Veränderungswillens ernten können, werden deutsche Wahlkämpfe mit dem Versprechen geführt, Reformen seien entweder nicht nötig oder weitgehend kostenlos zu haben. Diese Unbeweglichkeit legt das Bild von einem Land nahe, das wie gefesselt erscheint und auf die Herausforderungen in seiner Umwelt nur noch zeitlupenhaft reagieren kann. Die wichtigsten dieser "Fesselungskräfte" sollen im Folgenden etwas genauer betrachtet werden: die Komplexität eines im Verlauf von 50 Jahren ausgebauten und verästelten Systems namens "Modell Deutschland", die Machtbalance der bundesrepublikanischen politischen Institutionen und die Eigenheiten der seit 1998 auf der Bundesebene politisch verantwortlichen Akteure. Abschließend werden die gegenwärtigen Reformchancen eingeschätzt.

I. Reformwillen und Systemkomplexität

Alle Anzeichen sprechen dafür, dass die rot-grüne Koalition 1998 mit einem großen Reformwillen in die Regierungsgeschäfte eingestiegen war. Dass bereits drei Jahre später die "Politik der ruhigen Hand" zumindest vorübergehend als Leitlinie ausgegeben wurde, verweist darauf, dass der ursprüngliche Reformeifer im Verlauf der Regierungsarbeit gebrochen wurde, jedenfalls abhanden kam. Unsere These lautet, dass dies primär nicht den Strategieentscheidungen bestimmter Personen, sondern der "Macht der Verhältnisse" geschuldet ist. Regierungen müssen sich in ihrer Arbeit nur noch selten mit der Gestaltung ungeregelter Verhältnisse befassen, dafür haben sie es um so häufiger mit den Folgen selbst (oder durch die Vorgängerregierung) erlassener Gesetze und Entscheidungen zu tun. Als Summe hundertfacher Einzelentscheidungen ist im Laufe der Zeit ein System hoher Komplexität entstanden, das mit jeder Satzung, jedem Erlass ständig noch verfeinert und angereichert wird.

Seine extremste Ausformung dürfte in der derzeitigen Steuergesetzgebung zu beobachten sein. Die Sozialversicherungen gleichen einem undurchsichtigen Verschiebebahnhof. Wie Trampusch ausführt, können Leistungskürzungen das glatte Gegenteil des Gewollten - nämlich Beitragssatzanhebungen - bewirken. Diese hohe Komplexität erhöht zum einen den Schwierigkeitsgrad, bei neu hinzukommenden Regelungen zu beurteilen, wie widerspruchsfrei sie sich in den Kanon bestehender Regelungen einordnen (Aspekt der Kompatibilität). Zum andern werden aufgrund der gestiegenen Komplexität Voraussagen darüber immer unsicherer, welche Verhaltensreaktionen und -strategien von den vom jeweiligen Gesetz angesprochenen Zielgruppen und Betroffenen entwickelt werden (Aspekt der Prognosesicherheit). Die Handlungsoptionen und strategischen Fähigkeiten (auch: "Schlupflöcher") von Bürgern gehen in der Regel über die Vorstellungskraft der Gesetzesmacher hinaus. Reformen bräuchten ein umfassendes Gesamtkonzept, weil die verschiedenen wirtschaftspolitisch bedeutsamen Systeme (Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik) wechselseitig gekoppelt sind; die Notwendigkeit eines Gesamtkonzeptes macht Reformen wiederum unwahrscheinlicher.

