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Italien und Europa | Italien | bpb.de

Italien Editorial Politische Instabilität: die chronische Krankheit Italiens Italienische Verhältnisse 2004 Europas Stiefel drückt und zwickt - Grundprobleme der Wirtschaft Italiens Italien und Europa Die Mediendemokratie und ihre Grenzen - am Beispiel von Berlusconis Italien Regieren und Zivilgesellschaft in Zeiten der Regierung Berlusconi

Italien und Europa Fortdauer eines Verhältnisses von Zwang und Ansporn

Mario Caciagli

/ 18 Minuten zu lesen

Italien ist unverändert europafreundlich. Theorien eines möglichen Isolationismus wird - ohne die eingetretenen Kursveränderungen in der italienischen Außen- und Europapolitik und die wachsende Europaskepsis auf dem Stiefel zu unterschätzen - eine Absage erteilt.

Einleitung

"Hinsichtlich der Europapolitik Italiens scheint mir, dass es eine Kontinuität der pro-europäischen Richtung gibt, die in großem Maße von den parlamentarischen Kräften geteilt wird, und zwar in der vergangenen wie in der jetzigen Legislaturperiode. Nicht zufällig war die italienische Position beim Europäischen Rat in Laeken in sich schlüssig und lag auf derselben Linie, auf der sich der italienische Europäismus schon immer befunden hat. Um diese italienische Position kümmere ich mich übrigens persönlich und stehe diesbezüglich in ständigem Kontakt mit der Regierung (...)." Dieses Zitat stammt aus der Rede, die der Präsident der Italienischen Republik, Carlo Azeglio Ciampi, beim Zusammentreffen mit dem damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni im April 2002 hielt.

Einen Monat später, anlässlich der Verleihung des Karlspreises in Aachen, erinnerte Ciampi an seinen "beruflichen und politischen Einsatz" - zuerst als Chef der italienischen Nationalbank, dann als Ministerpräsident und Finanzminister - für die Schaffung der Einheitswährung und des Europäischen Systems der Zentralbanken. Ciampi unterstrich die Notwendigkeit der Einführung des Euro und lobte diese als einen wichtigen Ausgangspunkt für eine Föderation der Nationalstaaten. In den letzten Jahren hat das italienische Staatsoberhaupt in seinen öffentlichen Reden nie die Gelegenheit versäumt, seinem Glauben an die Integration sowie an die Erweiterung der Europäischen Union und ihre Demokratisierungsfunktion für die Völker des alten Kontinents Ausdruck zu verleihen.

Woher kommt die offenkundige Sorge Ciampis vor Zweifeln an der Integrationswilligkeit seines Landes? Warum kümmert er sich persönlich darum? Warum fühlt er das Bedürfnis des ständigen Kontakts mit der Regierung? Warum versichert er ausdrücklich die Kontinuität der proeuropäischen Richtung in der vergangenen wie in der jetzigen Legislaturperiode? Warum verteidigt er so grundsätzlich den Euro?

Ciampis Einsatz legt die Vermutung nahe, dass sich die traditionelle proeuropäische Haltung der italienischen Regierungen und Regierungsmehrheiten gewandelt hat. Er lässt darauf schließen, dass der Europäismus der italienischen politischen Kräfte und sogar das europäische Zugehörigkeitsgefühl der Italiener schwächer geworden sind. Auf diese Mutmaßungen werde ich später zurückkommen. Zuerst erscheint es mir notwendig, eine kurze Skizze des Verhältnisses Italiens zu Europa im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre zu zeichnen.

Die problematischen neunziger Jahre

Im Jahr 1979 ist Italien dem "Europäischen Währungssystem" (EWS) beigetreten. Dreizehn Jahre später, 1992, musste das Land wegen der massiven Staatsverschuldung, hoher Inflationsraten und der in den achtziger Jahren gescheiterten Fiskalpolitik der italienischen Regierungen wieder aus dem EWS ausscheiden. Nach harten Verhandlungen und noch härteren Bedingungen wurde Italien im November 1996 schließlich aber wieder in das EWS aufgenommen. Die Wiederaufnahme war allerdings noch keine Vorentscheidung für den Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion (EWU) am 1. Januar 1999.

Es gab starke Einwände gegen Italiens Teilnahme an der EWU. Sie waren sicher nicht vollkommen unberechtigt: Italien galt als System, das keine Stabilitätskultur besaß, womit vor allem die Stabilität der Wirtschaft und der Währung gemeint war. Italien galt als Land der Inflation, der Ungleichgewichte und der Staatsdefizite. Die staatlichen Gesamtschulden und noch mehr die vom Maastrichter Vertrag vorgeschriebenen Kriterien für die zulässige Neuverschuldung waren Hindernisse, die Italien scheinbar nicht überwinden konnte.

