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Verhasster Vertrag | Pariser Friedensordnung | bpb.de

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Verhasster Vertrag "Versailles" als Propagandawaffe gegen die Weimarer Republik

Eckart Conze

/ 11 Minuten zu lesen

Nach dem Ersten Weltkrieg instrumentalisierten demokratiefeindliche Kräfte den Versailler Vertrag für ihre Hetze gegen die Weimarer Republik. Das Scheitern der ersten deutschen Demokratie auf den Friedensschluss zurückzuführen, ist jedoch eine verkürzte Darstellung.

"Nun wird – wenn die Ermattungsepoche vorbei sein wird – der Friede diskreditiert sein, nicht der Krieg." Max Weber, der Soziologe, der im Mai 1919 als Berater der deutschen Delegation einige Tage in Versailles verbrachte, sollte Recht behalten. Nicht nur der Versailler Vertrag, auch die Dokumente von Saint-Germain, Trianon, Neuilly und Sèvres galten schon den Zeitgenossen als schlechte Verträge. Auch in den Siegerstaaten fanden sich kaum Verteidiger. Zu den profiliertesten Kritikern zählte der in Cambridge lehrende Ökonom John Maynard Keynes, der in Paris der britischen Delegation angehörte und in Deutschland zum Kronzeugen all derer wurde, die den Versailler Vertrag für unvertretbar hielten. Selbst der ehemalige italienische Ministerpräsident Francesco Nitti, der 1919 den Versailler Vertrag eigenhändig unterschrieben hatte, konnte zwei Jahre später in dem Friedensschluss nichts anderes mehr erkennen als ein "Mittel zur Fortsetzung des Krieges".

Deterministisches Geschichtsnarrativ

Am negativen Urteil der Zeitgenossen änderte sich auch in den folgenden Jahrzehnten wenig. Die Siegermächte, insbesondere Großbritannien, aber auch Frankreich, reagierten zurückhaltend auf die aggressive deutsche Außenpolitik nach 1933, weil sie es für legitim hielten, dass Deutschland sich aus den "Ketten von Versailles" befreite – und verkannten, dass es Hitler nicht nur um Versailles ging, sondern um Hegemonie und rassenideologisch bestimmte Expansion.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich zwar die Bewertung der deutschen Außenpolitik, nicht aber das Bild von Versailles. Noch 1984 schrieb der amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan in der "New York Times", die "Rachsucht der britischen und französischen Friedensbedingungen" habe dem Nationalsozialismus und einem weiteren Krieg den Boden bereitet. Der Zweite Weltkrieg sei das Ergebnis "des dummen und demütigenden Straffriedens" gewesen, der Deutschland auferlegt worden sei. Der britische "Economist" urteilte in seiner Millenniumsausgabe 1999/2000, das letzte Verbrechen im Ersten Weltkrieg sei der Versailler Vertrag gewesen, dessen harte Bedingungen einen weiteren Krieg unausweichlich gemacht hätten.

Das Ende der Weimarer Republik, der Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten und schließlich der Zweite Weltkrieg haben den Versailler Vertrag und die Pariser Friedensordnung von 1919/20 nachhaltig diskreditiert. Das Vertragswerk und seine Folgen wurden mit dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen in Verbindung gebracht: 1933 und 1939 bestimmten den Blick auf den Friedensschluss, der in diesem Licht kaum eine Chance auf unvoreingenommene Beurteilung hatte. So wie der 9. November 1918 bis vor Kurzem nicht als echte Revolution und hoffnungsvoller Anfang einer Demokratie wahrgenommen wurde, sondern nur als Beginn einer Entwicklung, die zur Zerstörung der Republik und zur Machtübernahme der Nationalsozialisten führte, so wurde auch der Versailler Vertrag zum integralen Bestandteil eines deterministischen Geschichtsnarrativs. Für die Offenheit der Zukunft, die Wahrnehmung der Zeitgenossen von 1919, war darin wenig Platz.

Umso mehr Raum bot diese Erzählung nach 1945 für exkulpierende Argumente. Schon in den 1930er Jahren hatten viele Deutsche die große Zustimmung zum Nationalsozialismus mit Versailles erklärt. Nun begründeten ehemalige Anhänger des Regimes, warum sie in die NSDAP eingetreten waren: nicht aus ideologischer Überzeugung und antisemitischem Eifer, sondern weil man es den Nationalsozialisten zutraute, den ungeliebten Versailler Vertrag zu überwinden.