Trotz einer lautstarken Opposition und intensivem Lobbying der Interessenverbände beschleicht einen mehr und mehr die Vermutung, dass der wahre Gegner regierungsseitigen Reformwillens nicht die politischen Opponenten sind, sondern das System von Regelungen, Satzungen und Gesetzen selbst, das insgesamt das "Modell Deutschland" ausmacht. Dieses System gebiert den Anpassungsbedarf (z.B. in der Rentenversicherung) und damit den politischen Handlungsbedarf (Veränderung des Beitragssatzes zur Rentenversicherung) aus sich heraus, hält die Politiker in Atem und gibt ihnen die Illusion, produktive Politik zu machen. Manche Regelungen - wie z.B. der Kündigungsschutz - werden als so unveränderbar wahrgenommen, dass unter hohem Aufwand neue Möglichkeiten gesucht werden, um diese versäulten - d.h. als kaum noch veränderbar wahrgenommenen (wie z.B. das Berufsbeamtentum) - Regelungen zu umgehen. Selbst wenn - beispielsweise - der Kündigungsschutz einmal geändert werden sollte, stehen mit Bundesverfassungs-, Bundessozial- und Bundesarbeitsgericht weitere Veto-Akteure bereit, und Arbeitsgerichte könnten mit widersprüchlichen Urteilen die vom Gesetzgeber intendierten Effekte ungewollt unterlaufen.

Mit anderen Worten: Die Regierung versteht sich inzwischen teilweise selbst als Opposition innerhalb und gegen das eigene und das vorgefundene System. An Länge und Umständlichkeit zunehmende Gesetzesbezeichnungen sind nur ein Hinweis unter anderem darauf, dass diejenigen, die (wie weiland die sieben Schwaben) hochmotiviert ausgezogen sind, den Reformstau der Kohl-Ära aufzulösen, durch nichtintendierte Nebenfolgen ihrer eigenen Eingriffe zunächst zu korrigierenden Folge-Eingriffen gezwungen, dann verunsichert, verstört und schließlich konfliktscheu geworden sind.

Nicht zufällig steigt angesichts der Systemkomplexität die Zahl eingesetzter Kommissionen, die aufgrund wissenschaftlicher Expertise gangbare Wege für politische Maßnahmen finden sollen. Aber noch interessieren sich die Regierung und ihre Kommissionen insgesamt zu wenig dafür, ob und in welcher Weise die von den Maßnahmen betroffenen Akteure - Steuerzahler, Unternehmen, Anspruchsberechtigte - strategisch auf neue Vorgaben reagieren und deren Absichten durchkreuzen könnten. Eine Ausnahme bildet der Berliner Senat, der neuerdings vor dem Einbringen neuer Gesetze die Vorhaben im Rahmen einer Gesetzesfolgenabschätzung von Experten prüfen lassen will.

Die Problemseiten des "Modells Deutschland" sind aus der Binnensicht allein sehr schwer zu erkennen. Gerade deshalb ist der genaue Blick auf die Lösungen unserer erfolgreicheren Nachbarn so wichtig. Beobachter und Kommentatoren aus dem Ausland weisen seit Jahren auf die Schwachstellen dieses Modells hin und messen seine Ergebnisse an den Problemlösungen anderer Staaten. Für Rückmeldungen und Problemortung von nicht zu überschätzender Bedeutung sind auch die Signale, die vom Verlauf der deutschen Vereinigung ausgehen. Hier zeigt sich wiederholt, dass viele über Jahre hinweg ausdifferenzierte und am sorgfältigen Interessenausgleich orientierte Verordnungen den notwendigen schnellen Aufbau der Basisstrukturen für Wirtschaftsaktivitäten behindert haben und noch behindern. Hinzu kommt, dass anwendungsunsicheres und Handlungsspielräume zu wenig nutzendes Verwaltungspersonal noch zu häufig unternehmerisches Engagement ausbremst. Jüngst in die politische Diskussion eingebrachte Vorschläge, die Geltung einiger bürokratischer Regelungen für Ostdeutschland auszusetzen, zeigen, dass die Problematik erkannt wird. Doch warum soll erst einmal nur Ostdeutschland von dieser Erkenntnis profitieren? Wäre es nicht besser, als bürokratische Auswüchse erkannte Regelungen auch gleich in ganz Deutschland abzuschaffen?

