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Magersucht und andere Essstörungen

Monika Gerlinghoff Herbert Backmund Herbert Monika / Backmund Gerlinghoff

/ 17 Minuten zu lesen

Essstörungen sind eine Krankheit, für die neben biologischen und psychosozialen auch soziokulturelle Faktoren ausschlaggebend sind. Als wichtigster soziokultureller Faktor für die Entstehung von Essstörungen gilt das herrschende Schönheitsideal: schlank ist schön.

Einleitung

Magersucht (Anorexia nervosa) wird aus medizinischer Sicht zu den Essstörungen gerechnet. Dazu gehören auch die Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und die Esssucht (Binge Eating Disorder). Obwohl alle drei Formen der Essstörungen in der deutschen Benennung jeweils als Sucht bezeichnet werden, zählen sie nach medizinischen Kriterien, etwa den diagnostischen Leitlinien, nicht zu den eigentlichen Süchten, auch nicht zu den abnormen Gewohnheiten.



Essstörungen sind Krankheiten. Ihre jeweils kennzeichnenden Symptome sind in den international gebräuchlichen Verzeichnissen der Krankheiten (International Classification of Diseaes, ICD) oder der psychischen Störungen (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, DSM), im Detail etwas unterschiedlich, festgelegt.



Die Magersucht ist charakterisiert durch ein abnorm niedriges Körpergewicht, das entweder um 15 Prozent unter dem zu erwartenden Gewicht liegt oder einem BMI (Body Mass Index; Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern im Quadrat) von 17,5 oder weniger entspricht. Der Gewichtsverlust wurde selbst herbeigeführt, entweder durch stark reduzierte Energiezufuhr, durch erhebliche Steigerung Energie verbrauchender körperlicher Aktivitäten oder durch Missbrauch von abführenden oder entwässernden Medikamenten. Dazu kommt eine krankhafte Angst, "dick" zu werden, und eine krankhaft verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers, eine so genannte Körperschemastörung, die sich nicht selten auf einzelne Regionen, beispielsweise Bauch oder Oberschenkel, beziehen kann.

Kennzeichnend für die Bulimie ("Stierhunger") sind Heißhunger- oder Essattacken, von den Betroffenen meist als "Fressanfall" bezeichnet, bei denen in kurzer Zeit große Mengen an Nahrungsmitteln verschlungen werden. Im DSM-IV (DSM, 4.Version) gibt es zeitliche Angaben über die Häufigkeit derartiger Attacken wie "3 Monate lang im Durchschnitt mindestens zweimal pro Woche". Ein weiteres diagnostisches Merkmal der Bulimie ist der Versuch, der dick machenden Wirkung der zu viel genossenen Nahrung durch verschiedene so genannte kompensatorische Maßnahmen entgegenzutreten: selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln oder entwässernden Substanzen, Fasten oder übermäßige körperliche Betätigung.

Sowohl für Magersucht als auch für Bulimie hat die American Psychiatric Association (APA) 1994 als ein diagnostisches Kriterium den "übertriebenen Einfluss des Körpergewichts oder der Figur auf die Selbstbewertung" in das DSM IV eingeführt. Diese Abhängigkeit der eigenen Wertschätzung der Betroffenen von Aussehen und Figur hat es in früheren Versionen nicht gegeben und ist im DSM-IV eindeutiger formuliert als im International Classification of Deseases, 10. Version (ICD-10).

Für die Esssucht (Binge Eating Disorder, BED) sind bisher nur im DSM-IV so genannte Forschungskriterien festgelegt; im ICD-10 kann sie unter den so genannten "Nicht Näher Bezeichneten Essstörungen" (NNB) eingeordnet werden. Den Merkmalen nach ist die BED der Bulimie ähnlich. Auch hier treten Heißhungerattacken auf, jedoch werden von den Betroffenen keine kompensatorischen Maßnahmen zur Vermeidung einer Gewichtszunahme unternommen. Bei der Esssucht kommt es somit allmählich zu einem Übergewicht; als Diagnosekriterium gefordert wird eine erhebliche psychische Belastung wegen des eigenen Essverhaltens. Diese Form der Essstörung wird vermutlich häufiger werden. Über die Abgrenzung zur Bulimie und den Stellenwert der Esssucht innerhalb der Essstörungen wird noch diskutiert.