Aber war der Vertrag, wenn man ihn unvoreingenommen aus seiner Zeit heraus betrachtet und nicht sofort in die Perspektive von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg rückt, wirklich so schlecht? Die emotional aufgeladene Wahrnehmung hat schon in den Jahren nach 1919 den Blick auf die Möglichkeiten verstellt, die der Vertrag einer friedlichen Entwicklung in Europa eröffnete. Tatsächlich beließ er auch dem Deutschen Reich durchaus Chancen. Versailles war kein milder, aber auch kein "karthagischer Frieden", wie es nach 1919 immer wieder hieß. Bei allen Gebietsverlusten und Reparationen, allen wirtschaftlichen Schwächungen und Belastungen blieb Deutschland nicht nur als Staat, sondern – anders als 1945 – auch als europäische Macht, als potenzielle Großmacht erhalten.

Kernfrage Reparationen

Die Deutschland auferlegte Reparationslast galt und gilt vielen Kritikern als Beweis für den harten Strafcharakter des Versailler Vertrages. Dabei wurde in Paris zwar eine deutsche Reparationsverpflichtung festgelegt, die Höhe jedoch offengelassen. Das war dem Zeitdruck geschuldet, unter dem die Siegermächte 1919 standen, aber auch den Meinungsunterschieden in dieser Frage: Die Alliierten konnten sich nicht auf eine Summe einigen. Erst 1921 legte man die Höhe der Zahlungen auf 132 Milliarden Goldmark fest – und forderte die Deutschen ultimativ auf, diesen Betrag zu akzeptieren.

Der Aufschrei in Deutschland war gewaltig. Kaum einer wollte 1921 noch wissen, dass die Deutschen zwei Jahre zuvor selbst eine (allerdings zinsfreie) Reparationszahlung in Höhe von 100 Milliarden Goldmark vorgeschlagen hatten; und kaum einer erinnerte sich noch daran, dass eine erste Gesamtforderung von britischer Seite auf 220 Milliarden Mark beziffert worden war. Diese Zahl kursierte im britischen Parlamentswahlkampf Ende 1918, in dem sich die Parteien mit astronomischen Reparationssummen zu überbieten versuchten. "Germany must pay", darüber war man sich einig, und Minister Eric Geddes konnte sich breiter Zustimmung sicher sein, als er forderte, "die deutsche Zitrone auszupressen, bis ihre Kerne quietschen".

Die 132-Milliarden-Forderung von 1921 war in der Reparationsfrage noch lange nicht das letzte Wort. Die folgenden Jahre zeigten vielmehr, dass es den Alliierten nicht darum ging, eine absolute Summe durchzusetzen, sondern die Lasten und den Zahlungsmodus der deutschen Leistungsfähigkeit anzupassen und so zur wirtschaftlichen und politischen Stabilisierung des Landes beizutragen. Dafür freilich mussten alle Beteiligten, vor allem Frankreich und Deutschland, ihre Politik der Konfrontation hinter sich lassen, die 1923 mit der französischen und belgischen Besetzung des Ruhrgebietes und der deutschen Hyperinflation in die Katastrophe geführt hatte.

Unter wesentlicher Beteiligung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, die Europa ökonomisch nach 1919 keineswegs den Rücken kehrten, kam es 1924 zum Dawes-Plan, der zwar die Gesamthöhe der Reparationen nicht veränderte, die jährlichen Zahlungen aber an die Wirtschaftskraft Deutschlands koppelte. Fünf Jahre später senkte der Young-Plan, an dessen Aushandlung die USA erneut führend beteiligt waren, die Reparationssumme auf 36 Milliarden Reichsmark und damit auf einen Betrag deutlich unter dem von 1921. Im Schatten der Weltwirtschaftskrise kam es schließlich 1931 zu einem Zahlungsmoratorium und 1932 zum faktischen Ende der Reparationen.

Die Weimarer Republik konnte von diesem enormen Erfolg allerdings nicht mehr profitieren. Sie befand sich im Sommer 1932, als die Reparationen gestrichen wurden, bereits in ihrer Agonie – bittere Ironie, weil es vor allem die Reparationen waren, mit denen die rechten Republikfeinde das Vertrauen in den demokratischen Staat und die Parteien von Anfang an zu erschüttern versucht hatten.