II. Ein Modell mit eingebautem Reformstau

Schachpartien zwischen Spielern, die sich gut kennen, enden häufig mit einem Patt oder einemRemis. Solchen miteinander vertrauten Spielern entsprechen in der Politik die Interessengruppen, welche sich im "Modell Deutschland" im Laufe wiederholter Auseinandersetzungen ihre Zuständigkeitsräume und Einflusssphären erkämpft und abgesteckt haben. Die Politikwissenschaft kennzeichnet diesen Zustand als "korporatistischen Staat". In diesem ausbalancierten Machtgebäude nehmen die Verbände der Arbeitgeber und die der Arbeitnehmer (Gewerkschaften, Deutscher Beamtenbund etc.) eine hervorgehobene Stellung ein, da sie im Austausch mit der Bundesregierung und der Arbeitsverwaltung mit über die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen abstimmen und im Rahmen des "Bündnisses für Arbeit" wiederholt versucht wird, sie in das Regierungshandeln einzubinden. Dabei reicht ihr Einfluss weit über die unmittelbare Arbeitsmarktpolitik hinaus. So haben beide Seiten über die Jahre personalintensive Fortbildungswerke aufgebaut, deren Interesse am eigenen Fortbestand allein schon dazu beiträgt, radikale Reformen am Arbeitsmarkt eher zu verzögern. Ähnliches ließe sich für die korporativen Akteure in der Gesundheits- oder der Sozialpolitik sagen.

Franke weist auf den großen Stellenwert hin, den das Leitbild der "sozialen Gerechtigkeit" in diesem System spielt. Tatsächlich lassen sich für viele Regelungen im Einzelnen einleuchtende Begründungen finden. In der Summe ist der Status quo aber häufig "ungerechter" als die meisten der geplanten Reformen, sei es, dass existente Regelungen unterlaufen werden oder dass Regelungsvielfalt letztlich kontraproduktiver und wohlstandsabträglicher ist als ihre Beschneidung. Doch Regulierung ist der Öffentlichkeit leichter zu vermitteln als ihre Beseitigung, weil ihre Folgen scheinbar gewisser zu umreißen sind.

Für eine Regierung mit Reformabsichten ist eine engere Abstimmung mit Arbeitgebern oder Gewerkschaften somit attraktiv, da dies die Durchsetzbarkeit dieser Absichten erhöht. Für die Reform der Unternehmenssteuern näherte sich die Regierung zunächst den Unternehmerverbänden an und suchte im weiteren Verlauf der Legislaturperiode wieder engeren Anschluss an die Gewerkschaftsseite, um die Arbeitnehmerrechte bei der Mitbestimmung, der Arbeitszeitwahl und der befristeten Beschäftigung zu stärken. Dieser stärkere "Schulterschluss" mit den Gewerkschaften ist zumindest für die SPD von ihren historischen Wurzeln her erklärbar. Mit dieser Einbindung einer zentralen Interessengruppe mag das Regierungsboot vorerst die schlimmsten "Legitimationsklippen" umschifft haben - gleichzeitig steigen jedoch die Chancen, dass ein großer Verband, in dem Partikularinteressen organisiert sind, direkten Zugriff auf die zentralen politischen Reformentscheidungen erhält. Damit steigen aber auch die Chancen, eine neue Stufe absurder Ergebnisse reformintendierten Handelns zu erreichen. Die im Rahmen des "Hartz-Konzepts" vorgesehene Nutzung von Zeitarbeitsfirmen als "Brückenbauer" zum ersten Arbeitsmarkt droht vom gewerkschaftlichen Interesse an flächendeckenden und am Prinzip "Gleiche Arbeit - gleicher Lohn!" ausgerichteten Tarifverträgen untergraben zu werden. Sollte die Unterwerfung der Zeitarbeitsbranche unter die gewerkschaftliche Tariflohnpolitik tatsächlich zum einzig greifbaren Ergebnis der Umsetzung des "Hartz-Konzepts" geraten, so käme zumindest in diesem Fall der Reformstillstand im Kleid der Reform daher, und die Regierung geriete - wie der Zauberlehrling bei Goethe - in Gefahr, die Geister, die sie rief, nicht mehr loszuwerden.