Italien befand sich in jener dramatischen Phase Anfang der neunziger Jahre in einer seiner schlimmsten Krisen - nicht nur wegen der katastrophalen Staatsfinanzen. Das Land durchlief zugleich eine letale Krise der etablierten Parteien, der unaufhaltsamen Gewalt der Kriminalität und eine Krise sozialer Spannungen. Es war die Zeit des Unterganges der ersten Republik. Hinzu kamen die Probleme des Arbeitsmarktes, des Sozialstaates und schließlich auch der Währung.

In dieser Situation schienen die Verträge von Maastricht so etwas wie eine Totenglocke zu sein, denn die Konvergenzkriterien deuteten auf eine Beschleunigung der Gesamtkrise hin, wie einige Beobachter urteilten. Paradoxerweise war es die politische Krise, mit der Schwächung des Parlaments und dem Abtreten der alten Parteien, die es den so genannten "technischen" Regierungen (Guiliano Amato, Carlo Azeglio Ciampi und Lamberto Dini) erlaubte, scharfe und schmerzliche, aber zugleich mutige und letzten Endes zwingend erforderliche Maßnahmen zu realisieren. 1992 setzte eine langwierige Aktion ein, die unter anderem den Mechanismus der scala mobile abschaffte, eine Lohngleitklausel im Sinne des automatischen Inflationsausgleichs. "Stabilität" wurde plötzlich ein erreichbares Ziel.

Nach dem Scheitern der ersten Regierung Silvio Berlusconi, die nur kurze Zeit amtierte (von Mai bis Dezember 1994), und der Übergangsregierung Lamberto Dini gelangte mit der Parlamentswahl von 1996 die Mitte-links-Koalition des Olivenbaums an die Macht. Diese wurde sich der schwierigen Lage Italiens, was den gewünschten Beitritt zur EWU betraf, im September 1997 vollends bewusst. Die Prüfung der EU für die Teilnahme der Länder an der EWU war für den Frühling 1998 vorgesehen. Die Zeit drängte also. Unter dem harten Kurs des Schatz- und Haushaltsministers Ciampi, der entschiedenen Führung Romano Prodis als Regierungschef und der unbeschränkten Unterstützung aller Partner der parlamentarischen Mehrheit wurden die notwendigen Maßnahmen ergriffen, die Italien letztlich den Beitritt zur EWU erlaubten. Die Haushaltspolitik sowie die partiellen, aber sich durchaus als wirksam erweisenden Deregulierungen und Privatisierungen öffneten dem Land den Weg in die Währungsunion. Der Preis dafür, nämlich Steuererhöhungen, eine "europäische Sondersteuer", das Einfrieren der Gehälter und Spareinschnitte im öffentlichen Haushalt, wurde von den Italienerinnen und Italienern - im Namen Europas - beinahe klaglos akzeptiert.

Ein neuer Kurs unter der Mitte-rechts-Regierung?

Am 1. Januar 2002 wurde die Einführung des Euro-Bargeldes auch in Italien offiziell gefeiert. Seit Mai 2001 ist nun allerdings eine neue Koalition in Rom an der Macht. Unter den vier Partnern, aus denen sich die derzeitige Mitte-rechts-Regierung zusammensetzt, ist nur die der Tradition der ehemaligen Christdemokraten treu gebliebene Unione Democratica Cristiana (UDC) ein sicherer Befürworter der europäischen Integration. Was die anderen drei Partner betrifft, gilt heute mehr denn je das, was ein italienischer Beobachter bereits über die erste Mitte-rechts-Regierung Berlusconi des Jahres 1994 schrieb: "Das (...) Auftreten einer neuen Führung, zusammengesetzt aus Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nazionale, die sich in ihrer Europa-Konzeption sicherlich unterscheiden, aber durch die Tatsache geeint sind, dass die politische Union und die Währungsunion für sie nie eine Priorität darstellte, kann also dazu beitragen, das traditionelle Paar rhetorische Zugehörigkeit und praktische Indifferenz, welche die Haltung einer großen Mehrheit von Italienern zur Europäischen Union charakterisierte, durch eine neue Kombination ideeller Indifferenz und praktischer Feindseligkeit zu ersetzen."

