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Eine beunruhigende Frage an den digitalen Kapitalismus - Essay | Datenökonomie | bpb.de

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Eine beunruhigende Frage an den digitalen Kapitalismus - Essay

Michael Seemann

/ 16 Minuten zu lesen

Wie verhält es sich im Digitalen mit den gängigen Kapitalismuskriterien Kapital, Arbeit, Markt, Eigentum und Wachstum? Handelt es sich überhaupt noch um Kapitalismus? Und wenn nicht, um was handelt es sich dann?

Ein Gespenst geht um (nicht nur) in Europa, es ist das Gespenst des digitalen Kapitalismus. Und wie es sich heutzutage ziemt, kommt er in vielen Formen und Farben: als Informationskapitalismus, Datenkapitalismus, Plattformkapitalismus, Überwachungskapitalismus oder kognitiver Kapitalismus. Der digitalen Kapitalismen gibt es mittlerweile viele, doch zeigen sie alle etwas Ähnliches an: Wir sind Zeuginnen und Zeugen grundlegender Veränderungen. Genau dies führt mich zu einer beunruhigenden Frage: Handelt es sich überhaupt noch um Kapitalismus?

Mit "beunruhigend" meine ich nicht dieselbe Unruhe, in die sich die Autorinnen und Autoren der unterschiedlichen Digitalkapitalismusbeschreibungen hineinsteigern. Es geht mir nicht darum, zu zeigen, dass die neue, digitale Spielart des Kapitalismus schlimmer ist als alle vorhergehenden. Meine Beunruhigung gilt vielmehr dem Kapitalismus selbst. Ich lege ihm gewissermaßen meine Hand auf die Schulter und frage leise: "Alles in Ordnung mit Dir, Kapitalismus?" Denn während viele Autorinnen und Autoren in der Digitalversion des Kapitalismus eine weitere Radikalisierung desselben ausmachen, habe ich eher das gegenteilige Gefühl. Ich glaube, dem Kapitalismus geht es nicht gut im Digitalen. Ich will deswegen grundsätzlicher fragen, ob der Kapitalismus in seiner digitalen Spielweise noch die Kriterien erfüllt, mit denen wir dieses System des Wirtschaftens und der Organisation der Gesellschaft beschreiben.

Es gibt verschiedene Kapitalismusdefinitionen, doch alle haben einen mehr oder weniger übereinstimmenden Kern. Demnach erfüllt Kapitalismus die folgenden fünf Kriterien: Er ist geprägt vom Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit (zumindest bei Marx), von der Steuerung der Wirtschaft durch den Markt (neoklassische Definition), von Privateigentum an den Produktionsmitteln, dem Vorherrschen einer Eigentumsordnung sowie dem Prinzip der Akkumulation (oder auch: von Wachstum). Im Folgenden werde ich prüfen, wie es sich im Digitalen mit diesen Kriterien verhält.

Kapital

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, dem "Kapital". Gerade hier hat sich durch die Digitalisierung viel getan. Zu Marx' Zeiten waren die Produktionsmittel in erster Linie Land, Gebäude, Maschinen und vielleicht noch Fahrzeuge. Um zu veranschaulichen, wie stark sich die Essenz des Kapitals durch die Digitalisierung geändert hat, braucht man sich nur Folgendes vor Augen zu führen: Uber, das größte Taxiunternehmen der Welt, besitzt keine Fahrzeuge. Alibaba, der wertvollste Einzelhändler der Welt, hat kein eigenes Inventar. Airbnb, der weltweit größte Übernachtungsdienstleister, besitzt keine Immobilien.

Systematischer haben diesen Zusammenhang die Ökonomen Jonathan Haskel und Stian Westlake in ihrem Buch "Capitalism Without Capital" untersucht. Der Untertitel – "The Rise of the Intangible Economy" – zeigt auch schon an, dass das Kapital nicht wirklich verschwunden ist. Es hat sich nur dematerialisiert. Zu den materiellen Investitionsgütern, die bereits Marx kannte, traten irgendwann Software, Datenbanken, Design, Marken, Fortbildungen und sonstige nicht anfassbare, immaterielle Werte hinzu. Und sie kamen nicht nur hinzu. In den USA, Großbritannien und Schweden hat der Anteil der Investitionen in immaterielle Werte die Investitionen in materielle Werte längst überflügelt. Die Werte der 500 größten börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen sind bereits zu 84 Prozent immateriell. Die Digitalbranche ist hier Vorreiter und Treiber der Entwicklung.

