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Bildung und Digitalisierung Editorial Der große Verstärker. Spaltet die Digitalisierung die Bildungswelt? "Digitalpakt Schule". Föderale Kulturhoheit zulasten der Zukunftsfähigkeit des Bildungswesens? Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte Mehr als Digitalkompetenz. Bildung und Big Data Bildung der Jugend für den digitalen Wandel Kita 2.0. Potenziale und Risiken von Digitalisierung in Kindertageseinrichtungen Hochschule(n) im digitalen Wandel. Bedarfe und Strategien

Mehr als Digitalkompetenz Bildung und Big Data

Harald Gapski

/ 15 Minuten zu lesen

Bildung in der digitalen Transformation sollte dem Menschen helfen, sich im reflektierten Verhältnis zu sich selbst und seinen mediatisierten und datafizierten Umwelten zu entfalten. Digitale Aufklärung erfordert die Neuverfugung mehrerer Bildungsbereiche.

Wir leben in Zeiten von Big Data: Seit 2002 gibt es auf der Erde mehr digital als analog gespeicherte Daten und seit 2009 mehr digital vernetzte Dinge als Menschen. Bis 2025 werden laut Prognosen 150 Milliarden Geräte zum Internet der Dinge gehören, und das digitale Datenuniversum, die Gesamtheit aller digitalen Daten, wird eine Größe von 175 Zettabytes erreichen. Würde man diese Datenmenge auf DVDs brennen und sie aufeinanderstapeln, dann reichte dieser Stapel von der Erde bis zum Mond – und zwar 23 Mal. Unsere Gesellschaft befindet sich in einer digitalen Transformation, in der das Zusammenspiel von Mensch, Medientechnologie und sozialer Welt neu austariert wird. Hoch dynamisch und rekursiv entstehen neue soziotechnische Gebilde: Algorithmen, mit denen soziale Entscheidungsprozesse gestützt werden, Netzwerke, in denen nicht nur Menschen, sondern auch Maschinen kommunizieren. Massenhaft "Daten, von denen wir nicht wussten, dass es sie gibt, finden Wege, die nicht vorgesehen waren, und offenbaren Dinge, auf die wir nie gekommen wären". Was bedeuten diese Rahmenbedingungen für eine Bildung, die ein kritisch-reflexives Verhältnis zur Welt und zum eigenen Selbst fördern soll?

Verschiedene Begriffe bezeichnen die vielfältigen Fähig- und Fertigkeiten des Einzelnen, sich in einer Welt voller Medien und Informationstechnologien zurechtzufinden und handlungsfähig zu sein; allen voran, und am prominentesten der Begriff der "Medienkompetenz". Mitte der 1990er Jahre und mit der breiter werdenden Internetnutzung begann die öffentliche Konjunktur dieses Begriffes. Es war die Zeit der "Datenautobahn" und des "Computerführerscheins". Ganz im Sinne dieser Metaphorik griff 1998 die langjährige Kulturdezernentin von Frankfurt am Main, Linda Reisch, zentrale Argumentationsfiguren und Dimensionen von Medienkompetenz – von der instrumentellen Handhabung über die medienökologische Kritik bis zum digital detox – auf, indem sie Mediennutzung und Autofahren in eine Analogie zueinander setzte: "Medienkompetenz in einer automobilen Gesellschaft würde für mich bedeuten: zu wissen, was man tut, wenn man Auto fährt, daß man nämlich innerhalb der Zeit X unter bestimmten Umständen vom Punkt A zum Punkt B gelangen kann, und was es kostet – sowohl meinen Geldbeutel als auch die Gesellschaft und die Umwelt. Medienkompetenz bedeutet, daß ich dieses Medium ‚Auto‘ ordentlich fahren kann, daß ich Verkehrsregeln kenne und beachte, daß ich nicht dauernd mit überhöhter Drehzahl fahre und damit übermäßig viel Kraftstoff verbrenne (…), daß ich aber auch weiß, wann ich lieber den Zug, den Bus oder das Fahrrad nehme."

Informationelle Selbstbestimmung

Heute geht es um die Frage, wer "am Steuer sitzt", um die Frage nach der Souveränität in der digitalen Welt. Aber: Der Sinn dieser metaphorischen Redeweise löst sich auf. Das Auto, also das Medium selbst, beginnt, autonom zu werden. Worin besteht die Kompetenz des menschlichen Autofahrers, wenn das "Medium Auto" selbstständig den besten Weg von A nach B findet und die Entscheidungen im Verkehr trifft? Das Auto nicht zu nutzen und das Transportmittel zu wechseln, ist in Zeiten allgegenwärtiger Vernetzung keine Handlungsoption mehr. Zugleich ist die Rede vom "autonomen Auto" zu hinterfragen. Philosophisch könnte man argumentieren, dass ein Auto niemals autonom sein kann, weil es keinen Begriff von Freiheit hat. Das "autonome Auto" ist wie "Künstliche Intelligenz" eine Metapher, ein Medium des Denkens, das unser Verständnis von Technologie lenkt. Es bedarf der Sprache und ihres diskursiven Einsatzes, um Ideologiekritik zu betreiben und Orientierung im Digitalen zu finden.