Magersucht, Bulimie und Esssucht können im Lauf der Zeit ineinander übergehen. Bei der Magersucht gibt es zwei Typen, je nachdem, ob außer Hungern und exzessiver Bewegung (so genannter restriktiver oder asketischer Typ) noch andere kompensatorische Maßnahmen eingesetzt werden (binge-purging- oder bulimischer Typ). Mehr als die Hälfte der "asketischen" Magersüchtigen durchbrechen das restriktive Verhalten; die Betroffenen essen gelegentlich und dann immer häufiger viel mehr, als sie sich ursprünglich erlaubt haben, und versuchen dann, einer drohenden Gewichtszunahme entgegenzusteuern. Aus einer Magersucht vom asketischen Typ wird so eine Magersucht vom bulimischen oder binge-purging-Typ. Überschreitet eine Magersüchtige oder ein Magersüchtiger die BMI-Grenze von 17,5 nach oben, treffen die diagnostischen Kriterien einer Bulimia nervosa zu. Ebenso kann sich ausgehend von einer Esssucht oder einem Übergewicht zunächst ohne begleitende psychische Störungen eine Magersucht entwickeln. Auch bei Essstörungen ist es also sehr wichtig, eine genaue Anamnese über die Entwicklung der Krankheit über die Zeit zu erheben.

Epidemiologische Daten und Verlauf

Essstörungen sind Krankheiten, die hauptsächlich im Jugendalter beginnen. Magersucht manifestiert sich am häufigsten um das 14. Lebensjahr, die Bulimie etwa ein bis zwei Jahre später; über die Binge Eating Disorder gibt es noch keine ausreichenden Daten über Krankheitsbeginn und Häufigkeiten.

Von allen Essstörungen sind überwiegend Mädchen und junge Frauen betroffen; Männer erkranken seltener an Essstörungen. Bei Magersucht beträgt das Verhältnis etwa eins zu zehn. Die Prävalenz der Magersucht wird mit ungefähr einem Prozent in der hauptsächlich betroffenen Altersgruppe von 12 bis 25 Jahren angegeben, die der Bulimie mit ungefähr vier Prozent.

Übersichten über Verlaufsstudien sowohl von Anorexia nervosa als auch von Bulimia nervosa ergeben eine hohe Variabilität der Ergebnisse. Als grobe Orientierung gilt bei Magersucht, dass etwa zwei Drittel der Betroffenen ihre Krankheit überwinden oder soweit gebessert werden, dass sie mit ihrem Leben zurechtkommen; der Rest nimmt einen chronischen Verlauf oder stirbt im Zusammenhang mit der Magersucht. Bei Bulimie werden bis etwa 70 Prozent teilweise oder vollständige Remissionen (Heilungen) berichtet, bezogen auf die Diagnose einer Essstörung.

Bei der Beurteilung des Krankheitsverlaufes ist aber zu berücksichtigen, dass Essstörungen nicht selten von anderen psychischen Krankheiten begleitet werden wie affektive Störungen, Zwangskrankheiten, Persönlichkeitsstörungen, Abhängigkeit von Alkohol oder Drogen. Diese begleitenden psychischen Krankheiten können die Essstörung überdauern und das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen, auch wenn die Essstörung "geheilt" wurde.

Wir vermeiden den Begriff Heilung im Zusammenhang mit Essstörungen. Bei einzelnen Patientinnen haben wir immer wieder erlebt, dass - auch nach jahrelanger Symptomfreiheit - ausgelöst durch eine schwere Krise oder ein erhebliches seelisches Trauma (z.B. Tod eines Kindes) nahezu schlagartig ein Rückfall in vertraute anorektische oder bulimische Verhaltensweisen provoziert wird. Zwar ist rasche Hilfe möglich, wenn ein guter Kontakt zu einer therapeutischen Institution besteht; wir meinen, dass derartige Beobachtungen für eine vermutlich lebenslange potenzielle Gefährdung sprechen, und wir sehen Parallelen zu einer bleibenden Gefährdung eines Rückfalles nach einer überwundenen Abhängigkeit von Alkohol oder Nikotin.

Der Verlauf der Essstörungen kann durch zum Teil lebensbedrohliche medizinische Komplikationen beeinträchtigt werden. Magersüchtige sind stärker gefährdet als bulimisch Kranke. Es können nahezu alle Organsysteme betroffen werden, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Die Komplikationen reichen von akut auftretenden, bedrohlichen Symptomen wie Herzrhythmusstörungen bis zu langfristigen Störungen wie z.B. Osteoporose bei Magersucht oder die Entwicklung eines Bluthochdruckes als Folge des Übergewichtes bei einer Esssucht.