"Materiell, immateriell, was macht das für einen Unterschied?", kann man jetzt fragen. Es sind vier systemische Unterschiede, die Haskel und Westlake herausarbeiten: Immaterielle Güter sind erstens "versunkene Kosten" (sunk cost), das heißt, in immaterielle Werte investiertes Kapital lässt sich schlecht weiterveräußern. Zweitens gibt es häufig Übertragungseffekte, immaterielle Werte "schwappen über" (spill-over). Das heißt, man kann Informationen – und das sind immaterielle Güter immer – nur schwer für sich allein behalten. Drittens lassen sich immaterielle Güter skalieren (scalable): Einmal hergestellt, kann ein immaterielles Gut unbegrenzt und ohne Zusatzkosten überall eingesetzt werden. Viertens sind immaterielle Güter synergetisch (synergy): Sie ergeben oft erst in der Kombination mit anderen immateriellen Gütern neue Produkte beziehungsweise führen immer wieder zu neuen Anwendungsfällen.

Am spannendsten ist der Spill-over-Effekt. Wir kennen ihn überall dort, wo urheberrechtlich geschützte Werke in Internet getauscht werden. Für industrielle Produzenten kann es aber auch einfach heißen, dass sich die Konkurrenz die Herstellung von einem Produkt abschaut oder eine Software nachbaut. Einige – aber lange nicht alle – immaterielle Investitionen kann man rechtlich schützen lassen. Und hier kommen wir überhaupt erst wieder ins Fahrwasser unseres Kapitalismuskriteriums. Nur immaterielle Investitionen, die man über Urheberrechte, Patente oder Markeneintragung schützen kann, können überhaupt als Privateigentum gelten und tauchen als assets in den Bilanzen auf. Aber selbst diese Formen von Privateigentum, also geistigem Eigentum, sind in ihrer Eigentumsstruktur höchst fragwürdig, die Bemessung ihres Wertes ist an der Grenze zur Beliebigkeit. Im Grunde handelt es sich um reine Monopolverwertungsrechte, oder, überspitzt ausgedrückt, um Eigentumsbehauptungen.

Arbeit

Ein wesentlicher Bestandteil jeglicher Kapitalismusdefinition ist die Funktion von Arbeit beziehungsweise die Gegenüberstellung von Arbeit und Kapital als Teile des Produktionsvorgangs. Der marxschen These nach ist menschliche Arbeit, genauer: gesellschaftlich notwendige Arbeit, dasjenige, was überhaupt den Wert einer Ware innerhalb der Ökonomie erschafft. Da der Arbeiter aber nicht in der vollen Höhe seiner Wertschöpfung entlohnt wird, sondern nur in etwa in der Höhe, die notwendig ist, um seine Arbeitskraft wiederherzustellen (Reproduktion), streicht der Kapitalist diese Differenz (Mehrwert) als Profit ein.

Schauen wir auf den Einsatz von Arbeit und erzieltem Wert in der Digitalwirtschaft, und hier auf das besonders eindrückliche Beispiel der amerikanischen Videothekskette Blockbuster im Vergleich zum Videostreamingdienst Netflix: Netflix machte 2018 mit 5400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern 15,7 Milliarden US-Dollar Umsatz, während der mittlerweile pleite gegangene Videoverleih in seinem letzten Jahr (2010) mit 25000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nur 3,24 Milliarden US-Dollar umsetzte. Das bedeutet, dass Blockbuster mit fünfmal so viel Personal gerade mal ein Fünftel des Umsatzes von Netflix erwirtschaftete, obwohl beide in einem ähnlichen Business sind. Die Digitalwirtschaft scheint pro Mitarbeiter viel mehr Wertschöpfung zu produzieren als die alte, analoge Wirtschaft.