"Versailles" gegen Weimar

Von 1919 an war "Versailles" eine Waffe im Kampf gegen die Republik. Vier Wochen nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages und zwei Wochen nach seiner Ratifizierung appellierte Regierungschef Gustav Bauer (SPD) an die Nationalversammlung, "die Abrechnung über die Schuld dafür, dass alles so gekommen ist", nun beiseitezulassen und "nach vorn zu sehen und Blick und Schritt vorwärts zu richten". Doch dieser Wunsch erfüllte sich nicht. Die Vergangenheit ruhte nicht, weder im Parlament noch in der deutschen Gesellschaft.

Bis an ihr Ende stand die Weimarer Republik im Schatten des Krieges und des Kaiserreiches. Gerade in den permanenten Debatten um den Versailler Vertrag und die Reparationen ging es nie nur um außenpolitische Fragen, das Verhältnis zu anderen Mächten und die Umsetzung der Friedensbestimmungen. Die Auseinandersetzung war stets auch eine innenpolitische und gesellschaftliche, in der die Republik über ihr Verhältnis zum Kaiserreich, über dessen politische Verfassung, seine Machtstrukturen und seine Eliten stritt – und damit auch über sich selbst und die demokratisch-parlamentarische Ordnung, die sich seit November 1918 zu entwickeln begann.

Versailles war in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik omnipräsent. Der Protest gegen den Vertrag, so hat es den Anschein, einte die Deutschen weit über das Jahr 1919 hinaus. Doch das ist ein oberflächlicher Befund, denn die geschlossene Ablehnung des Vertrages und der Wille, ihn zu revidieren, trugen weder zur Überwindung politischer und sozialer Gegensätze bei noch zur Stabilisierung der Republik, geschweige denn zur Akzeptanz der parlamentarischen Demokratie. Der Anti-Versailles-Konsens richtete die Deutschen auf ein negatives Ziel aus, er entfaltete keine konstruktive Wirkung.

Schon im Juni 1919 zeigte sich in den heftigen Auseinandersetzungen über die Annahme oder Ablehnung der Friedensbedingungen, das Unterschreiben oder Nichtunterschreiben des Vertrages, die tiefe Zerrissenheit der Gesellschaft. Die Lager allerdings, die sich in dieser Frage gegenüberstanden, in der Nationalversammlung wie in der Öffentlichkeit, waren nicht im Dissens über die Friedensfrage entstanden. In ihnen verlängerten sich die politischen Konfliktlinien des späten Kaiserreiches, der Kriegsjahre und der Revolutionsmonate in die Republik hinein.

Versailles verschaffte den nationalistischen und antidemokratischen Kräften des späten Kaiserreiches eine Möglichkeit, ihren Nationalismus an ein konsensfähiges Thema zu binden. Für sie eröffnete sich die Chance, den antidemokratischen Nationalismus, der sich in der rechtsradikalen Vaterlandspartei gesammelt hatte, nach den Erschütterungen des Kriegsendes, der Revolution und der Republikgründung wieder zu stabilisieren und ihm eine unverdächtige Stoßrichtung zu geben. Mit dem Kampf gegen Versailles konnte man das eigentliche Ziel, die Überwindung der Demokratie, gut tarnen.

Vor diesem Hintergrund gewann auch die Kriegsschuldfrage, das zentrale Element des Anti-Versailles-Konsenses, eine Bedeutung, die weit über den im berühmten Artikel 231 artikulierten Zusammenhang von deutscher Kriegsschuld und Reparationsverpflichtung hinausging. Für die politische Rechte war die Zurückweisung des Kriegsschuldvorwurfs – den die Alliierten umso schärfer erhoben, je stärker die Deutschen jede Schuld von sich wiesen – ein Mittel, die politische und militärische Führung des Kaiserreiches zu entlasten, ja zu rehabilitieren. Dadurch wurde von Anfang an die alte autoritäre Ordnung gegen die Republik in Stellung gebracht.

Nur wenige erkannten, welches antirepublikanische Potenzial der von rechts angetriebenen "Schuldfragenbewegung" innewohnte, wie sie der Sozialdemokrat Carlo Mierendorff nannte. 1924 schrieb Eduard Bernstein, sozialistisches Urgestein, an Karl Kautsky, der 1918/19 für den Rat der Volksbeauftragten Untersuchungen zum Kriegsbeginn angestellt hatte: "Von der These aus, dass das kaiserliche System nicht allein schuld am Kriege sei, (…) ist es leicht, den Massen plausibel zu machen, dass das Kaisertum zu Unrecht gestürzt worden sei und die ‚Judenrepublik‘ und ihre Erfüllungspolitik an allem Übel schuld seien, unter dem Deutschland leide."

