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Müll als Strukturfaktor gesellschaftlicher Ungleichheitsbeziehungen

Laura Moisi

/ 15 Minuten zu lesen

Die Wahrnehmung von Müll hängt stark von sozialen Erfahrungen und kulturellen Bewertungen ab. Vorstellungen von legitimen oder illegitimen Abfällen, von Schmutz und Reinheit haben daher auch Einfluss auf gesellschaftliche Grenzziehungen.

"Erst wer recycelt, ist in Deutschland richtig integriert" – so lautet die Überschrift einer Kolumne des kriegsbedingt aus Syrien geflohenen Journalisten Mohamad Alkhalaf, in der er 2016 für die "Süddeutsche Zeitung" mit Erstaunen darüber schrieb, welche Bedeutung das Trennen und Sortieren von Abfall in Deutschland offenbar haben. Gelber Sack, Blaue Tonne, Bioabfall, Restmüll – der bundesdeutsche Müll setzt tatsächlich spezifische Trennungs- und Einteilungskenntnisse voraus. Das ist besonders deshalb erstaunlich, weil die Dinge, die zu Müll werden, sich zunächst dadurch auszeichnen, dass sie aus Zugehörigkeiten herausfallen – sei es symbolisch, materiell oder räumlich.

Es ist genau diese Ambivalenz des Mülls – randständig, aber allgegenwärtig, vergänglich, ohne zu vergehen –, die den Abfall zum vielleicht prominentesten Problem westlicher Industriegesellschaften macht. Als "Kehrseite der Dinge", wie die Kulturwissenschaftlerin Sonja Windmüller schreibt, ist Abfall zu einem "Kulturprinzip der Moderne" geworden. Schließlich sind nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens mit dem Herstellen, Sortieren und Beseitigen von Müll verbunden. Das hat der italienische Autor Italo Calvino bereits in den 1970er Jahren festgestellt, als er das Wegwerfen zur ersten Bedingung des Existierens erklärt hat. Ohne das tägliche Heraustragen des Mülls wäre ein funktionierender Alltag undenkbar, so Calvino. In "La poubelle agréée", ein Essay, den er im Zeitraum von 1974 bis 1976 in Paris verfasst hat, schildert Calvino, was in ihm vorgeht, wenn er seinen "kleinen Eimer" aus der Küche in den größeren Behälter vor dem Haus entleert – ein Ritual, das für Calvino "kein Akt [ist], den ich gedankenlos verrichte, sondern etwas, das wohlbedacht sein will und das in mir eine besondere Befriedigung des Denkens weckt". Das Umfüllen von einem Behälter in den anderen beschreibt Calvino als eine Überführung des Privaten in das Öffentliche, als eine letzte Schwelle, auf der das Private selbst beruht. Die in militärischem Grün gekleidete Mülltonne symbolisiert für den Schriftsteller den sozialen Vertrag, den er stillschweigend, in Form einer steuerlichen Abgabe, mit der Stadt eingeht. Die Mülltonne bestätigt ihn in seiner Rolle als Bürger; sie macht ihn zum Teil der Gesellschaft. Doch im selben Ausmaß, wie die Kategorie des Abfalls soziale Rollen und Zugehörigkeiten herstellt, ist sie auch an Formen der Exklusion beteiligt. Abfälle sind nicht nur Dinge, die ihren Wert oder ihre Funktion verloren haben. Das Weggeworfene signalisiert auch Ablehnung, Gefahr und Grenzüberschreitung.

Die Wahrnehmung von Müll hängt von sozialen Erfahrungen und kulturellen Bewertungen ab. Vorstellungen von legitimen oder illegitimen Abfällen, von Schmutz und Reinheit haben einen maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Verhältnisse und politische Fragen. So kommt es, dass mancher Abfall als mehr oder weniger unnötig, wertlos oder schmutzig erscheint – je nachdem, wer ihn zurücklässt oder unter welchen Bedingungen er entsteht. Während Biomüll und Kompost heute beispielsweise als Zeichen von sozialer Verantwortung gelesen werden, dienen andere Abfälle der Legitimation von sozialen Grenzmarkierungen und Ausschlüssen. Um zu verstehen, inwiefern Müll als ein Strukturfaktor von gesellschaftlicher Ungleichheit fungiert, ist es zunächst nötig, bei der Frage anzusetzen, was Müll eigentlich ist.