Bei vielen der Hauptfiguren wie auch in der Masse des Parteivolkes der rechten Alleanza Nazionale dominieren in der Tat noch immer nationalistische und antieuropäische Gefühle, die schon Kennzeichen ihrer Herkunftspartei, des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) waren. Um dies vergessen zu lassen, betont Gianfranco Fini, Parteivorsitzender von Alleanza Nazionale und seit 2001 amtierender stellvertretender Ministerpräsident Italiens, immer wieder die europäische Grundüberzeugung seiner Partei und den eigenen Glauben an den Integrationsprozess. Dass Fini Mitglied im Europäischen Verfassungskonvent wurde, sollte nicht zuletzt auch als deutlicher Beweis hierfür dienen.

Die Lega Nord hingegen polemisiert seit langem kontinuierlich und in äußerst scharfer Form gegen die europäische Integration. Nichtsdestoweniger hat sie sich Europas bedient, wenn es ihr politisch nützlich erschien. Als sie 1998 in der Opposition saß, rechnete die Lega Nord damit, dass die Regierung Prodi den Eintritt in die Eurozone verfehlen würde. Nach dem Kalkül der Lega Nord, die zu jener Zeit eine separatistische Position vertrat, hätte der Misserfolg der Regierung die Entfernung Italiens vom so genannten Kerneuropa zur Folge gehabt. Die Option der Teilung Italiens wäre damit in greifbare Nähe gerückt, denn der industrialisierte Norden wollte den Anschluss an den europäischen Zug unter keinen Umständen verpassen. Die Rechnung der Lega Nord ging nicht auf. Nach dem Entritt Italiens in die EWU ließ sie das Ziel des Separatismus rasch fallen und begann nach dem Bruch von 1994 einen Prozess der Wiederannäherung an Berlusconi, was die Rückkehr zur (von ihr gehassten) römischen Macht bedeutete. Trotz der wieder errungenen Regierungsfähigkeit hat die Lega Nord ihre antieuropäische Haltung kaum geändert. In seiner expressiven Sprache, reich an populistischen, bunten Ausdrücken, nennt der charismatische Anführer der Lega, Umberto Bossi, die Union nicht Eurolandia, wie man in Italien bisweilen umgangssprachlich sagt, sondern Forcolandia ("Galgenland") und bezeichnet die "Eurokraten" als "Eurobonzen". Nach Bossi ist die Europäische Union ein Haufen von "Freimaurern, Protestanten und Atheisten", der von der "Hochfinanz" beherrscht werde, wenn nicht sogar von den "Kommunisten". Dementsprechend laut bejubelte er das Scheitern des Verfassungsentwurfs beim EU-Gipfel im Dezember 2003: Die Gefahr des "faschistischen Superstaats", so Bossi, sei damit gebannt. Vor diesem Hintergrund ist der am 19.Juli 2004 vollzogene Wechsel Umberto Bossis von seinem Ministersessel in Rom ins Europäische Parlament nicht ohne Ironie, selbst wenn er krankheitsbedingt war.

Die Lega greift die Ängste der kleinen und mittleren Unternehmer Norditaliens (insbesondere des Nordostens) auf, welche die internationale Konkurrenz und die Invasion neuer Arbeitskräfte fürchten, bzw. entzündet sie selbst oder heizt sie weiter an. Zudem macht sie sich für die Interessen der Bauern und Viehzüchter stark, welche unter dem Druck der Drohung von Sanktionen "der Brüsseler Bürokratie" stehen. Auch deshalb war die Lega entschieden gegen die EU-Erweiterung.

In der Regierungsmannschaft sitzen bzw. saßen weitere bekannte Euroskeptiker. Mit der Lega Nord auf gutem Fuße stehend, hat der inzwischen wegen starker Differenzen in der Koalition von seinem Amt zurückgetretene Forza Italia-Finanzminister Giulio Tremonti immer wieder über die "Vorzüge des Euro" gespottet und diesen als Ursache des Anstiegs der Preise und der neuen finanziellen Not des italienischen Staates bezeichnet. Gegen den Euro und den Maastrichter Vertrag hatte aber schon 1994 der aktuelle Verteidigungsminister Antonio Martino Stellung bezogen, wie er auch bereits damals seine Sorge vor den Folgen der Erweiterung der Union öffentlich gemacht hat. Die italienische Mitte-rechts-Mehrheit war überdies von Beginn an gegen die Einführung eines europäischen Haftbefehls, wegen ihres Misstrauens gegenüber der Justiz. Die Mitte-rechts-Regierung hat sich zudem aus dem europäischen Projekt eines Militär-Airbus zurückgezogen.