Gemessen wird dieser Zusammenhang in der Wirtschaftswissenschaft als Arbeitsproduktivität, und wenn wir uns die Zahlen für die Gesamtwirtschaft (zum Beispiel für die G20-Staaten) anschauen, sehen wir in der Tat ein enormes Wachstum der Arbeitsproduktivität, aber nur ein geringes Wachstum der Löhne. Dass diese Differenz bei den Kapitalisten landet, ist also folgerichtig und bereits von dem Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty beschrieben, der zeigte, wie sich das Wachstum der Anlagevermögen entsprechend von dem Wachstum der Löhne entkoppelt hat. Unter den arbeitsproduktivsten Firmen der Welt finden wir viele IT-Konzerne. Apple erwirtschaftet fast zwei Millionen US-Dollar Umsatz pro Mitarbeiter. Auch Facebook und Google verdienen auf Platz zwei und drei weit mehr als eine Millionen Dollar pro Mitarbeiter. Aber alle diese Firmen sind nicht dafür bekannt, dass sie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schlecht bezahlen – im Gegenteil. In Bezug auf Marktpreise verdienen vor allem die Entwicklerinnen und IT-Spezialisten Löhne weit über dem Durchschnitt. Aber gemessen am erzielten Umsatz verdienen sie nur "Peanuts", und aus einer marxschen Ausbeutungslogik heraus betrachtet, zählen sie zu den vielleicht am stärksten ausgebeuteten Menschen der Welt, da der extrahierte Mehrwert so enorm ist.

Wie der gefühlte gesellschaftliche Mehrwert mit dem ökonomischen Mehrwert zusammenhängt, ist allerdings nur schwierig bis unmöglich zu messen. Vor allem, da die Art der Wertschöpfung heute ganz und gar anders vonstattengeht, als Marx es damals beobachtete. In dem Buch "Das Kapital sind wir" hat der Publizist Timo Daum nicht nur eine interessante Beschreibung der digitalen Ökonomie abgeliefert, sondern eine eigene These zur Wertschöpfung im Digitalen aufgestellt. Diese geschehe nicht bei der Produktion von Waren, sondern in Form von Innovation. Und wir alle arbeiteten daran mit: Denn wir werden jederzeit vermessen, während wir die digitalen Tools verwenden. Die gesammelten Daten werden dann für die Entwicklung neuer Innovation und Verbesserung der Produkte genutzt. Die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff schlägt in eine ähnliche Kerbe, allerdings klingt bei ihr die Wertschöpfung wesentlich perfider. Auch bei ihr steht die Überwachung der Nutzerinnen und Nutzer im Mittelpunkt, doch statt um Innovation geht es bei ihr um Manipulation, durch die die großen Internetunternehmen Wert schöpften (behavioral surplus). Der Digital-Economy-Lecturer Nick Srnicek hingegen beschreibt Daten als eine Art Rohstoff, der erst durch die Verarbeitung wirklich an Wert gewinne. Hier seien es die Programmierer der Auswertungsalgorithmen und vor allem Data Scientists, deren Arbeit den Wert schöpfe. Der Journalist Paul Mason kam in seinem Buch "PostCapitalism" sogar zu dem Schluss, dass sich die kapitalistischen Ökonomien nicht werden halten können, wenn Information statt Arbeit zum zentralen Bestandteil der Wertschöpfung werde.

Auf die Frage nach der Rolle der Arbeit im Digitalen bleiben wir also mit vielen unterschiedlichen, einander widersprechenden Theorien und Beobachtungen zurück. Einigkeit scheint allein darüber zu bestehen, dass Arbeit im klassischen Sinn zumindest nicht mehr der wesentliche Ort der Wertschöpfung ist.