Ursachen der Essstörungen

Den Essstörungen liegt, wie auch anderen psychischen Krankheiten, eine komplexe Wechselwirkung zwischen biologischen, psychosozialen und soziokulturellen Faktoren zugrunde. Wir nehmen eine genetisch vermittelte Krankheitsdisposition an. Angehörige eines Familienmitgliedes mit Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa haben ein erhöhtes Risiko, eine Essstörung zu entwickeln. Vorstellbar sind Abweichungen in der biologischen Regulation des Hunger- und Sättigungsverhaltens bei Essgestörten. Ohne Zweifel werden Ergebnisse der aktuellen biologischen Forschung unsere Kenntnisse über einige Verhaltensweisen und Symptome von Essgestörten vermehren, wie etwa den Zusammenhang zwischen neurobiologischen Faktoren und dem merkwürdigen Bewegungsdrang vieler Magersüchtiger, der schon den Ärzten Ende des 19. Jahrhunderts aufgefallen ist.

Es gibt Risikofaktoren, die in der Persönlichkeit der Betroffenen liegen: Später Essgestörte haben als Kinder ein vermindertes Selbstwertgefühl, was aber keineswegs spezifisch ist für Essstörungen. Später Magersüchtige gelten schon als Kinder als sehr angepasst, folgsam, mit einem großen Bedürfnis nach Harmonie, dazu sind sie sehr leistungsorientiert mit einem Hang zur Perfektion. Von ihren Müttern werden sie nicht selten als sehr anstellige, verständige, zuverlässige "Musterkinder" geschildert. Aus therapeutischer Sicht verhalten sich nicht wenige später Magersüchtige schon früh erwartungsgerecht mit dem Wunsch nach Anerkennung und Liebe. Bulimisch Kranken wird bereits in ihrer Kindheit eine erhöhte Neigung zu impulsiven Handlungen zugeschrieben.

Die Familien Essgestörter spielen für die Erkrankung einer Tochter oder eines Sohnes eine wichtige Rolle. Die Vielfalt krankheitsauslösender oder -unterhaltender Interaktionsmuster wird weit mehr in langjähriger therapeutischer Erfahrung deutlich als in wissenschaftlichen Studien. Aus der Beschreibung von Betroffenen entstehen Bilder von nach außen intakten, sehr harmonischen, meist besonders leistungsorientierten Familien, die im Inneren kaum Individualität und Emotionalität zulassen. Es gibt aber mit Sicherheit keine bestimmte Familienstruktur und auch keine Form der Eltern-Kind-Beziehung, welche von vornherein für die Entstehung einer Magersucht oder einer Bulimie verantwortlich gemacht werden könnte. Vor dem Hintergrund des komplizierten Zusammenwirkens der verschiedensten ursächlichen Risikofaktoren ist auch die immer wieder von Angehörigen provozierte Frage einer Schuldzuweisung nicht hilfreich, sie ist überflüssig und vor allem nicht konstruktiv.

Gesellschaftliche Einflüsse

Die Bezeichnung Anorexia nervosa geht vermutlich auf eine Publikation des Londoner Internisten Sir William Gull aus dem Jahr 1874 zurück. Anfang 1888 hat derselbe Autor die Krankengeschichte eines 14-jährigen magersüchtigen Mädchens in der Zeitschrift "The Lancet" veröffentlicht. In einem ausführlichen Leserbrief dazu hat der Londoner Arzt W. S. Playfair in derselben Zeitschrift am 28. April 1888 folgendes festgestellt: "Ich habe viele Beispiele von jungen Mädchen gesehen, bei denen die Anorexie Folge belastender Studien für irgendwelche höheren Examina für Frauen war, wie sie jetzt so in Mode sind." Playfairs Erklärung der Magersucht umschreiben wir heute als Leistungsdruck.