Der forcierte Rücktritt des parteilosen Außenministers Renato Ruggiero im Januar 2002, der den Ruf eines überzeugten Europäers und guten Europapolitikers genoss, löste Besorgnis bei allen europäischen Regierungen und auch in Brüssel aus. Berlusconi selbst übernahm dann während fast eines ganzen Jahres die Führung des Außenministeriums, ohne damit allerdings die Sorgen seiner Partner über den außen- und europapolitischen Kurs Italiens zerstreuen zu können.

Als Minister und Regierungschef in Personalunion hat Berlusconi eine ständige, harte Auseinandersetzung mit der Europäischen Kommission geführt, besonders mit ihrem Präsidenten Romano Prodi. Bekanntlich aber war es nicht nur Prodi, der die römische Regierung kritisiert, gewarnt und mit Sanktionen (etwa wegen der Überschreitungen Italiens bei den Milchquoten oder der Gefahr des Verfehlens der Maastricht-Kriterien infolge der Haushaltspolitik) bedroht hat. Auch andere Kommissare, wie der Wettbewerbskommissar Mario Monti, sogar seinerzeit von Berlusconi selbst für das Amt nominiert, haben sich frontal gegen Berlusconi gewandt. Die Kommission hat im Frühling 2004 die römische Regierung wegen der durchaus möglichen Überschreitung des Drei-Prozent-Defizit-Kriteriums ermahnt und sie aufgrund der wieder wachsenden Staatsschulden und der ungenügenden, weil einmaligen Maßnahmen ("una tantum") zur Bekämpfung der finanziellen Notlage gerügt. Die von der Kommission vorgelegten Zahlen wurden von der italienischen Regierung nicht anerkannt und das Vorgehen der Kommission im Gegenteil sogar als antiitalienische Haltung hingestellt sowie, noch schlimmer, als eine Hilfe für Prodis Wahlkampf und damit als eine Verschwörung gegen Berlusconi. Prodi hat hierauf oft mit einem Achselzucken oder sogar mit Schimpfwörtern reagiert.

Silvio Berlusconi nimmt gegenüber der europäischen Einigung insgesamt eine zweideutige und widersprüchliche Haltung ein. An einem Tag wiederholt er sein Bekenntnis zu Europa, am nächsten beklagt er die "bürokratischen" Zwänge der EU. Wie in den inneren Angelegenheiten Italiens scheint Berlusconi keinerlei Regeln akzeptieren zu können, auch diejenigen der EU nicht. Er selbst hat mehrmals gegen den Euro als Ursache der Preissteigerung geschimpft, hat die Autonomie der Europäischen Zentralbank kritisiert und das Parlament in Straßburg mehr als einmal missachtet.

Berlusconis Führungsqualitäten als Ratspräsident während des "italienischen Semesters" (Juli bis Dezember 2003) wurden in Italien wie auch im Ausland als schwach beurteilt. Viele "Unfälle" haben Berlusconis Semester gekennzeichnet: Das reicht von der Auseinandersetzung mit dem SPD-Europaparlamentarier Martin Schulz bis zur Verteidigung Vladimir Putins wegen der Lage in Tschetschenien, von der Bezeichnung der Europaabgeordneten als "Touristen der Demokratie" bis zu wenig geistreichen Witzen bei den Gipfeln. Aus Image-Gründen hatte Berlusconi gehofft, die europäische Verfassung werde während seiner sechsmonatigen Amtszeit verabschiedet. Sein angeblicher "Plan" für ein erfolgreiches Abkommen in der letzten Runde der Regierungskonferenz im Dezember 2003 in Brüssel, der zur Lösung der bestehenden Konfliktpunkte führen sollte, ist nie aufgetaucht. Statt kollektive Diskussionen zu führen, betrieb er bilaterale Zusammentreffen, um seinen Freunden aus Polen und Spanien einen Gefallen zu tun. Das Scheitern der Regierungskonferenz zur Verabschiedung des Europäischen Verfassungsentwurfs geht sicher nicht allein auf das Konto der Präsidentschaft Berlusconis. Er war aber ein unzuverlässiger, unglaubwürdiger Vermittler, was der Sache sicher nicht dienlich war. Tatsache ist, dass Berlusconi und seine Mitarbeiter im Laufe des "italienischen Semesters" sehr wenig unternommen haben, um den letztlich negativen Ausgang der Regierungskonferenz zu verhindern. Es war nicht zufällig, dass die Debatte im Europaparlament zu der Frage des Scheiterns der Verfassung von Enttäuschung, Unverständnis und Hohn über das Versagen von Berlusconi als Ratspräsident geprägt war. Das hinderte Berlusconi allerdings nicht, sich am 18. Juni 2004, dem Tag des unter der irischen Ratspräsidentschaft erfolgreichen Schlussabkommens über den Text, den größten Verdienst daran selbst zuzuschreiben.