Markt

Seit Marx "Das Kapital" schrieb, ist auch in den Wirtschaftswissenschaften viel passiert. Für viele Ökonominnen und Ökonomen steht heute nicht mehr der Produktionsprozess im Mittelpunkt des Geschehens, sondern der Markt. Und so findet sich kaum eine zeitgenössische Kapitalismusdefinition, die nicht auch auf den Markt rekurrieren würde. Der Markt sei das wesentliche Steuerungsinstrument des Kapitalismus. Indem der Markt Angebot (Produktion) und Nachfrage (Konsumtion) über das Instrument des Preises im Gleichgewicht halte, sorge er dafür, dass zu jeder Zeit immer ungefähr genauso viel von einer Ware produziert werde, wie gebraucht werde und sich dieses Angebot auch im bezahlbaren Rahmen bewege. So lautet jedenfalls die Theorie, die oft und gerne kritisiert wird, da sie eine ganze Reihe von Annahmen voraussetzt, die in der Realität kaum zu erfüllen sind: völlige Markttransparenz, Menschen als rationale Wirtschaftssubjekte, die Nichtexistenz von Transaktionskosten, die Ausblendung von nicht im Markt abgebildeten Einflüssen und Kosten (Externalitäten) und anderes mehr.

Blendet man diese Ungenauigkeiten gutwillig aus, kann man den Markt auch als "Informationssystem" verstehen, der als Input die Signale von Anbietern und Nachfragern koordiniert. So gesehen, sollte man annehmen, dass der Markt anschlussfähig an die Digitalsphäre sein sollte. Und tatsächlich: Es stellt sich heraus, dass Marktmechanismen sich leicht in Algorithmen nachbauen lassen. Genau das hat zum Beispiel Uber mit seinem "Surge Pricing" gemacht. Je nach Tages- und Nachtzeit sind unterschiedlich viele Uber-Fahrerinnen und -Fahrer unterwegs, und es gibt unterschiedlich hohe Nachfrage nach Fahrten. Entsprechend wird den Kundinnen und Kunden neben dem Standardpreis auch der Surge-Preis angezeigt. Dieser ist im Zweifelsfall höher als der Standardpreis, aber dafür kommt das Auto sofort. Es handelt sich also um eine Art Marktpreis – mit der Besonderheit, dass er von einem Algorithmus berechnet wurde.

Aus den vielen Millionen Kundenentscheidungen für und gegen den Surge-Preis lassen sich auch eine Menge weiterer Erkenntnisse ziehen. Beispielsweise sind Leute mit niedrigem Smartphone-Akkustand in der Regel bereit, einen höheren Preis für eine sofortige Uber-Fahrt zu bezahlen. Auf dieser Grundlage lässt sich dann auch die "Konsumentenrente" berechnen, wie ein Team um den Ökonomen Steven Levitt am Beispiel Uber gezeigt hat. Die Konsumentenrente ist, kurz gesagt, die Preisdifferenz zwischen dem Preis, den ich für ein Produkt tatsächlich zahle, und dem, den ich zu bezahle bereit wäre, wenn der Preis höher wäre. Diese nichtgezahlte Differenz nehme ich als Konsument sozusagen als Bonus mit. Da jeder Konsument eine unterschiedliche Bereitschaft hat, einen höheren Preis zu zahlen, "erhält" jeder Konsument somit auch eine individuelle Konsumentenrente. Die allgemeine Konsumentenrente errechnet sich somit, wenn man all diese individuellen Differenzen zusammenrechnet. Die Untersuchung von Levitt et al. ergab, dass Uber 2015 eine allgemeine Konsumentenrente in Höhe von 2,9 Milliarden US-Dollar erwirtschaftete. Das ist kein Geld, das in irgendeiner Statistik auftaucht. Es ist Geld, das nicht ausgegeben wurde, aber möglicherweise ausgegeben worden wäre, wenn jede Kundin und jeder Kunde einen personalisierten Preis angezeigt bekommen hätte. Und wenn man weiß, dass eine Person mehr Geld zu bezahlen bereit wäre, warum ihr dann nicht diesen Preis anzeigen?

Vergegenwärtigen wir uns, was hier passiert: Wenn der Marktpreis ein Informationssystem ist, und Computer, Internet und Shopsysteme ebenfalls Informationssysteme sind, dann wurde das Erstere durch die Letzteren quasi gehackt. Die IT-Systeme der Anbieter sind einfach intelligenter als der Markt.