III. Rot-Grün: viel Taktik, wenig Strategie

Bislang haben wir unter Bezugnahme auf Bestandteile und Folgewirkungen der deutschen "meso-korporativen Markwirtschaft" argumentiert. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Mit diesem Modell des "mittleren Weges" ist Deutschland lange Zeit gut gefahren. Wir plädieren auch nicht für einen - nach unserer Analyse ohnehin unrealistischen - abrupten Modellwechsel. Indes beinhaltet das "Modell Deutschland", wie andere Wirtschaftsmodelle auch, eine komplex vernetzte Kombination von Eigenschaften, deren Folgewirkungen je nach Rahmenbedingungen und Anforderungen einmal mehr, ein andermal weniger wirtschaftsförderlich sind. Was einst Errungenschaft war, kann sich unter veränderten Umständen als Bremse auswirken. Das dürfte derzeit für die Eigenschaften "Kontinuität, Ausgleich und Absicherung" des "Modells Deutschland" gelten. Veränderungen grundlegender Bestandteile eines bis vor kurzem erfolgreichen Modells sind von Regierungsseite nicht kurzfristig, sondern nur mittelfristig auf der Grundlage strategischer Zukunftsvorstellungen durchzusetzen. Welche "Referenzen" hat die rot-grüne Koalition in dieser Hinsicht vorzuweisen?

Von 1998 an mangelte es der Regierung Schröder an einer längerfristig angelegten Programmatik. Die Rede vom "rot-grünen Projekt" blieb weitgehend eine solche; ebenso unscharf blieb das programmatische Ziel, die ominöse "Neue Mitte" anzusprechen. Da die Grünen zu ihrer Bindung an die SPD keine Alternativen sahen, war ihr Droh- und Innovationspotential gering. Der große Partner aber blieb unter einem gesellschaftspolitisch weitgehend desinteressierten Vorsitzenden im Zweifel auf Besitzstandswahrung fixiert. Der Kanzler hielt es mit seinem Mentor, Altbundesbundeskanzler Helmut Schmidt: "Wer Visionen hat, soll zum Augenarzt gehen." Tatsächlich müssen Pragmatismus und der ständige Blick auf die politische Stimmung weder ehrenrührig, noch zwangsläufig einer effektiven Politik abträglich sein. Anders sieht es in Zeiten des Umbruchs aus. Sie sind gekennzeichnet durch breite Ängste und Unsicherheiten in der Bevölkerung, da die abverlangten Reformopfer klar und spürbar sind, die künftigen Reformerträge aber ungewiss. Für den Einzelnen ist es zunächst rational, sich den Veränderungen zu verweigern, muss er doch befürchten, über Gebühr zur Kasse gebeten zu werden.

Dieses Reformdilemma kann durch politische Führung gelindert werden. Sie besteht darin, langfristige, über den Wahltag hinausreichende Orientierungen zu geben und aufzuzeigen, wie konkrete, auch schmerzhafte Einzelmaßnahmen sich zu einem Reformpaket bündeln, von dem mittelfristig die Mehrzahl der Bürger profitieren wird. Von einer solchen Überzeugungsarbeit war bei der Regierung Schröder bisher wenig zu spüren. Ein langfristiges gesellschaftspolitisches Ziel war hinter ihren rasch wechselnden Anstrengungen, jeweils aufbrechende Problematiken zu bearbeiten, nicht zu erkennen.

Mit seiner pragmatischen Orientierung und wahltaktischen Wendigkeit hat der Wahlkämpfer Schröder die Bundestagswahl 2002 noch einmal zu seinen Gunsten entscheiden können. Dies wurde dadurch begünstigt, dass auch Herausforderer Stoiber nicht mit einem echten Reformkonzept angetreten war. Beide Kandidaten waren sich darin einig, der Bevölkerung nicht zuviel zuzumuten, um möglichst keine Wahlchancen einzubüßen. Schröder wie Stoiber haben es vermieden, für die Zukunftsfähigkeit des Landes notwendige Einschnitte klar anzusprechen und anzukündigen. Auf den Vorwurf mangelnder Reformbereitschaft entgegnete Stoiber: "Ich habe noch keine Massendemonstration erlebt mit Plakaten: Ich will vom Joch der sozialen Sicherungssysteme befreit werden." Und der Kanzler erklärte im ersten "Fernsehduell" während des Wahlkampfs auf die Frage, warum die arbeitsmarktpolitischen Reformkonzepte so spät unterbreitet worden seien, dass in diesem Land ohne großen Problemdruck nichts geschehe.