Die Verpflichtung zu Höchstleistungen dient immer wieder als Erklärungsversuch für einen rätselhaften Krankheitsprozess, wenn in den Medien über die Erkrankung oder gar den Tod eines prominenten Mitgliedes unserer Gesellschaft berichtet wird. Hinzu kommt etwa seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein schlankes Schönheitsideal, dem sich vor allem Mädchen und junge Frauen verpflichtet fühlen. So gibt es unzählige Schlankheitskuren und Diäten, Verheißungen für Traumfiguren und ein reichhaltiges Angebot an Nahrungsmitteln mit einer aufgedruckten Unbedenklichkeitserklärung in Bezug auf eine Gewichtzunahme. Doch die Erfolge aller Bemühungen um eine schlanke Figur sind insgesamt wenig ermutigend, und es mehren sich auch in unserem Land die Hinweise auf eine Verschiebung der Figur in Richtung Übergewicht. Deshalb werden in unzähligen Familien regelmäßig im Frühjahr oder aus gegebenem Anlass wie dem des Beginns der Badesaison Diäten und Schlankheitskuren wiederholt. Da Kinder sich in ihrem Essverhalten zuallererst nach ihren Müttern richten, ist es kein Wunder, dass - wie wir aus der wissenschaftlichen Literatur und eigenen Untersuchungen wissen - schon 10-Jährige zu einem hohen Prozentsatz unzufrieden mit ihrer Figur sind. Etwa ein Drittel der Mädchen und Jungen haben in diesem Alter bereits etwas unternommen, um abzunehmen, das heißt gehungert, willentlich erbrochen oder extrem viel Sport getrieben. Natürlich werden nicht alle diese Kinder später magersüchtig oder erkranken an einer Bulimie. Aber die übertriebene Beschäftigung mit dem eigenen Aussehen und der eigenen Figur gilt in der wissenschaftlichen Literatur als ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer Essstörung. Es bedarf nur wenig Phantasie, sich vorzustellen, dass ein selbstunsicheres Mädchen ihre erfolgreiche Methode abzunehmen - und dabei womöglich noch hervorragende Leistungen zu erbringen - als einen geheimen Schlüssel zum Glück empfinden muss, zumal dann, wenn Angehörige und Freundinnen in ihrer nächsten Umgebung im gleichen Bemühen wenig erfolgreich sind und sie deshalb Beifall und Bewunderung von Eltern, Geschwistern oder Freunden erntet.

Das schlanke Schönheitsideal in der westlich geprägten Welt, verbunden mit einer ideologisierten Verpflichtung zu Fitness, ist der wichtigste soziokulturelle Faktor für die Entstehung von Essstörungen. In vielen Bereichen in unserer Gesellschaft scheint die Vorgabe einer schlanken, mageren Figur durch die Models auf fruchtbaren Boden zu fallen: nicht zuletzt in der Werbung und natürlich in der Mode. In einer breit angelegte Initiative der spanischen Regierung zur Erforschung, Behandlung und Prävention von Essstörungen werden u.a. auch Modedesigner, Hersteller von Konfektionskleidung und Verbände von Berufsmodels einbezogen.

Die Rolle, die dem modernen Schlankheitsideal für die Entstehung der Essstörungen heute zugeschrieben wird, führt zu der Frage, ob die Häufigkeit der Essstörungen in den letzten 50 Jahren zugenommen hat. Anhand einer umfangreichen Metaanalyse der wichtigsten im 20. Jahrhundert publizierten Inzidenzraten kommen P. Keel und P. Klump zu unterschiedlichen Ergebnissen für Anorexia nervosa und Bulimie: Die Autorinnen fanden einen mäßigen Anstieg der Inzidenz für Anorexie in den letzten 50 Jahren, aber eine deutliche Zunahme der Häufigkeit von Bulimia nervosa. Unter Einbeziehung historischer Betrachtungen und von transkulturellen Studienergebnissen kommen sie zu folgendem Ergebnis: Für das Auftreten der Anorexia nervosa gibt es frühe historische Belege. Sie kommt auch in Kulturen ohne westlichen Einfluss, das heißt ohne ein entsprechendes Schönheitsideal, vor und hat in der Ära des Figurbewusstseins nur gering an Häufigkeit zugenommen. Hingegen hat die Bulimia nervosa in den letzten Jahrzehnten deutlich an Häufigkeit zugenommen; sie kommt in Völkern außerhalb eines westlichen Einflusses kaum vor, und es gibt auch keine historischen Belege für diese Krankheit. Die Autorinnen folgern: Die Bulimia nervosa ist ein kulturgebundenes Syndrom, nicht aber die Anorexia nervosa. Für die Entstehung der Anorexie ist nämlich nach Meinung der Autorinnen ein abnormes Figurbewusstsein nicht notwendig, wohl aber für die Entwicklung einer Bulimie - vor dem Hintergrund eines überreichlichen Nahrungsangebotes und der Verfügbarkeit kompensatorischer Maßnahmen zur Verhinderung einer Gewichtszunahme. Unser schlankes Schönheitsideal ist also als soziokultureller Faktor in unserer Zeit für die Entstehung einer Bulimia nervosa besonders wirksam, aber von geringem Einfluss bei der Anorexia nervosa.