Eigentum

Eine ebenso schlichte wie elegante Kapitalismusdefinition, die sich sowohl von der marxistischen als auch von der neoklassischen Definition absetzt, ohne mit ihnen inkompatibel zu werden, stammt von den Wirtschaftswissenschaftlern Gunnar Heinsohn und Otto Steiger. Sie definieren den Kapitalismus als Eigentumsordnung, also eine Gesellschaft, die durch das Konzept Eigentum strukturiert ist. Das hört sich zunächst banal, offensichtlich und wenig ertragreich an, wird aber spannend, wenn man sich die Implikationen des Begriffes "Eigentum" genauer anschaut.

Während Marx die Ursituation des Kapitalismus in der Produktion verortet und die Neoklassiker dafür den Markttausch heranziehen, sehen Heinsohn und Steiger sie in der Unterscheidung von "Besitz" und "Eigentum". Diese Unterscheidung ist selbst keine ökonomische, sondern vor allem eine rechtliche. "Besitz" ist dabei alles, worüber ich direkte Verfügungsgewalt ausübe. Darin unterscheidet es sich vom Eigentum: Eigentum ist ein Rechtstitel, es ist abstrakte Behauptung. Das heißt, ich kann Gegenstände, die mein Eigentum sind, in den Besitz anderer Menschen geben, ohne dass es aufhört, mein Eigentum zu sein. Allerdings funktioniert das nur dann, wenn eine externe Macht dafür sorgt, dass der Rechtstitel auch durchgesetzt, mir der Gegenstand im Zweifelsfall wieder ausgehändigt wird. Für Eigentum braucht es also einen Staat mit Gewaltmonopol.

Wenn wir uns mit dieser Definition wieder dem Digitalen zuwenden, kommt einem rasch die Online-Musiktauschbörse Napster in den Sinn. 1999 gestartet, machte der Dienst alle Musikdateien auf dem eigenen Computer für alle anderen Napster-User zugänglich. Das Programm hatte eine Suchmaske, mit der man nach jedem beliebigen Song suchen konnte und die daraufhin eine Liste mit Usern anzeigte, die ihn besaßen und teilten. Ein Klick, und der Download startete. Für Musiksammler war es das reinste Eldorado. Für die Musikindustrie war dieses Eldorado jedoch ein major spill-over, der totale Kontrollverlust, und das plötzliche Ende ihres Geschäftsmodells. Mit der Kapitalismusdefinition von Heinsohn/Steiger könnte man sagen, dass die Musikindustrie aus der Eigentumsordnung in eine Download-Besitzordnung zurückfiel. Zwar hat die Musikindustrie (und andere Rechteverwerter) viel für Urheberrechtsverschärfungen lobbyiert, aber trotz allem konnte sie die Peer-to-peer-Tauschbörsen nicht loswerden.

Hier nun das Spannende: Dass die Musikindustrie heute wieder ein Geschäftsmodell hat, liegt nicht an einer staatlich garantierten Eigentumsordnung, sondern weil eine ganz eigene, neue Ordnung im Internet entstand: die Ordnung der Plattformen. Als Apple 2002 auf die Musikverlage zukam und ihnen iTunes, die unternehmenseigene digitale Verkaufsplattform für Musik zeigte, stand die Musikindustrie gerade mit dem Rücken zur Wand. Auch die großen Labels hatten es nicht geschafft, den Tauschbörsen ein populäres legales Online-Angebot entgegenzustellen. Apple-Chef Steve Jobs konnte den Verlagen die Bedingungen letztlich jedoch diktieren, weil sein Unternehmen etwas hatte, was sie nicht hatten: Ich nenne es "marktfähige Verfügungsgewalt". Das heißt, Apple war nicht nur in der Lage, Musik kommerziell und legal anzubieten, sondern auch, sie durch die technische Infrastruktur von iTunes vorzuenthalten, ohne dass es einer weiteren Durchsetzungsgewalt (den Staat) bedurfte. Dem Beispiel Apples folgten bald viele weitere Unternehmen, die heute die "Plattform-Ökonomie" ausmachen. Ihre Plattformen sind in erster Linie Kontroll-Infrastrukturen zur künstlichen Verknappung potenziell unbegrenzter Güter.