Da beide Kandidaten kein Zeichen gesellschaftspolitischer Führungsfähigkeit gesetzt haben, darf das Ergebnis der Bundestagswahl somit nicht als ein Plebiszit gegen Reformen verstanden werden - aber auch nicht als Votum dafür! Es dürfte wohl eher die Grundüberzeugung der Wähler gewesen sein, die Opposition könne die Probleme des Landes auch nicht besser als die bisherige Regierung lösen, welche Rot-Grün eine zweite Chance beschert hat. Große Teile der Bevölkerung haben seit langem erkannt, dass Deutschland großen Reformbedarf hat. Andererseits ist die Bereitschaft, Einsparungen und geringere Sicherheit im persönlichen Bereich hinzunehmen - beim Gehalt, bei der Rente oder beim Kündigungsschutz -, begrenzt. Dies ist angesichts des angedeuteten Reformdilemmas verständlich, noch dazu, wenn der Ruf nach mehr Reformen und Flexibilität überwiegend aus dem Mund wohlbestallter Professoren und hochdotierter Manager erschallt. Wer will unter diesen Umständen schon freiwillig mit dem Sparen bei sich selbst anfangen?

IV. Auswege aus dem Reformpatt?

Steigender Reformdruck führt nicht zwingend zu Reformen. Hölderlins schöner Satz, wo aber Gefahr ist, wachse das Rettende auch, gilt nicht für politische und soziale Systeme. Oft haben es sich ihre Akteure so eingerichtet, dass sich Beharrung mehr auszahlt als Veränderung. Ist mit obiger (Kurz-)Diagnose die Reformunfähigkeit Deutschlands besiegelt, die Lage aussichtslos? Es fällt nicht schwer, den Zynismus angesichts des derzeitigen Regierungshandelns in neue Dimensionen zu treiben, doch bliebe es dabei, wäre dies gleichzeitig das Eingeständnis, selbst nicht weiter zu wissen und auf das Bemühen um die Zukunftsgestaltung zu verzichten. Gegen diesen Reformfatalismus versuchen wir Stellung zu beziehen. Die Überlegungen stützen sich weniger auf die Hoffnung auf einsichtige Akteure, sondern mehr darauf, dass strukturelle Veränderungen - wie z.B. bei den Grundlagen des Parteienwettbewerbs - neue Reformchancen eröffnen.

Parteien reagieren in erster Linie auf reale oder drohende Wahlniederlagen. Die Beschränkungen, die vom Kampf um Wählerstimmen auf eine innovative Wirtschaftspolitik ausgehen, scheinen in der Bundesrepublik besonders groß. Möglicherweise sind wir aber derzeit an einem Wendepunkt angelangt. Bei den jüngsten Wahlen wurden nicht unpopuläre Maßnahmen, sondern Tatenlosigkeit bestraft. Warnfried Dettling hat darauf hingewiesen, dass niemand den schon vor Niedersachsen und Hessen augenscheinlichen Niedergang der SPD als Quittung für zu viel Reformeifer interpretierte. Der Kanzler steht mit dem Rücken zur Wand und könnte gerade aufgrund seiner Orientierung an kurzfristig erzielbaren Erfolgen versucht sein, sich hieraus mit einer Flucht nach vorn zu befreien. Dies würde bedeuten, die langwierige Konsenssuche mit den Interessengruppen vorläufig aufzugeben und sich demonstrativ an die Spitze der Reformstimmung zu setzen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass ein solcher Befreiungsversuch diesmal nicht an der föderalen Entscheidungsblockade scheitern würde. Denn auch die Union musste erkennen, dass ihr Bundestagswahlkampf nach dem Motto "Allen wohl und niemand wehe" nicht belohnt wurde. Somit können beide Lager nicht länger sicher sein, dass schlaue Zurückhaltung mehr Wählerstimmen bringen wird als forcierter Reformeifer.