Eine unterschiedliche Meinung vertreten E. G. Liles und S. C. Wood: Sie kommen nach eingehender Beschäftigung mit historischen Aspekten zu dem Schluss, die Anorexia nervosa sei kulturgebunden, weil Magersüchtige unter bestimmten ökonomischen und sozialen Umständen durch ihre Nahrungsverweigerung Kontrolle, Aufmerksamkeit und Respekt ihrer Umgebung gewinnen können. Auch Walter Vandereycken, Ron van Deth und Rolf Meermann bezeichnen das "Selbstaushungern" in seiner geschichtlichen Dimension als ein kulturabhängiges Syndrom, geprägt durch die kulturelle Verschiedenheit der Epochen. Die Fastenheiligen, Wundermädchen oder Hungerkünstler, von denen in ihrer Kulturgeschichte der Essstörungen die Rede ist, sind für die Autoren keine Belege für das frühe Vorkommen der heutigen Krankheit Magersucht. Gerade das Selbstwertgefühl in Abhängigkeit von Aussehen und Figur, also dem Schönheitsideal unserer Zeit, das seit 1994 ein diagnostisches Kriterium für Magersucht darstellt, lässt sich nach Meinung der Autoren auf das Leben mittelalterlicher Heiliger oder anderer historischer Magersüchtiger nicht übertragen.

In der gegenwärtigen Forschung scheint die Rolle gesellschaftlicher Einflüsse thematisch etwas an Bedeutung zu verlieren zugunsten neurobiologischer und vor allem genetischer Untersuchungen. Unabhängig davon wünschen wir uns in der Gesellschaft eine zunehmende Wahrnehmung der Tatsache, dass es sich bei den Essstörungen um ernste, potenziell lebensbedrohliche Krankheiten vorwiegend junger Menschen handelt und nicht um einen Schlankheitstick oder eine pubertäre Marotte, wie der Name Pubertätsmagersucht suggerieren kann. Erstaunlich viele am Krankheitsgeschehen Beteiligte favorisieren noch immer diese Vorstellungen.