Es gibt aber auch einige positive Aspekte der italienischen Präsidentschaft: das Bemühen im Herbst 2003 um eine Konvergenz aller Partner in der Frage der Beibehaltung des Kernes des Texts für das Verfassungsprojekt sowie den Beitrag zur Entwicklung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik und der "strukturierten Kooperation", für welche die Vermittlerrolle Italiens gute Ergebnisse hervorbrachte. Alles in allem jedoch ist Europa für Berlusconi ein Hindernis oder allenfalls brauchbar für deklamatorische und opportunistische Zwecke.

Genau daher rühren die Sorgen des italienischen Staatspräsidenten Ciampi, von denen am Anfang die Rede war. Im letzten Jahr sind wegen der Europapolitik die Beziehungen des Staatsoberhaupts mit dem Ministerpräsident erkaltet. Eine direkte Folge der neuen Europapolitik Berlusconis war die Episode vom Februar 2004, als der italienische Regierungschef nicht zum Treffen von Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder in Berlin eingeladen wurde. Auf dem Berliner Gipfel sollten Vorbereitungen für die wichtige Sitzung des Ministerrats Ende März in Brüssel getroffen und die neue Gestaltung der europäischen institutionellen Architektur diskutiert werden. Zum ersten Mal im halben Jahrhundert der Geschichte der europäischen Integration blieb damit der Vertreter eines Mitbegründers und Motors der Europäischen Gemeinschaft von einer sehr wichtigen Sitzung ausgeschlossen. Welches Gewicht dabei das polititsche Verhalten Berlusconis im Einzelnen hatte, ist schwer zu beurteilen.

Im Übrigen hat die Außenpolitik Italiens unter der Mitte-rechts-Regierung das atlantische Bündnis der EU vorgezogen. Die entschlossene Unterstützung der USA bei der Irak-Intervention ist nur die Spitze einer bewussten Wahl gewesen. Berlusconi preist immer wieder seine engen Beziehungen "mit seinem Freund George". Putin ist ebenfalls ein "lieber Freund". Berlusconis Vorschlag, Russland in die EU aufzunehmen, war ein Schlag mehr gegen den an sich schon schwierigen Prozess der europäischen Integration.

Nach der Niederlage von Forza Italia bei der Europawahl vom 13. Juni 2004 ist es noch unwahrscheinlicher geworden, dass Berlusconi und seine Regierung ihre Haltung gegenüber Brüssel ändern werden. Denn Berlusconi muss die verlorene Gunst der Bevölkerung bzw. der Forza Italia-Wählerschaft irgendwie zurückgewinnen und dürfte versuchen, wieder (bzw. noch) stärker populistische Politik zu machen. Sich der vorhandenen Vorbehalte gegenüber Brüssel und der europäischen Integration zu bedienen bzw. Skepsis und Misstrauen zu schüren, um im eigenen Land politisch zu punkten, ist dabei ein beliebtes Mittel, auf das Berlusconi kaum verzichten wird.

Der Europäismus der Italiener und die Europäisierung Italiens

Wie weit entspricht diese Haltung der heutigen Regierungseliten aber auch einer Umorientierung der traditionell europafreundlichen Italiener, insbesondere nach den Erfahrungen mit dem Euro und der voranschreitenden Erweiterung der Union?

Nach Jahrzehnten der Akzeptanz des europäischen Integrationsprozesses, ja sogar der Begeisterung für einige seiner Etappen - die Einführung des Euro eingeschlossen -, sieht es im Moment so aus, als seien die Italiener nun doch von einigen Ängsten erfasst worden. Die Meinungsumfragen der letzten Jahre lassen auf eine leichte Enttäuschung der italienischen Bevölkerung über die europäische Integration schließen. Die Wahlbeteiligung an der Europawahl 2004, obschon im europäischen Vergleich mit ihren 73,1 Prozent sehr hoch, viel höher als diejenige der Europawahl 1999 (70,8 Prozent), welche allerdings den Tiefpunkt in einem kontinuierlichen Abstieg während eines Zeitraums von 20 Jahren darstellte, ist nicht sehr aussagekräftig. Denn zusammen mit den Europawahlen gab es in Italien diesmal Lokalwahlen, die eine Mobilisierung der Wähler verursachten.