Müll als kulturelle Grenzfigur

"Schmutz als etwas Absolutes gibt es nicht", schrieb die Ethnologin Mary Douglas in ihrer Studie "Purity and Danger", auf Deutsch "Reinheit und Gefährdung", aus dem Jahr 1966. In ihrem Buch – ein Meilenstein der kulturwissenschaftlichen Müllforschung – argumentiert Douglas, dass Schmutz und Abfall nicht an und für sich existieren, sondern erst im Zuge kultureller Zuschreibungen entstehen. Etwas wird dann zu Abfall, wenn es sich am falschen Ort befindet. Müll ist "matter out of place", wie es die Anthropologin formuliert – es ist eine Kategorie von Dingen, die den Sinn für Ordnung und Regelhaftigkeit stören. Weil kulturelle Einteilungen grundsätzlich fragil sind, bedarf es der ständigen Arbeit der Grenzziehung. Deshalb gibt es immer wieder die Bemühungen, kulturelle Unterscheidung zu verankern, zu erneuern und zu bestärken. Und das erklärt zum Teil, wieso Müll gesellschaftlich immer wieder Thema und Gegenstand von Diskursen, Konflikten, Skandalen, Empörungswellen ist: Die kulturelle Ordnung muss aufrechterhalten werden, weil "jede Vorstellungsstruktur an ihren Rändern verletzlich" ist, wie Douglas notiert. Die Kategorien Schmutz und Abfall entstehen so gesehen aus einem Bedürfnis nach Kohärenz und Orientierung heraus, wo sonst nur ungeordnete Erfahrung wäre.

In den Szenen des alltäglichen Entsorgens wird diese Definition von Abfall anschaulich. Zahllose Verpackungen, Behälter, Plastikobjekte und Technikgeräte gehen in den Zustand des Abfalls über, sobald sie in Plastiksäcken und Mülltonnen landen. Dabei geschieht der Übergang vom Zustand der Gebrauchsgegenstände zu Müll über kulturelle Gesten, Handhabungen und Techniken, die selbst wiederrum als rein oder unrein kodiert sind. So kommt es, dass Abfälle erst dann auffallen, wenn sie sich von ihrem zugewiesenen Ort entfernen – wenn sie zum Beispiel nicht in der Mülltonne, sondern daneben, auf der Straße, am Wegesrand, auf der Wiese liegen.

Das, was als schmutzig, wertlos oder überflüssig wahrgenommen wird, ist, wie Mary Douglas bemerkt hat, nie etwas Isoliertes, sondern hat immer etwas mit unzulässigen Vermischungen zu tun. Die gibt es aber nur dort, wo auch positiv nach ausgewählten Kriterien unterschieden wird: "Wo es keine Differenzierung gibt, gibt es auch keine Verunreinigung." Schmutz und Abfall sind vor allem eine Grenzverletzung: eine Bedrohung der kulturellen Kohärenz. Die Grenzziehung zwischen rein und unrein beruht dabei auf der Frage: Zwischen welchen Dingen lohnt es zu unterscheiden, und zwischen welchen nicht? Es sind fragile Grenzen – zwischen wertvoll und wertlos, sauber und schmutzig –, die fortwährend hinterfragt und neu gezogen werden. So ist die Kategorie des Abfalls bei Douglas sozial begründet und entsteht in Verbindung mit anderen Grenzziehungen. Reinheitsvorstellungen beziehen sich demnach nicht nur auf Körper und Gegenstände, sondern sie können ganze Denksysteme intakt halten und repressive Strukturen rechtfertigen. Auch deswegen wirken alle Randzonen als bedrohlich, seien es körperliche Zonen oder gesellschaftliche.