Die Meinung der Betroffenen

Magersüchtige und bulimisch Kranke setzen sich nicht mit historischen oder epidemiologischen Daten oder Theorien zur Krankheitsentstehung auseinander. Sie sind mit sich und ihrer Ideologie sowie ihren zwanghaften Gedanken vollauf beschäftigt. Die meisten unserer Patientinnen erinnern sich, wie die Essstörung begonnen hat. Sie berichten von einem belanglosen Vorfall, einer Hänselei, einer väterlichen Bemerkung über die körperliche Entwicklung der Tochter. Auslöser - nicht Ursache! - können aber auch gravierende Ereignisse sein, der Verlust einer nahen Bezugsperson, die drohende Scheidung der Eltern oder die Angst vor künftigen Anforderungen. Vor dem Hintergrund eines krankhaft überhöhten Leistungsanspruches ("Nur die beste Eins in der Klasse hat gezählt ...") und einer starken Außenorientierung werden anstehende Entscheidungen zu einem schier unüberwindlichen Hindernis. Die freiwillige Leistung, an Gewicht abzunehmen, wird zu einem an der Waage ablesbaren Erfolgserlebnis, und allmählich treten reale Probleme in den Hintergrund, verlieren an Bedeutung vor der für Magersüchtige existenziellen Frage: Wieviel habe ich abgenommen, was muss ich tun, um noch mehr Kalorien zu verbrauchen? Eine sich entwickelnde Essstörung übernimmt eine existenzielle Funktion im Leben des betroffenen Individuums. Magersucht schützt in ihrem Erleben vor den täglichen Widrigkeiten und verleiht Macht über diejenigen, die sich zunehmend Sorgen machen. Heißhungerattacken werden zu einem Ventil für aufgestaute Gier nach Genüssen, die sie sich lange verboten haben, ein Mittel zur vorübergehenden Betäubung nach Frustrationen, Kränkungen und Verletzungen. Über mehr oder weniger lange Zeit erhöhen Essstörungen das Selbstwertgefühl, und die Betroffenen sind davon überzeugt, freiwillig zu handeln. Sie glauben auch fest daran, ihr abnormes Essverhalten, ihre exzessiven sportlichen Betätigungen, ihren abnorm großen Verbrauch an Medikamenten zum Abführen und Entwässern jederzeit von heute auf morgen beenden zu können. Natürlich erinnert das an die Einstellung vieler Süchtiger, gleich welcher Art. Und doch wissen nicht wenige Essgestörte, dass sie die freie Entscheidung über das eigene Verhalten längst verloren haben, dass sie so handeln müssen, auch wenn es schon lange nicht mehr um eine ideale Figur geht und "gutes" Aussehen und obwohl ihr Verhalten sie allmählich in Vereinsamung führt, alle Freunde verschreckt und verprellt sind, wenn Depression und körperliche Beschwerden zunehmen. Auch in diesem Stadium besteht eine hohe Ambivalenz gegenüber therapeutischen Angeboten. Die Furcht, etwas inzwischen Vertrautes hergeben zu müssen ist groß, und die Essstörung wirdvon einigen regelrecht personifiziert, als eine Art Partner beschrieben, der sie umwirbt, lobt oder beschimpft, sollten sie in einem schwachen Moment Abstriche vom täglichen Leistungsprogramm erwägen oder gar den Ekelgefühlen nachgeben und eine Behandlung anstreben.

Je länger eine Essstörung besteht, desto schwieriger ist es, die Betroffenen zu einer Behandlung zu motivieren. Sie sagen, den Zeitpunkt für eine Behandlung bestimmten nur sie alleine. So kann der plötzliche Entschluss, sich in eine Therapie zu begeben, auf unbestimmte Zeit verschoben werden, weil die Telefonnummer der empfohlenen therapeutischen Institution beim ersten Wählen belegt war. Mit extrem niedriger Frustrationstoleranz liegen sie auf der Lauer, um den geringsten Grund zu nutzen, eine Therapie nicht machen zu können. Essgestörte sind wahrlich schwierig im Umgang.

Therapeutische Möglichkeiten

Essstörungen sind, was ihre Behandlung betrifft, aufwendige Krankheiten. Ihr Verlauf ist selten geradlinig, Therapien müssen oft wiederholt werden. Gründe dafür sind nicht nur die lange Krankheitsverleugnung der Betroffenen und ihre oft ungenügende Motivation, sich behandeln zu lassen. Auch die Bereitschaft zu einer Psychotherapie ist nicht sehr groß, wie wir aus jahrelanger Beratungstätigkeit wissen, weder bei den Betroffenen noch ihren Angehörigen. Zudem fehlt es außerhalb der Ballungsräume an geeigneten Behandlungsplätzen, ganz besonders für jugendliche Patientinnen und Patienten. Auch mangelt es, nicht zuletzt aus ungeklärten Kostenfragen, an einer organisierten Nachsorge.

Psychotherapie ist die Methode der Wahl für die Behandlung von Essstörungen. Angeboten wird eine breite Palette verschiedener Methoden. Nach unserer Überzeugung hat sich die kognitive Verhaltenstherapie am besten bewährt. Therapien können ambulant, teilstationär oder vollstationär durchgeführt werden. Bei starkem Untergewicht, gravierenden medizinischen Komplikationen, bei mehrmals täglichen Heißhungeranfällen oder bei gescheiterten Vorbehandlungen sind intensive, meist stationäre Behandlungen unerlässlich.

Bei Anorexia nervosa haben Behandlungsversuche mit Psychopharmaka zu keinen befriedigenden Ergebnissen geführt; für die Behandlung der Bulimie sind diese Medikamente - stets in Kombination mit psychotherapeutischen Maßnahmen - günstiger zu beurteilen. Bei einzelnen Patientinnen und Patienten können zur Beeinflussung von Angst- und Spannungszuständen oder schweren depressiven Verstimmungen geeignete Psychopharmaka eine große Hilfe sein.