Die Haltung der Italiener gegenüber dem Integrationsprozess ist die Geschichte eines Hin und Her. In den fünfziger Jahren zählten die Italiener zu den schwächsten Befürwortern der europäischen Perspektive, aber zehn Jahre später war die Stimmung schon ganz anders. Die wenigen Umfrageergebnisse aus jener Zeit zeigen uns das Wachsen der Akzeptanz des neues Europas. Im Jahr 1952, als der Prozess der Integration seinen Anfang nahm, fand er die Zustimmung von etwa 54 Prozent der italienischen Bevölkerung, 1957 von etwa 59 Prozent, 1962 von 67 Prozent und 1964 schließlich sogar von 78 Prozent. 1965 fiel der Prozentsatz auf 65 Prozent, möglicherweise wegen der Krise der europäischen Integration in den Jahren von Charles de Gaulle. Doch selbst wenn die Zahl der wenig überzeugten, unsicheren Italienerinnen und Italienern sehr hoch war, die Zahl der EG-Gegner war doch sehr niedrig. Sie blieb ständig unter 10 Prozent. Am stärksten sprachen sich die Wählerinnen und Wähler der Rechten für die europäische Integration aus, am wenigsten diejenigen der politischen Linken. Erst Ende der sechziger Jahre wurden auch sie zu Befürwortern der Integration. In den folgenden 30 Jahren wurde die Orientierung der Italiener zugunsten der Integration immer stärker, so stark, dass Italien in den Ländervergleichen oft vorne lag. In dem Gefühl der Zugehörigkeit zu Europa sind sie jahrzehntelang an der Spitze gewesen, manchmal vor, manchmal nach den Luxemburgern, mit Werten von über 80 Prozent. Ein kleiner Rückgang ließ sich in den siebziger Jahren registrieren, als ein allgemeiner Pessimismus ganz Europa erfasste.

Nach dem Vertrag von Maastricht, der Einführung des Euro und der Perspektive der Erweiterung hat ein wenig Euroskeptizismus inzwischen aber auch innerhalb der italienischen Bevölkerung Fuß gefasst. Das Eurobarometer registrierte dennoch auch in diesen Jahren weiterhin die gewohnt hohen Werte des Gefühls der Zugehörigkeit zur EU. Andere Quellen zeigen für diese Phase weniger positive Ergebnisse, wenn es um konkrete Probleme geht. So beurteilten im Jahr 1994 69 Prozent der Italienerinnen und Italiener die Zugehörigkeit zur Union zwar immer noch als positiv, aber sie platzierten sich damit nur an vierter Stelle bei einem europäischen Durchschnitt von 53 Prozent. An erster Stelle lagen sie aber noch immer bei der Frage nach mehr Befugnissen des Parlaments in Straßburg (mit einem Prozentsatz von 72 Prozent bei einem europäischen Durchschnitt von 64 Prozent).

Nach Einführung des Euro-Bargeldes zeigen Umfrageergebnisse verschiedener Quellen, dass die Italiener sehr kritisch gegenüber dem Euro geworden sind, den sie für den Anstieg der Preise verantwortlich machen: 96 Prozent - gegenüber einem europäischen Durchschnitt von 89 Prozent - äußerten sich bei einer Umfrage der EU-Kommission Anfang 2004 negativ. Derselben Umfrage zufolge waren die Italiener hinsichtlich der Folgen des Euro für die Wirtschaft ihres Landes äußerst pessimistisch: Nur 47 Prozent sahen mehr Vorteile als Nachteile. Der EU-Durchschnitt lag bei 52 Prozent, und nur die Niederländer mit 43 Prozent und die Deutschen mit 42 Prozent waren pessimistischer als die Italiener. Andere neueste Umfragergebnisse zeigen ein Pendeln der Italiener zwischen Zufriedenheit und Ungewissheit, die Italiener sind hier in zwei fast gleich große Lager geteilt.

Die EU-Erweiterung weckt noch weitaus schlimmere Befürchtungen. Im Mai 2004 beurteilten nur 36 Prozent der Italiener die Effekte der Erweiterung als positiv für die Wirtschaft (gegenüber 34 Prozent der Franzosen und 29 Prozent der Deutschen) und nur 22 Prozent als positiv für die Beschäftigung (nur 11 Prozent der Deutschen teilten im Übrigen diese Meinung). Im Allgemeinen aber meinten 40 Prozent der Befragten Italienerinnen und Italiener, dass die Erweiterung notwendig und vorteilhaft sei (dagegen meinten dies nur 25,3 Prozent der Deutschen und 22,9 Prozent der Franzosen).