Abfall als Sinnbild für das Randständige

Ein Jahrzehnt nach der Veröffentlichung von "Purity and Danger" stellte der britische Anthropologe Michael Thompson die Frage nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Abfall noch einmal aus einem anderen Blickwinkel. In seinem Buch "Theorie des Abfalls", erstmals 1979 erschienen, teilt Thompson die Dinge, die wir besitzen, in drei Zustände ein: in wertbeständige oder werterhöhende Objekte wie Kunstobjekte, in Dinge, deren Wert vergänglich ist, wie die meisten Alltagsgegenstände – Geschirr, Kleidung, Möbel –, und in eine dritte, "geheime" Kategorie, den Abfall.

Thompson führt seine Überlegungen mit einem Vergleich ein: zwischen einem wohlhabenden Menschen, der ein benutztes Taschentuch wieder einsteckt, und einer mittellosen Person, die das Taschentuch gar nicht erst verwendet. Es geht ihm um die Bedingungen der Entstehung von Abfall. Die Aspekte der Vergänglichkeit, des Vorübergehenden und Transitorischen stehen dabei im Zentrum. Für Thompson gibt es eine ständige "Auf-, Um- und Entwertung von Dingen", sodass das, was einst wertlos war, plötzlich wieder wertvoll werden kann, und was überflüssig war, wieder nützlich. Der Abfall erlebt dann eine Verwandlung, vom Zustand des Vergänglichen zum Dauerhaften. Eine derartige Erneuerung beschreibt Thompson anhand von viktorianischen Sammelbildchen, die im 19. Jahrhundert zunächst massenweise produziert und gekauft wurden, dann aus dem kulturellen Gedächtnis wieder verschwanden und in die hintersten Schubladen rückten, bis sie etliche Jahrzehnte später als Kunstobjekte wiederentdeckt wurden. Im Kern von Thompsons Theorie steht die Annahme, dass die Herstellung der Kategorie des Abfalls durch Abnutzung und Zerstörung keine ökonomische Frage ist, sondern eine kulturelle.

Thompson beschreibt Abfall als eine Kategorie des unsichtbaren Übergangs von einem Zustand in den anderen – vom Notwendigen zum Überflüssigen, vom Wertvollen zum Belanglosen, und wieder zurück. Wie Douglas weist Thompson auf eine brüchige Grenze hin, diese verläuft bei ihm aber woanders: zwischen Zerstörung und Schöpfung, kulturellem Wert und Unwert, Kunst und Abfall. Diese Einteilungen geschehen nicht fernab des sozialen Lebens, sondern sind eng verknüpft mit gesellschaftlichen Verhältnissen. Abfall taucht dabei als Sinnbild für das Randständige auf. Der Blick auf Abfall bietet Thompson eine Perspektive, um die Herstellung von gesellschaftlichen Gruppen zu thematisieren und das, was aus der Wahrnehmung ausgeschlossen ist, ins Zentrum zu rücken. Ausgehend von der Figur des Abfalls führt Thompson den Unterschied zwischen Armut und Reichtum auf verschiedene Verfügungsgewalten über Raum und Zeit zurück. Reichtum zeichnet sich demnach dadurch aus, dass das Vergehen der Zeit zu einer Ressource wird (das Dauerhafte), während Armut sich durch das Fehlen dieser Nutzbarmachung der Zeit auszeichnet (das Vergängliche). Für Thompson ist die Frage danach, was Abfall ist, letztlich verwandt mit der Frage danach, was Kunst ist – was als kulturell bedeutsam in die Geschichte eingeht –, und vor allem mit der Frage, wer in der Lage ist, aus dem einen das andere zu machen.