Das Therapiekonzept des Münchner Therapie-Centrums für Essstörungen (TCE)

Die einzigen Menschen, die eine essgestörte Patientin oder einen essgestörten Patienten wirklich verstehen können, sind Essgestörte. In unserer seit 1989 auf Essstörungen spezialisierten Behandlungseinheit finden alle therapeutischen Maßnahmen überwiegend in der Gruppe statt. Das Verständnis füreinander, die überwiegende Bereitschaft, einander zu helfen, und die Vertrautheit mit den Gedankengängen Essgestörter sind eine große Bereicherung für das Therapiekonzept und das therapeutische Team.

Unser Therapieprogramm ist inhaltlich und zeitlich strukturiert. Wir behandeln bevorzugt in geschlossenen Gruppen über einen definierten Zeitraum. Das Programm ist kognitiv-verhaltenstherapeutisch orientiert und basiert auf dem Prinzip des Selbstmanagements. Das Programm ist in zeitlich aufeinander folgende Phasen gegliedert, nämlich eine ambulante Motivationsphase, eine teilstationäre Phase und eine ambulante Nachbehandlung. Regelmäßige Nachuntersuchungen sind Teil des Konzepts.

Das Therapieprogramm setzt sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen, darunter Ernährungstherapie mit täglichem Esstraining, kognitive Verhaltenstherapie (Psychoedukation), Körperwahrnehmungs- und Entspannungstherapie und kreative Therapie. Seit 1993 unterhalten wir therapeutische Wohngemeinschaften mit zur Zeit 30 Plätzen, verteilt auf acht Wohnungen. Die Teilnahme an diesem Programm ist an eine Behandlung im TCE gebunden und endet mit Beendigung der Therapie.

Im Laufe der Zeit hat sich das Wohnprogramm neben der Gruppenbehandlung zum wichtigsten therapeutischen Baustein entwickelt. Es dient der praktischen Umsetzung der Ernährungstherapie und des Esstrainings; es bietet die Möglichkeit, den oft bestehenden Rückstand in der Sozialisation aufzuholen, Nähe und Distanz und Toleranz zu üben. Das Programm vermindert Isolationstendenzen und reduziert Rückfälle. Auch hier erleben wir die Hilfe untereinander als beeindruckend.

Ziele unserer Behandlung sind das Wiedererlernen eines normalen, nicht angstbesetzten Essverhaltens und eine Akzeptanz des Körpergewichts in normalen BMI-Bereichen sowie eine Förderung der Lebenskompetenz.

Aktivitäten zur Prävention

In unserem Therapieprogramm werden die Patientinnen und Patienten zu schriftlichen Aufzeichnungen und Berichten - etwa über ihre Krankengeschichte, über den Therapieverlauf oder eine abschließende Bilanz - verpflichtet. Weil sie außerdem darin geübt sind, Probleme anzusprechen und darüber zu diskutieren, nehmen sie seit Jahren an allen unseren präventiven Aktivitäten teil. Unter ihrer Mitarbeit bemühen wir uns, über Essstörungen zu informieren und aufzuklären. In diesem Zusammenhang ist mit Unterstützung des Bayerischen Gesundheitsministeriums eine Wanderausstellung zum Thema Essstörungen entstanden, welche im Kulturzentrum Am Gasteig in München Anfang 2001 eröffnet wurde und seither in mehreren Städten präsentiert wurde. Der Titel der Ausstellung "Is(s) was ?!" stammt von einer Magersüchtigen und die zugehörige Figur von einer anderen Patientin. Die Doppeldeutigkeit des Titels reflektiert zusammen mit der gebieterischen Gebärde die Erfahrungen vieler Essgestörter. Die Ausstellung besteht aus bebilderten Tafeln mit Informationen zum Thema Essstörungen und aus Bildern von Patientinnen, die das Erleben ihrer Krankheit ausdrücken. Bis jetzt haben mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler diese Ausstellung besucht. Sie hat sich als ein brauchbares Medium erwiesen, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. In der Praxis verwischen sich dabei primäre und sekundäre Prävention, weil sich nach unserer Erfahrung nach einer Präsentation unserer Ausstellung immer wieder Betroffene bereit finden, eine Therapie zu machen.

Unsere Anstrengungen, diesen quälenden Krankheiten im Verbund mit den Betroffenen entgegenzuwirken, rechtfertigen sich nicht zuletzt aus einem Text, den eine 16-jährige Basler Patientin unserer Ausstellung hinzugefügt hat:

"Ich wurde einst als Samen in die Erde gesetzt.