Genau darum ging es. Genau dafür wurden Versailles und die Kriegsschuldfrage instrumentalisiert. Versailles war nicht die Ursache für den rechten Hass auf die Republik und ihre demokratischen Repräsentanten (der von Anfang an antisemitisch aufgeladen war), aber dieser Hass fand im Friedensschluss neue Nahrung und in den Augen seiner Träger neue Bestätigung. Schon in den 1920er Jahren erkannte Adolf Hitler in jedem Versuch der Weimarer Regierungen, aus der Konfrontation mit den Kriegsgegnern heraus zu Versöhnung und Verständigung zu gelangen, nichts anderes als die Auslieferung des Deutschen Reiches an die "internationalen Volksausbeuter zu Versailles". In Deutschland, so schrieb Hitler im zweiten Band von "Mein Kampf", wechselten "Entwaffnungs- und Versklavungsedikte, politische Wehrlosmachung und wirtschaftliche Ausplünderung einander ab, um endlich moralisch jenen Geist zu erzeugen, der im Dawesplan ein Glück und im Vertrag von Locarno einen Erfolg zu sehen vermag".

Das war die Haltung, aus der sich 1929 die Kampagne gegen den Young-Plan speiste. Obwohl der Young-Plan einen großen Fortschritt in der Reparationsfrage darstellte, wurde er von der Rechten unter Führung der aufstrebenden Nationalsozialisten radikal bekämpft. Für die NSDAP offenbarte der Plan, der Zahlungsverpflichtungen bis 1988 vorsah, die dauerhafte Fesselung Deutschlands durch den Versailler Vertrag. Zwar scheiterte das Volksbegehren "gegen die Versklavung des deutschen Volkes", aber die Kampagne demonstrierte doch die hohe Mobilisierungskraft des Anti-Versailles-Affektes in der deutschen Gesellschaft. Einmal mehr setzte die völkische Rechte auf ihn, um einen Frontalangriff gegen die republik- und demokratiebejahenden Kräfte zu starten.

Ursache des Nationalsozialismus?

Der Aufstieg der Nationalsozialisten und vor allem ihr starkes Ergebnis bei der Reichstagswahl 1930, als die NSDAP 18,3 Prozent der Stimmen erreichte und zweitgrößte Fraktion im Reichstag wurde, sind ohne den Mobilisierungseffekt der Anti-Young-Plan-Kampagne nicht zu verstehen. Darauf reduzieren jedoch lässt sich der Wahlerfolg keineswegs – vor allem die desaströsen Folgen der Weltwirtschaftskrise haben den Nationalsozialisten zum Durchbruch verholfen. Doch selbst ein kluger Beobachter wie der liberale Historiker Friedrich Meinecke urteilte verkürzend, wenn er 1930 mit Blick auf die Kampagne gegen den Young-Plan davon sprach, dass der Versailler Frieden "die letzte und stärkste Ursache des Nationalsozialismus" sei.

Wer den Erfolg der NSDAP allein durch den Versailler Vertrag und seine Folgen erklärt, verschreibt sich in der Regel geschichtspolitischen Zielen und möchte Deutschland von historischer Verantwortung freisprechen. Bisweilen arbeitet sich eine solche Apologetik schon an der Frage ab, wer den Ersten Weltkrieg begonnen habe und was dies für den Friedensschluss bedeute. Bereits 1922 machte der nationalistische Publizist Max Hildebert Boehm aus der in Versailles aufgeworfenen "Kriegsschuldfrage" die "Friedensschuldfrage". Der Vorwurf zielte gleichermaßen auf die deutschen Demokraten wie die alliierten Mächte. Wenn das Kaiserreich nicht die alleinige Schuld am Ersten Weltkrieg trage oder auch nur eine herausgehobene Verantwortung habe, war dann der Frieden von Versailles nicht ein falscher Frieden? Solche Stimmen waren auch 2014 rasch zu vernehmen, als Deutschland kontrovers über Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" diskutierte. Sie beriefen sich nicht zuletzt auf den britischen Premier David Lloyd George, der in seinen Kriegserinnerungen 1933 erklärt hatte, Europa sei 1914 in den Krieg "hineingeschlittert".