Müll und Strukturelle Ungleichheit

Schmutz und Sauberkeit sind nicht nur konzeptuell miteinander verwoben, sondern auch in materieller und sozialer Hinsicht. Aus diesem Grund sind Theorien des Abfalls hilfreich, um zu verstehen, wie soziale Ausschlüsse und Formen der Herabsetzung entstehen. Darauf macht etwa die Kulturwissenschaftlerin Rosie Cox aufmerksam, wenn sie betont, dass die Entwicklung moderner Vorstellungen von Hygiene, Schmutz und Abfall zutiefst mit rassistischem Denken verbunden ist. Das Vokabular der Reinheit, das im 19. Jahrhundert entstand, artikulierte sich in rassistischen Vorstellungen von Mischung und Hybridität. Mit Blick auf häusliche Reinigungs- und Dienstarbeiten verdeutlicht Cox, inwiefern Vorstellungen von Sauberkeit historisch auf rassistische Entsprechungen von Weißsein mit Reinheit zurückgehen. Cox beschreibt, wie die Nähe zu Schmutz und Abfall auch heute – zum Beispiel im Kontext von häuslichen Pflege- und Reinigungsarbeiten – auf globale Weise rassistisch und geschlechtlich strukturiert ist. Die Sphäre des Privaten wird so zum Bereich, in dem soziale Ungleichheit kontinuierlich aufrechterhalten wird.

Auch der Historiker Alain Corbin hat 1984 in seinem Buch über die sozialen Dimensionen des Abfalls darauf hingewiesen, dass die Angst vor Schmutz und Bakterien seit der Entstehung der Hygienebewegung im 19. Jahrhundert nicht nur gegen Objekte gerichtet war, sondern ebenso gegen Gruppen von Menschen. Als verdächtig und gefährlich – weil womöglich "unrein" – galten jene Personen, die sich mit "schmutzigen" Dingen oder Tätigkeiten befassten: "‚die Unberührbaren‘ der Stadt, Kumpanen des Gestanks, alle, die mit Schlick, Unrat, Kot und Sexualität arbeiten". Abfall, argumentiert Corbin, ist historisch wie gegenwärtig zentral für die Aufrechterhaltung einer bürgerlichen Ordnung auf Kosten einer Gruppe davon Ausgeschlossener.

Dabei werden manche Personen und Gruppen mehr und andere weniger in der Nähe des Abfalls platziert – im übertragenen Sinne, wie auch buchstäblich, durch die Markierung von bestimmten Tätigkeiten als schmutzig, etwa Reinigungsarbeiten, der Umgang mit Körperflüssigkeiten oder das Sammeln von Müll. Dies lässt sich auch anhand der Geschichte der Müllabfuhr in den USA studieren. Seit jeher ist die Infrastruktur der Müllsammlung und -entsorgung geprägt von kulturellen, symbolischen und sozialen Dimensionen von institutioneller Ungleichheit. In der Geschichte der US-amerikanischen Müllabfuhr kommt das beispielsweise darin zum Ausdruck, dass sich das Personal der Müllabfuhr zu einem großen Teil aus afroamerikanischen Arbeitern sowie Einwanderern aus Lateinamerika rekrutiert, während in den Stadtvierteln, die von diesen Personengruppen bewohnt wurden, oft mangelhafte hygienische Zustände herrschten. Es gab und gibt dort oft keine befestigten Straßen, keine Kanalisation, die Wohnungen hatten keine Toiletten, und die Müllabfuhr blieb diesen Gegenden fern – Zustände, die, wie Rosie Cox feststellt, Bemühungen um häusliche Sauberkeit zu einem hoffnungslosen und somit demoralisierenden Unterfangen machten.