Doch die marktfähige Verfügungsgewalt der Plattformen ist schon lange nicht mehr auf tatsächliche Rechtstitel beschränkt. Facebook hat keinerlei Eigentumsrechte an unseren persönlichen Daten, und dennoch basiert sein Geschäftsmodell auf der Ausübung einer marktfähigen Verfügungsgewalt über sie. Die Plattformen setzen bereits eine Form der Kontrolle durch, die die Eigentumsordnung gar nicht braucht, sondern diese lediglich stellenweise abbildet. Das aber bedeutet nichts Geringeres, als dass im Digitalen das Rechtskonzept des Eigentums zumindest infrage steht.

Wachstum

Ein Kriterium kommt bei Kapitalismusdefinitionen sowohl aus der marxistischen als auch aus der neoklassischen Schule immer wieder auf, und das ist das Wachstum. Welche Rolle spielt dieses Kriterium in der digitalen Ökonomie?

Der Ökonom Robert J. Gordon argumentiert in seinem Werk "The Rise and Fall of American Growth", dass heutiges Wirtschaftswachstum trotz aller Zukunftsversprechungen durch die Digitalisierung nicht mehr von tatsächlicher Innovation getrieben sei. Er untermauert diesen Befund anhand der sogenannten Totalen Faktorproduktivität (TFP) – einer volkswirtschaftlichen Kennzahl, die die Faktoren Kapital und Arbeit aus dem Wirtschaftswachstum herausrechnet und somit den Anteil der Wertschöpfung angibt, der nicht durch diese Faktoren erklärbar ist. Gordon sieht in der TFP einen messbaren Effekt von Innovation im Wachstum. Da die TFP in den USA zwischen 1930 und 1970 stetig weit über einem Prozent war, davor und danach aber wesentlich darunter, schließt Gordon daraus, dass die Digitalisierung kaum zu Innovation geführt habe. Er greift damit eine Beobachtung auf, die der Ökonom Robert Solow bereits 1987 formulierte: "You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics."

Ich möchte dieser These widersprechen: Meiner Ansicht nach sind die digitalen Innovationen genauso real wie frühere technische Innovationen, sie sind jedoch mit herkömmlichen Maßstäben kaum zu messen. Sowohl das Bruttoinlandsprodukt als auch alle davon abgeleiteten Werte wie Wachstum, Produktivität oder eben die TFP basieren auf der Erhebung davon, wie viel Geld in unterschiedlichen Branchen umgesetzt wird, was heißt: alles, was keine Transaktion verursacht, fließt nicht in die Rechnung ein. Nun gibt es aber viele Gründe, warum sich gerade digitale Innovation oft transaktionsneutral oder gar transaktionsmindernd in den Zahlen niederschlägt:

Erstens wird durch das Internet die Markttransparenz erhöht. Unsere Konsumentscheidungen sind heute viel fundierter als vor dem Internet, was aber auch bedeutet, dass wir weniger Fehlinvestitionen tätigen (und somit weniger Transaktionen). Zweitens hat der erwähnte Spill-over-Effekt dazu geführt, dass wir heute ein weitaus größeres kulturelles Angebot zur Verfügung haben, ohne wesentlich mehr Geld dafür ausgeben zu müssen. Dafür müssen wir Filme nicht illegal streamen, aber allein, dass wir es könnten, zwingt die Anbieter dazu, attraktive legale Bezahlangebote zu schaffen. Auch dies verursacht ein Minus in der Wachstumsbilanz. Drittens darf man nicht vergessen, auf wie viel kostenloses Wissen wir heute Zugriff haben. Die Wikipedia ist – bis auf ein paar wenige Spendenzahlungen – komplett kostenlos. Netto geht sie allerdings mit einem satten Minus in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein, wenn man die vielen Verluste der Lexikonverlage gegenrechnet. Obwohl es vielfach versucht wurde, gibt keine sinnvolle Art, den Wert der Wikipedia zu messen. Einen ähnlichen Effekt haben wir durch die Verwendung von Open Source Software in der Wirtschaft.