Ich fing an zu sprießen und zu wachsen.

Nun bin ich ein junger Baum, doch kann ich nicht wachsen, wie ich möchte.

Ein Baum darf nicht zu breit, nicht zu schräg, nicht zu hoch und nicht zu krumm sein.

Nein, jeder Baum ist verpflichtet, schön anständig zu wachsen.

Ich würde gern so wachsen wie ich will, doch es ist, wie wenn Zäune um mich gebaut wurden, die meinen Ästen keinen Platz lassen, die mich einengen.

Ich befürchte, als alter Baum werde ich denken, ich bin nicht gewachsen, wie ich wollte.

Und es würde zu spät sein."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-IV, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1996 (Deutsche Bearbeitung und Einführung von H. Saß/H.U. Wittchen/M. Zaudig).

  2. Vgl. H. Dilling/W. Mombour/M.H. Schmidt (Hrsg.), Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD 10, Kapitel V), Bern 1993.

  3. Vgl. M.J. Devlin/J.A. Goldfein/I. Dobrow, What is this thing called BED? Current status of binge eating disorder nosology, in: International Journal Eat Disord, 34 (2003), S. 2 - 8.

  4. Vgl. H.C. Steinhausen, The outcome of anorexia nervosa in the 20th century, in: American Journal of Psychiatry, 159 (2002) 8, S. 1284 - 1293.

  5. Vgl. N. Quadflieg/M.M. Fichter MM, The course and outcome of bulimia nervosa. Europ Child Adolescent, in: Psychiatry, 12 (2003) [Suppl. 1], S. 99 - 109.

  6. Vgl. ebd.

  7. Vgl. L.R. Lilenfeld/W.H. Kaye u.a., A controlled family study of anorexia nervosa und bulimia nervosa: psychiatric disorders in first-degree relatives and effects of proband comorbidity, in: Archiv General Psychiatry, 55 (1998) 7, S. 603 - 610.

  8. Vgl. J. Hebebrand/C. Exner u.a., Hyperactivity in patients with anorexia nervosa and in semistarved rats: evidence for a pivotal role of hypoleptinemia, in: Physiological Behavior, 79 (2003) 1, S. 25 - 37.

  9. Vgl. P. M. Keel/K. L. Klump, Are eating disorders culture-bound syndromes? Implications for conzeptualizing their etiology, in: Psychological Bulletin, 129 (2003), S. 747 - 769.

  10. Vgl. E.G. Liles/S.C. Woods, Anorexia nervosa as viable behaviour: extreme self-deprivation in historical context, in: History of Psychiatry, (1999), S. 205 - 225.

  11. Vgl. W. Vandereycken/R. van Deth/R. Meermann, Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen, Weinheim-Basel-Berlin 2003.

  12. Vgl. U. Schmidt, Aetiology of eating disorders in the 21. century. New answers to old questions. Europ Child Adolescent, in: Psychiatry, 12 (2003) [Suppl. 1], S. 30 - 37.

  13. Vgl. W. S. Agras, The consequences and costs of the eating disorders. The Psychiatric Clinics of North America, 24 (2001), S. 371 - 379.

  14. Vgl. M. Gerlinghoff/H. Backmund, Was sind Ess-Störungen? Ein kleines Handbuch zur Diagnose, Therapie und Vorbeugung, Weinheim-Basel 2000.

Dr. med., geb. 1939; Oberärztin am Max-Planck-Institut für Psychiatrie und Leiterin des Therapie-Centrums für Essstörungen, München.
Anschrift: Max-Planck-Institut für Psychiatrie, Therapie-Centrum für Essstörungen, Schleißheimer Straße 267, 80809 München.
E-Mail: E-Mail Link: twg@psy2000.de

Dr. med., geb. 1931; Nervenarzt, München.
Anschrift: wie M. Gerlinghoff.
E-Mail: E-Mail Link: twg@psy2000.de

Veröffentlichungen von M. Gerlinghoff und H. Backmund u.a.: Therapie der Magersucht und Bulimie. Anleitung zu eigenverantwortlichem Handeln, Weinheim 1995; (zus. mit Norbert Mai) Magersucht und Bulimie. Verstehen und bewältigen, Weinheim 2001(3); Essen will gelernt sein, Weinheim 2003.