Solche zugleich materiellen wie symbolischen Verhältnisse zwischen Menschen und Müll sind beispielhaft für soziale Ungleichheit. Einerseits wird Müll metaphorisch auf jene übertragen, die als randständig markiert werden. Andererseits sind es gerade die an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten, die besonders von den Gefahren, die vom modernen Müll ausgehen, bedroht sind. Auf die Zusammenhänge zwischen gesundheitsgefährdenden Stoffen und struktureller Gewalt, die sich gegen marginalisierte Gruppen richtet, weisen die US-amerikanischen Bewegungen im Feld der Umweltgerechtigkeit seit den 1960er Jahren hin. Das Feld der Environmental Justice etwa problematisiert die Ansiedlungen von Mülldeponien an prekären Orten oder Gift im Trinkwasser von vernachlässigten Ortschaften oder Stadtvierteln. Dabei geht es vor allem um die Aufmerksamkeit für Umweltverschmutzungen, die unverhältnismäßig stark zulasten von afroamerikanischen und indigenen Bevölkerungsgruppen sowie von wirtschaftlich prekären Regionen gehen (das bleivergiftete Wasser in der Stadt Flint in Michigan ist nur ein Beispiel unter vielen). Studien zu Umwelt(un)gerechtigkeit zeigen, dass arme Bevölkerungsgruppen und people of color deutlich häufiger an Krebs, Asthma und anderen Krankheiten infolge von Umweltverschmutzung erkranken als die weiße Mittelschicht. Einer der Faktoren für diese strukturelle Ungleichheit ist die Standortwahl für die Deponierung von Müll. Die strukturelle Exklusion von marginalisierten Personen und der Eindruck, dass nur der Müll der Privilegierten verschwindet, sind zwei Seiten derselben Medaille.

Politikum der Gegenwart

Das Heraustragen des Mülleimers ist heute zu einer politischen Frage geworden. In Deutschland gehört der richtige Umgang mit Müll zu einer derart strittigen und emotionalen Frage, dass das Thema der Mülltrennung als Rechtfertigung von Exklusion fungieren kann. Dabei kommt es zu einer scharfen Aufteilung in legitimen und illegitimen Müll. Blickt man auf gegenwärtige öffentliche Diskurse um Mülltrennung und Recycling, so fällt folgende Unterscheidung auf: Während die Trennung von Plastik-, Papier-, Bio- und Restmüll gewissermaßen als eine saubere Umgangsform mit Müll angesehen wird, gilt achtloses Wegwerfen als schmutzig. Das wird besonders deutlich, wenn es sich um den Müll der "Anderen" handelt, derjenigen, die zu den "Anderen" gemacht werden.

Ein Beispiel dafür bietet die Diskussion um eine Wohnanlage in Duisburg-Rheinhausen aus dem Jahr 2012. Die Anlage wurde in lokalen Medien nur noch als "das Problemhaus" bezeichnet, nachdem Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa dort untergebracht worden waren. Die Berichterstattung drehte sich wieder und wieder um dieselben Motive: Es kursierten Bilder von Müll vor dem Haus, Müll auf den Gehwegen – Bilder, die zu einem Sinnbild für die unerwünschten Fremden im Ort wurden, und die ein willkommenes Argument lieferten, um ihre Abschiebung zu fordern. Die Bilder waren begleitet von Anwohnerklagen über Kinder, die ihre Notdurft im Freien verrichteten, über mangelnde Sauberkeit, über den Lärm, den die Zugezogenen verbreiten würden, und über zu viel Müll, den sie produzierten, ohne ihn angemessen zu entsorgen, geschweige denn zu recyceln.

Immer wieder wird der Umgang mit Abfall zum Anlass für Manifestationen von Fremdenfeindlichkeit. Die Tendenz, die Abfälle von marginalisierten und vertriebenen Individuen als schädlich und destruktiv zu markieren, ist in jüngster Zeit wieder aktuell geworden, vor allem im Kontext der Wege der Flucht durch Europa, die symbolisch und sprachlich in die Nähe des Unreinen gestellt wurden. So war 2016 wiederholt von "Spuren der Verwüstung" die Rede, die Geflüchtete auf ihren Fluchtwegen durch Europa angeblich hinterließen. Fotos von unaufgeräumten Lagern und Berichte über Wasserflaschen, Zelte und Schlafsäcke, die angeblich achtlos entsorgt wurden, verstärkten diese Wahrnehmung. Darüber hinaus sollte die Figur der Spur, des Pfades, des Weges ("Balkanroute") die Gefahr der Migrationsbewegungen illustrieren: den Verlust der Kontrolle über Landesgrenzen sowie die Präsenz von Individuen, die in europäischen Ländern Asyl suchen.