Tragen dann am Ende die Sieger des Weltkrieges, die Deutschland den Friedensvertrag aufzwangen, Verantwortung für die Dauerkrise der Weimarer Republik, ja sogar für den Aufstieg und die Machtübernahme der Nationalsozialisten? Wer heute für ein neues deutsches Selbstbewusstsein wirbt, der macht nicht selten ein Bestreben anderer Mächte aus, Deutschland durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch in einer Position der Inferiorität zu halten. Das Kaiserreich werde, so konnte man nicht 1920, sondern in der Debatte von 2014 lesen, in ein schlechtes Licht gerückt, als autoritär und aggressiv charakterisiert, ihm werde noch 100 Jahre später die Kriegsschuld zugeschoben, um Deutschland davon abzuhalten, mit einer selbstbewussten Außenpolitik seine legitimen Interessen in der Welt zu vertreten.

Alte Dämonen

In dieser Perspektive gewinnen der Versailler Vertrag und die Versailler Ordnung bis heute enorme geschichtspolitische Bedeutung. Umso wichtiger ist es, einen nüchternen Blick auf den Friedensschluss zu richten und die Mythen zu dekonstruieren, die sich seit 1919 um ihn ranken. Nur so werden die Potenziale erkennbar, die sich aus dem Friedensvertrag ergaben oder hätten ergeben können.

Warum den Versuchen, die Versailler Ordnung konstruktiv auszugestalten, kein Erfolg beschieden war, ist eine andere Frage. Sie zu beantworten führt zu jenen Kräften, die der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 100. Jahrestag des Kriegsendes als jene "alten Dämonen" bezeichnete, die Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Abgrund stürzten: Nationalismus, Unilateralismus, Autoritarismus. Wer in der Gegenwart das zerstörerische Potenzial dieser Kräfte erkennen will, der ist gut beraten, sich mit dem Europa der Zwischenkriegszeit zu beschäftigen, das nicht der Versailler Vertrag ins Chaos und in einen weiteren Krieg stürzte, sondern ein radikaler Nationalismus, der die Demokratien schwächte und der, wie es Max Weber 1919 formulierte, den Frieden diskreditierte, nicht den Krieg.

Dieser Text ist eine um Literaturverweise erweiterte Fassung desselben Beitrags in: ZEIT Geschichte 1/2019, S. 80–87. Alle Rechte verbleiben beim ZEIT Verlag.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Max Weber, Politik als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Stuttgart 19885, S. 505–560, hier S. 551.

  2. Francesco Nitti, Europa am Abgrund, Frankfurt/M. 1923, S. 150.

  3. Zit. nach Keith Grieves, Sir Eric Geddes. Business and Government in War and Peace, Manchester 1989, S. 72.

  4. Verhandlungen des Reichstages, 64. Sitzung vom 23.7.1919, Bd. 328, S. 1843.

  5. Zit. nach Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 241.

  6. Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Christian Hartmann/Thomas Vordermayer/Othmar Plöckinger/Roman Töppel, Bd. 2 (1926), München 2016, S. 1697.

  7. Friedrich Meinecke, Nationalsozialismus und Bürgertum (1930), in: ders., Politische Schriften und Reden, hrsg. von Georg Kotowski, Bd. 2, Darmstadt 1958, S. 441–445, hier S. 441.

  8. Vgl. Max Hildebert Boehm, Die Friedensschuldfrage, in: Preußische Jahrbücher 181/1922, S. 50–62.

  9. David Lloyd George, War Memoirs, Bd. 1, London 1933, S. 32.

  10. Siehe in diesem Sinne beispielsweise Dominik Geppert/Sönke Neitzel/Cora Stephan/Thomas Weber, Der Beginn vieler Schrecken, 3.1.2014, Externer Link: http://www.welt.de/article123489102; Cora Stephan, Die Deutschen wollen so gern alleine schuld sein, 13.11.2013, Externer Link: http://www.welt.de/article121848478. Kritisch dazu Andreas Wirsching, Schlafwandler und Selbstmitleid, 27.7.2014, Externer Link: http://www.sueddeutsche.de/politik/1.2047555.

ist Professor für Neuere Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. 2018 veröffentlichte er "Die große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt". conze@uni-marburg.de