Während regierungsseitig vieles dafür spricht, dass die rot-grüne Koalition ihre Regierungsfähigkeit mittels Umsetzung von Reformen unter Beweis stellen muss, um zukünftig überhaupt noch Wahlchancen zu haben, stellt sich für die Union das alte "Dilemma der Opposition" verändert dar: Einerseits muss sie befürchten, dass Zusammenarbeit mit der Regierung bei der Lösung lang anstehender Probleme die Popularität der Regierungsparteien steigert, weil die Wähler allgemein dazu neigen, Erfolge der Regierung zuzurechnen. Aber noch größer erscheint derzeit das Risiko, als Blockierer gebrandmarkt zu werden, wenn sie sich im Bundesrat Gesetzesvorhaben der Regierung verweigert. Unter dem faktischen Zwang zu einer Art großen Koalition könnte der Bundesrat ausnahmsweise nicht als Veto-Akteur, sondern als Verstärker für die Erweiterung des Reformkorridors auftreten. Vieles spricht dafür, dass sich mit dieser neuen Konstellation ein kurzes Zeitfenster für die erfolgreiche Umsetzung von Reformvorhaben eröffnet.

Hinzu kommt, dass jüngst gerade unter den Hochqualifizierten die Arbeitslosigkeit stark gestiegen ist. Diese Bevölkerungsgruppe verfügt über einen besseren Zugang zu den Massenmedien als Arbeiter und angelernte Kräfte. Deshalb ist zu erwarten, dass Arbeitslosigkeit in den Medien wieder mehr Beachtung finden und den Ruf nach Reformen verstärken wird. Eine neue Protestbereitschaft mittelständischer Unternehmer hat sogar die von Stoiber nicht für möglich gehaltenen Demonstrationen - mit mehreren tausend Teilnehmern - gegen Lohnnebenkosten, Steuerabgaben und Bürokratie Wahrheit werden lassen. Ob die Veränderungen im politischen Kalkül der Parteien, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und in den Einstellungen von Teilen der Bevölkerung insgesamt ausreichen, um die oben beschriebenen "Fesselungskräfte" zu überwinden, ist zu wünschen - darauf zu wetten, wäre nach wie vor mit hohem Risiko verbunden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. "Zu hoffen ist, dass das Modell Deutschland flexibel genug bleibt, auf Schwächen zu reagieren, ohne Selbstgerechtigkeit, doch mit Selbstbewusstsein." Stefan Immerfall/Peter Franz, Standort Deutschland in der Bewährungsprobe. Seine Stärken und Schwächen im weltweiten Strukturwandel, Opladen 1998, S. 117.

  2. Vgl. Survey of Germany, in: The Economist vom 5. 12. 2002; Deutschland hat ein Imageproblem, in: Handelsblatt vom 6. 1. 2003, S. 3.

  3. Aufgelistet wurde damals u.a., dass das Flächentarifvertragssystem die beruflichen Wiedereinstiegsinteressen von Arbeitslosen übergehe, dass die zu hohe Regelungsdichte und die Komplexität des Steuersystems sozial ungerechte Mitnahmeeffekte begünstige; kritisiert wurde die Tendenz zu steigenden Lohnnebenkosten aufgrund der Gebundenheit der Einnahmen der Sozialversicherung an Erwerbstätigkeit, die zu kostenträchtige Organisation der politisch-administrativen Einheiten - einschließlich der EU-Ebene - und die zu defensiven Antworten auf die Globalisierung, vgl. S. Immerfall/P. Franz (Anm. 1), S. 105.

  4. Als neuere Beispiele dieser nunmehr seit zwei Jahrzehnten florierenden Literaturgattung vgl. Lars-Hendrik Röller/Christian Wey (Hrsg.), Die soziale Marktwirtschaft in der neuen Weltwirtschaft. WZB-Jahrbuch 2001, Berlin 2001; Klaus Löbbe u.a., Der Standort Deutschland im internationalen Vergleich. Zur Lage der Wettbewerbsfähigkeit, Untersuchungen des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung, Nr. 39, Essen 2002.