Trotz alledem haben die Italiener das Vertrauen in Europa nicht verloren. Dem Eurobarometer zufolge, das eine starke Kontinuität der italienischen Haltung registriert, war 2002 das Image Europas unter den Italienern am besten (67 Prozent), und im Gefühl der Zugehörigkeit lagen diese wieder weit vorn: auf Rang 2 mit 62 Prozent hinter den Luxemburgern mit 75 Prozent.

So hat der im Laufe der Jahrzehnte gewachsene Europäismus der Italienerinnen und Italiener letztlich kaum unter den Sorgen und der Enttäuschung der neunziger Jahre gelitten. Die Italiener pflegen nicht nur "europäistische" Vorstellungen, sie wissen wohl auch, wie stark Italien tatsächlich an Europa gebunden ist. Der lange historische, wirtschaftliche und politische Prozess macht eine Kehrtwendung unmöglich.

Dazu ist auch die Europäisierung Italiens längst zu weit fortgeschritten. Unter "Europäisierung" verstehe ich einerseits die Anpassung eines nationalen Systems in vielen seiner Komponenten an die Förderung der Integration sowie andererseits die Ausnutzung der angebotenen Chancen. Italien hat zu viele Schritte in die erste Richtung getan und zu viel von der zweiten profitiert, um seinen Weg zu ändern.

Wie von mir geschildert wurde, ist Europa für Italien immer zugleich Anreiz und Zwang gewesen. Die Schwächen des politischen Systems des Landes (ideologische Konfrontation, Regierungsinstabilität, Unregierbarkeit), des antiquierten und ineffizienten Staatsapparats, der Großindustrie und der Agrarwirtschaft machten Italien zum "Kranken" Europas. Zugleich musste (und konnte) das Land viele Änderungen und Reformen in Kraft setzen, wenn es den europäischen Zug nicht verpassen wollte.

Die Maastricht-Kriterien waren Mahnung und Ziel vieler politischen Entscheidungen. Insofern kann man sich in der Tat die Frage stellen: Italien... "von Europa gerettet?" Finanzsanierung, Steuermaßnahmen und Reformen in der Arbeitsmarkt- und der Sozialpolitik erlaubten Italien, zu einem glaubhaften Partner in der europäischen Arena zu werden. Im Namen Europas hat Italien tief greifende Reformen erfahren.

Die Europäisierung Italiens schreitet auch jenseits der Notsituation der neunziger Jahre fort. In vielen Bereichen hat eine Adaptation des Systems Italien an europäische Modelle, Regelungen und Vorschriften stattgefunden oder macht schnelle Fortschritte. Staatliche Institutionen sowie Politikfelder, politische Akteure sowie Interessengruppen sind von der europäischen Perspektive beeinflusst und bestimmt. Das reicht von der Anpassung der Gesetzgebung und der Neuordnung einiger Ministerien (wie z.B. des Außenministeriums) über die Rationalisierung des Gesundheitssystems bis hin zur Regulierung der Konkurrenz, vom Wachsen der Rolle und der Initiative der Regionen ganz zu schweigen. Zum Schluss sei noch an die bestehende ökonomische Verflechtung erinnert. So ist Italien der zweitwichtigste Handelspartner Frankreichs, der drittwichtigste Deutschlands und der zweitbedeutendste bei der Öffnung gegenüber den newcomers aus dem Osten.

Man kann deshalb abschließend wohl mit einigem Recht Folgendes behaupten: Trotz einiger Phasen der Gleichgültigkeit gegenüber Europa in der Vergangenheit und trotz der politischen Position der heutigen Regierung Italiens bzw. der sie stützenden Mehrheit ist auszuschließen, dass Italien auf einen isolationistischen Kurs einschwenkt, nicht zuletzt deshalb, weil es dann zu einer Randgröße schrumpfen würde - und das will in Italien nun wirklich niemand.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Welches Europa? Quale Europa? Eine Diskussion mit/Una discussione con Johannes Rau - Carlo Azeglio Ciampi. Deutsch-italienisches Journalistentreffen/Incontro dei giornalisti italiani e tedeschi, Villa Vigoni, Mitteilungen 2002, S. 63 - 64.