In diesen wiederkehrenden Symboliken zeigt sich der grundlegende Bedeutungshorizont des Mülls. Das Entsorgen des Mülls wird unterteilt in eine Praxis, an der soziale Wesen – verantwortungsbewusste Bürgerinnen und Bürger – teilnehmen, und in eine Notdurft, ein schändliches Tun – vollzogen von jenen, die nicht dazugehören. Auf diese Weise hat Müll Anteil an der Etablierung von imaginären Gemeinschaften und deren Grenzen. Am Müll und am Umgang mit ihm bemisst sich, was die gemeinsame Sache aller Zivilisierten ist und was andererseits abgestoßen und ausgeschlossen gehört – als individuelle Verfehlung und als Makel einer Existenz, die keinen Anspruch auf Teilhabe am Gemeinwesen hat.

Mary Douglas hat die Kategorie des Abfalls im Sinne eines sozialen Kompasses erklärt: als eine Art und Weise, um die Welt in eine Kohärenz zu fügen. Sie hat argumentiert, dass die Ordnung der Reinheit, die sauberen Trennungen und Kategorisierungen es erlauben, die eigene Identität aufrechtzuerhalten, die Welt zu verstehen, sich durch sie so zu bewegen, als würde sie Sinn ergeben – und sie hat gezeigt, dass das nicht für alle gilt. Für jene, die mit den Randbereichen gesellschaftlicher Ordnungen in Verbindung gebracht werden, bedeuten die sauberen Trennungen eine existenzielle Bedrohung und permanente Gefahr.

Die Kulturwissenschaftlerin und feministische Autorin Sara Ahmed beschreibt in ihrem Buch "Strange Encounters" aus dem Jahr 2000 die Logik der Fremdenfeindlichkeit in Anlehnung an Mary Douglas. Fremde, so Ahmed, seien Personen, die kulturell zu Körpern am falschen Ort erklärt werden, sodass ihre bloße Anwesenheit bereits die Kohärenz der gewohnten Ordnung gefährde. Solche "bodies out of place" bedrohten durch ihre schiere Anwesenheit diejenigen, die sich an ihrem rechtmäßigen Platz wähnen. Deshalb können diejenigen, die das eine Mal über zu viele Ausländer in deutschen Innenstädten klagen, ein anderes Mal offen gegenüber Fremden sein – solange sich diese im Ausland befinden oder als zahlungskräftige Touristen unterwegs sind. Die oder der Fremde wird dann zum Problem, wenn sie oder er "hier" ist, "hier" bleibt. Für jene, die als fremd erkannt werden, ist dann Nähe an und für sich bereits ein Verbrechen.

Es ist nicht zufällig, dass sich ausgerechnet am Müll soziale Aufteilungen und Grenzziehungen etablieren, die manchmal auf skurrile Weise zutage treten: zum Beispiel dann, wenn ein zugewanderter Syrer sagt, er fühle sich in Deutschland erst dann akzeptiert, wenn er seinen Müll richtig trennt. Die Dinge an den richtigen Platz zu stellen, wie es im Kontext von Mülltrennung eintrainiert wird, ist mehr als nur die pragmatische Seite einer umweltbewussten Orientierung. Über Müll zu sprechen, bedeutet auch, über Trennung, Sammlung, Aufteilung, Rückführung, Überschreitung zu sprechen. So bedient die Sprache und die Praxis der Mülltrennung das grenzziehende Denken und trägt dazu bei, dieses in den täglichen Routinen einzutrainieren. Darin liegt eine Politisierung des Alltags, deren Effekte sich in ihrem vollen Ausmaß dann zeigen, wenn jene in den Blick rücken und zum "Politikum" werden, deren Umgang mit Müll nicht dieser staatsbürgerlichen Norm entspricht. Das verweist auf die Art und Weise, wie Müll teil hat an der Aufteilung von imaginären Gemeinschaften. Die Logik der Vernunft im Sinne der Eindeutigkeit, der Einhaltung von klaren Umgrenzungen und Kategorisierungen, wird in der Maxime des Recycelns zu einem Ethos der Bürgerlichkeit.