  5. Eine Ausnahme stellt die Handelsbilanz dar, wenngleich der Überschuss im Jahr 2002 durch den Einbruch bei den Einfuhren überzeichnet wird; im weltweiten Handel der Industrieländer (OECD-Länder) erzielt Deutschland einen Anteil von 16 Prozent und hat damit sogar die Rekordmarke aus den achtziger Jahren zurückgewonnen. Das zeigt, dass große Teile der Industrie weiterhin hervorragend konkurrenzfähig sind. Auf die Gegensätzlichkeit zwischen der teilweise enormen mikroökonomischen Effizienz der Betriebe und den Defiziten bei den politisch bestimmten makroökonomischen Rahmenbedingungen weist auch Josef Schmid in seinem Beitrag in dieser Beilage hin.

  6. Vgl. den Beitrag von Christine Trampusch in dieser Beilage.

  7. Vgl. auch die Beiträge von Reimut Zohlnhöfer und Christine Trampusch in dieser Beilage.

  8. Vgl. z.B. Gesetz zur Beschleunigung von Genehmigungs-verfahren, Steuervergünstigungsabbau- und Steuerverkür-zungsbekämpfungsgesetz oder Investitionserleichterungsge-setz.

  9. Hier drängt sich die Parallele zum Verhalten von Laborratten auf, deren Verhaltensreaktionen unterschiedslos mit Elektroschocks negativ sanktioniert wurden.

  10. Vgl. dazu den Beitrag von Josef Schmid in dieser Beilage.

  11. Vgl. den Beitrag von Siegfried F. Franke in dieser Beilage.

  12. Manfred G. Schmidt, Die Politik des mittleren Weges. Besonderheiten der Staatstätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 9 - 10/90, S. 23 - 31.

  13. Ausländische Stimmen sprachen von einem Wahlkampf Schroiber versus Schroiber, in: The Economist vom 21. 9. 2002.

  14. So Stoiber in einem Interview, in: Die Zeit vom 25. 7. 2002.

  15. Vgl. Stefan Immerfall, Ist es die Wirtschaft, Dummkopf? Wirtschaftspolitische Kontroversen in der Bundestagswahl und wahrscheinliche Konsequenzen, in: PIN - Politik im Netz (www.politik-im-netz.com), 3. Jg., Ausgabe 17, Rubrik: national, November 2002.

  16. Vgl. Bertram Eisenhauer, Du betrittst eine Welt, die der Schmerz regiert, in: FAZ Sonntagszeitung vom 1. 12. 2002; Klaus-Peter Schöppner, Deutschland bleibt eine große Baustelle. Die Bürger hoffen 2003 auf Reformen, in: Die Welt vom 7. 1. 2003.

  17. Siehe die Beiträge von Reimut Zohlnhöfer und Siegfried F. Franke in dieser Beilage.

  18. Vgl. Warnfried Dettling, Gezeitenwechsel zum Unpopulären? Der Unmut über Schröders SPD als Vorschein weit reichender Veränderungsbereitschaft, in: Die Welt vom 31. 1. 2003.

  19. Siegfried F. Franke, (Ir)rationale Politik? Grundzüge und politische Anwendungen der Ökonomischen Theorie der Politik, Marburg 20002, S. 217.

  20. Vgl. Mittelstand macht seinem Ärger Luft, in: Stuttgarter Zeitung vom 8. 2. 2003.

Dr. rer. pol., Dipl.-Sozialwirt, geb. 1948; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

Anschrift: Institut für Wirtschaftsforschung Halle, Kleine Märkerstr. 8, 06108 Halle.
E-Mail: E-Mail Link: Peter.Franz@iwh-halle.de

Veröffentlichungen u. a.; (zus. mit S. Immerfall) Standort Deutschland in der Bewährungsprobe, 1998; Innovative Milieus als Extrempunkte der Interpenetration vonWirtschafts- und Wissenschaftssystem, 1999; zahlreiche Beiträge zur Wirtschaftsentwicklung ostdeutscher Städte und Regionen.

Dr. phil. habil., Dipl.-Sozialwiss., geb. 1958; Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Anschrift: Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Oberbettringer Str. 200, 73525 Schwäbisch Gmünd.
E-Mail: E-Mail Link: Immerfall@ph-gmuend.de

Veröffentlichungen: zahlreiche Beiträge zur vergleichenden Modernisierungsforschung und zur Politischen Soziologie.