Insgesamt werden alle möglichen Prozesse innerhalb der Wirtschaft durch Technologie immer effizienter. Der Einzug von künstlicher Intelligenz und Big Data wird immer wieder mit erheblichen Einsparungen beworben. Einsparungen sind aber nicht getätigte Transaktionen. Es sind Verschlankungen der Bilanz, denen zumindest nicht zwingend eine zusätzliche Investition gegenübersteht. Digitale Innovation spart also mehr Transaktionen ein, als sie zusätzlich schafft. Doch warum gibt es dann überhaupt noch wirtschaftliches Wachstum? Meine These dazu: Ähnlich wie 2007 befinden wir uns in einer Blase, dieses Mal aber mit immateriellen Werten. Ich glaube, Immaterialgüter sind massiv überbewertet – und zwar allein deshalb, weil sie künstlich am spill-over gehindert werden, der im Digitalen eigentlich der "Naturzustand" jeder Information ist. Plattformkontrolle, drakonische Urheberrechtsgesetzgebung und -durchsetzung haben zu einer künstlichen Verknappung von Ideen, Gedanken und kreativen Leistungen geführt, die auf der einen Seite unser aller Leben verarmt, um es uns auf der anderen wieder teuer verkaufen zu können.

Wachstum bedeutete einst, dass mehr Menschen mehr Dinge tun können, dass Produkte billiger wurden, mehr Menschen Zugang zu fließend Wasser, Strom, Konsumartikeln bekamen. In der digitalen Ökonomie bedeutet Wachstum lediglich, dass die Konsumentenrente erfolgreicher abgeschöpft wird, dass also mehr Menschen unnötigerweise mehr bezahlen, als sie unter normalen Marktbedingungen müssten. Wachstum bedeutet, dass immaterielle Güter erfolgreicher verknappt wurden.

Fazit

Alle fünf Kriterien, die ich eingangs identifiziert habe, werden durch die digitale Wirtschaft ad absurdum geführt. Ausführlich lautet die beunruhigende Frage also: Ist ein digitaler Kapitalismus mit nur noch behaupteten Kapital und überflüssiger Arbeit, der nicht mehr durch den Markt gesteuert wird, die Eigentumsordnung hinter sich gelassen hat und dessen kaum noch vorhandenes Wachstum aus der künstlichen Verknappung von Immaterialgütern resultiert, noch Kapitalismus?

Vermutlich nein. Aber was ist er dann? Zunächst stehen wir mit mindestens einem Bein ja noch voll und ganz im guten, alten analogen Kapitalismus. Und was das digitale Bein betrifft: Wir haben Kapitalismus immer nur in Abgrenzung zu Kommunismus oder Sozialismus – bestenfalls noch Anarchismus oder Feudalismus – zu verstehen gelernt. Das, was die Digitalwirtschaft dort tut, ist keines von dem. Wir müssen uns an dieser Stelle der Neuheit der Situation gewahr werden. Dies ist unser aller erste Digitalisierung und somit sollten wir der Möglichkeit Rechnung tragen, dass es sich hier auch um eine komplett neue Form der Ökonomie handelt. Eine, für die wir noch keinen Namen haben und noch gar nicht wissen, wie sie funktioniert. Etwas, das noch im Werden ist. Dieses Etwas ist nicht automatisch besser oder schlechter als der Kapitalismus, nur eben hinreichend anders. "Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster", soll der marxistische Philosoph Antonio Gramsci sinngemäß geschrieben haben. Wir haben es hier mit einem Monster zu tun, einem (noch) namenlosen Wesen. Monster sind nicht automatisch böse, aber sie machen uns Angst, weil wir sie nicht verstehen.

ist Kulturwissenschaftler, Sachbuchautor und Journalist. Externer Link: http://www.michaelseemann.de