Indem man den Dingen einen Platz gibt, nimmt man selbst einen Platz in der Ordnung des Sozialen ein. Müll aber hat keinen Platz, kein Zuhause – es ist ein "orphan object", wie der Kulturwissenschaftler Brian Thill bemerkt. So kommt es, dass Müll nicht nur ein Objekt hierarchischer Grenzziehungen ist. Müll offenbart auch die Grenzen der Herrschaft der einen über die anderen. Das erfährt zum Beispiel das Dienstmädchen Sarah aus Jo Bakers "Longbourn" – ein 2013 veröffentlichter Roman, der Jane Austens "Stolz und Vorteil" von 1813 aus Sicht der Dienstbotinnen und Dienstboten nacherzählt. Beim Beseitigen der Körperflüssigkeiten und Exkremente, die die höheren Herrschaften täglich hinterlassen, bemerkt die Protagonistin, wie fragil und abhängig ihre Befehlshaber sind und wie grundlos ihre Überlegenheit ist. In ihrer Arbeit mit Schmutz und Abfall sieht sie Dinge, die ihre Arbeitgeber lieber geheim halten würden. Die soziale Ordnung mag vorschreiben, dass ihre Position niedrig ist, aber die übel riechenden Reste, die Sarah beseitigt, decken auf, dass jene, die in den oberen Geschossen wohnen, selbst verwundbare, bedürftige und endliche Wesen sind.

Wie sehr die Kategorie des Abfalls eine symbolische oder physische Grenze ist, unsichtbar oder manifest, hängt vor allem davon ab, von wo aus man auf sie blickt. Trotz aller Bemühungen um Eindeutigkeit bleiben die Spannungen in der Bedeutung von Müll bestehen: einerseits abfällige Materie, andererseits unbändiger Rest. Das Ermessen der politischen Auswirkungen des modernen Mülls steht noch an seinem Anfang.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sonja Windmüller, Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem, Münster 2004.

  2. Italo Calvino, Die Mülltonne, in: ders., Die Mülltonne und andere Geschichten, München 1997, S. 77–194, hier S. 83 (Original: La poubelle agréée, in: La Strada di San Giovanni, Mailand 1990).

  3. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung, Berlin 1985 (1966), S. 12.

  4. Ebd., S. 160.

  5. Ebd., S. 208.

  6. Vgl. Michael Thompson, Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten, Stuttgart 1981, S. 25.

  7. Vgl. Rosie Cox, Cleaning up: Gender, Race and Dirty Work at Home, in: Christiane Lewe/Tim Othold/Nicolas Oxen (Hrsg.), Müll. Interdisziplinäre Perspektiven auf das Übrig-Gebliebene, Bielefeld 2016, S. 97–116.

  8. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, Berlin 1984, S. 191.

  9. Vgl. Rosie Cox, Dishing the Dirt: Dirt in the Home, in: dies. et al. (Hrsg.), Dirt: The Filthy Reality of Everyday Life, London 2011, S. 37–74, hier S. 61.

  10. Vgl. Sara Ahmed, Strange Encounters: Embodied Others in Post-Coloniality, London–New York 2000.

  11. Brian Thill, Waste. Object Lessons, New York–London 2015, S. 23.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Laura Moisi für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Kulturwissenschaftlerin und wurde mit einer Arbeit über "Ordinary Waste" an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert. Zu Ihren Forschungsinteressen zählen die kulturwissenschaftliche Müllforschung, politische Ideengeschichte sowie die Zusammenhänge von Geschlecht und Ungleichheit. Derzeit beschäftigt sie sich mit der kulturellen Unsichtbarmachung von Gewalt im Privaten und den damit einhergehenden Erzähl- und Schweigepraktiken.