  2. Was den langen Weg Italiens in Europa betrifft, gibt es keinen Mangel an guten italienischen Darstellungen. Unter den neuesten möchte ich erwähnen: Mario Telò, L'Italia nel processo di integrazione europea, in: Storia dell'Italia repubblicana, Band 3: L'Italia nella crisi mondiale. L'ultimo ventennio, Turin 1996, S. 129 - 248; M. Neri Gualdesi, L'Italia e il processo di integrazione europea, und Antonio Versori, L'europeismo nella politica estera italiana, beide in: Luciano Tosi (Hrsg.), L'Italia e le organizzazioni internazionali. Diplomazia multilaterale del Novecento, Padova 1999, S. 341 - 416; Francesca Fauri, L'Italia e l'integrazione europea, Bologna 2001.

  3. Mario Telò, Italien und Europa, in: Luigi Vittorio Graf Ferraris/Günter Trautmann/Hartmut Ullrich (Hrsg.), Italien auf dem Weg zur "zweiten Republik"?, Frankfurt/M. 1995, S. 412.

  4. Dabei hat zweifellos die Stellung Prodis als möglicher zukünftiger Antagonist Berlusconis im politischen Wettbewerb Italiens eine wichtige Rolle gespielt. Dem Kommissionspräsidenten in Brüssel, designierter Herausforderer Berlusconis bei den nächsten Parlamentswahlen für das Amt des Ministerpräsidenten, hat Berlusconi stets vorgeworfen, sich in die inneren Angelegenheiten Italiens einzumischen. Das hat Prodi tatsächlich getan, insbesondere im letzten Wahlkampf für das Europarlament.

  5. Die verwendeten Daten stammen aus: Polichange, The Newsletter of the Centre for Study of Political Change, Siena, August 2001. Vgl. für eine eingehendere Analyse aus demselben Forschungszentrum Teresa Ammendola/Pierangelo Isernia, L'Europa vista dagli italiani, in: Maurizio Cotta/Pierangelo Isernia/Luca Verzichelli (Hrsg.), L'Europa in Italia (i.E.)

  6. Dank des Eurobarometers sind solche Langzeit-Ländervergleiche bekanntlich möglich. Sie sind zwar rein deskriptiv und bringen nur beschränkten Erkenntnisgewinn, bleiben aber trotzdem interessant.

  7. Vgl. Fondazione Nord-Est-Demos, April 2000.

  8. Dazu soll auch die Rolle einiger Politiker erwähnt werden, die sie in den letzten Jahren im europäischen Szenario gespielt haben. Drei von ihnen haben im Rampenlicht gestanden. Die Haltung Ciampis wurde in diesem Beitrag bereits mehrmals erwähnt. Giuliano Amato ist ein engagierter Vizepräsident des Europäischen Konvents gewesen. Das Urteil über Romano Prodi als Präsident der Kommission mag geteilt sein: Sein Bemühen für ein starkes und stabiles Europa aber kann nicht verneint werden. Prodis "Dokument über die Zukunft Europas" vom November 2003 bleibt ein unentbehrliches Manifest für sämtliche Parteien und Wähler des Mitte-links-Spektrums. Das Dokument ist deshalb besonders wichtig, weil die italienischen Mitte-links- und Linksparteien sich zwar als europäisch zu präsentieren pflegen, aber wenig glaubwürdig sind, wenn sie der Integration und ihren Problemen so wenig Aufmerksamkeit zuwenden wie bisher und von ihr keine tief gehende Vorstellung haben.

  9. Vgl. hierzu den Beitrag von Alexander Grasse in dieser Ausgabe.

  10. So der Titel eines guten Buches über diese Thematik von Maurizio Ferrera/Elisabetta Guelmini, Salvati dall'Europa?, Bologna 1999.

  11. Vgl. dazu Sergio Fabbrini (Hrsg.), L'europeizzazione dell'Italia, Roma/Bari 2003.

Dr. rer. pol., geb. 1938; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Florenz.
Anschrift: Dipartimento di scienza politica e sociologia, Polo Universitario di Novoli, 50127 Firenze/Italien.
E-Mail: E-Mail Link: caciagli@unifi.it

Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg. zus. mit Piergiorgio Corbetta) Le ragioni dell'elettore. Perchè ha vinto il centro-destra nelle elezioni politiche del 2001, Bologna 2002; Regioni d'Europa. Devoluzioni, regionalismi e integrazione europea, Bologna 2003; (Hrsg. zus. mit A. Di Virgilio) Eleggere il sindaco. La nuova democrazia locale in Italia e in Europa, Torino (i.E.).