Verbleiben wir noch im Metaphorischen und zitieren den Ingenieur Gottlieb Daimler mit den ihm zugeschriebenen Worten: "Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an verfügbaren Chauffeuren." Die Erfinder von damals konnten sich die disruptiven Technologien mitsamt ihren soziotechnischen Effekten nicht vorstellen. Auch heute gilt, dass sich Anwendungen und Märkte ganz anders entwickeln können als gedacht. Denken wir das digital vernetzte Auto nicht als ein Werkzeug des Transports, sondern als einen mobilen Sensor zur Datafizierung der Welt und des Verhaltens des Menschen, der am Steuer sitzt. Die Frage bleibt: Sitzen wir am Steuer? Haben wir die Kontrolle, etwa über unsere Daten in den sozialen Netzwerken?

Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, abgeleitet aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und der Menschenwürde, formulierte das Bundesverfassungsgericht 1983 in seinem Volkszählungsurteil als "Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen". Heute ist zu fragen, ob wir bereits in einer Gesellschaftsordnung leben, "in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß" – also genau in jener Gesellschaftsform, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung als "nicht vereinbar" mit diesem Recht ansah.

Trotz Europäischer Datenschutzgrundverordnung ist die Diskussion nicht abgeschlossen. Kritiker wie der Rechtswissenschaftler Winfried Veil halten es für "bestenfalls naiv anzunehmen, der Einzelne habe eine realistische Möglichkeit, die Verarbeitung auf ihn bezogener Informationen zu kontrollieren. Der Kontrollverlust ist nicht nur ein beobachtbares Faktum. Ein erheblicher Teil der Internetnutzer denkt auch gar nicht mehr in den Kategorien des deterministischen Modells von Privatheit, das der Idee der informationellen Selbstbestimmung zugrunde liegt." Dieser Kontrollverlust vollzieht sich, obgleich es einen breiten gesellschaftlichen Konsens über schützenswerte Güter wie Privatheit, Selbstbestimmung und Datenschutz gibt, und mündet in die Frage nach einem möglichen Freiheitsgewinn des Einzelnen.

Medienkompetenz in der digitalisierten Moderne

Die Moderne hat eine nach Funktionen zergliederte Gesellschaft hervorgebracht: ein Wirtschaftssystem operiert mit Geld, ein Politiksystem mit Macht und ein Rechtssystem mit geltendem Recht. Jedes dieser Subsysteme formt und verhandelt jeweils andere Diskurse über Medienkompetenz.

Im wirtschaftlichen Diskurs gilt die Förderung von Medien- beziehungsweise Digitalkompetenzen als Antwort auf den drohenden skills gap. Aktuell besonders gefragt, sind kompetente data scientists. Auf der Nachfrageseite stehen Medien- und Digitalkompetenzen für Akzeptanzfaktoren in einer Digitalwirtschaft. Im politischen Diskurs wird Medienkompetenz als Teil einer Demokratiekompetenz zum Erhalt einer kritischen Öffentlichkeit eingeordnet. Im rechtlichen Diskurs hat Medienkompetenz als Regulierungsfaktor Einzug in die Landesmediengesetze gefunden. Aufrufe zu mehr Selbstverantwortung und Kompetenz in der Mediennutzung können als Effekte medienrechtlicher Steuerungsprobleme gesehen werden. Auch ein technischer Diskurs über die Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen ließe sich abgrenzen. Darin wäre Medienkompetenz nicht einseitig dem Menschen zugewiesen, sondern nur im interaktiven Miteinander von Mensch und Maschine förderbar. Im Bildungsdiskurs wird Medienkompetenz aus der übergreifenden kommunikativen Kompetenz des Menschen hergeleitet, hier stehen Mündigkeit und Ermächtigung eines starken und souveränen Subjekts im Zentrum. Im Mediensystem und in den Massenmedien schließlich beobachtet sich die Gesellschaft selbst. Meldungen über zu wenige Kompetenzen etwa im Umgang mit Fake News oder Algorithmen sorgen für eine stetige Irritation medialer Öffentlichkeiten.

Jede Forderung nach mehr individueller Kompetenz hebt die gesellschaftliche Bedeutung von Medien und Digitaltechnologien hervor und erschafft zugleich Intransparenz in Bezug auf die zu berücksichtigenden soziotechnischen Strukturveränderungen. In ihrer verkürzenden Subjektivierung erzeugt Medienkompetenz den blinden Fleck des erforderlichen sozialen Strukturwandels. Hierin liegt eine Überforderung des Bildungsdiskurses, dessen Fokus notwendigerweise auf dem Subjekt liegt und insofern die soziotechnischen Gestaltungsherausforderungen nicht umfassend einschließen kann.

Die Ausdifferenzierung von Medienkompetenz im Projekt der Moderne bleibt von den Prozessen der Digitalisierung nicht unbeeinflusst, oder, um es in den Worten des Systemtheoretikers Dirk Baecker zu formulieren: "Auf das Projekt der Moderne, die Inklusion der Gesamtbevölkerung in politische, rechtliche, wirtschaftliche, pädagogische und kulturelle Prozesse, folgt das Projekt der Digitalisierung, die Transformation analoger in diskret abzählbare, binär codierte, statistisch auswertbare, maschinell berechenbare Prozesse." Das Projekt der Digitalisierung erzeugt ein neues gesellschaftliches Nervensystem, ein globales Steuerungs- und Kontrollsystem, das vorhandene Informationstechnologien dazu nutzt, menschliches (Sozial-)Verhalten zu erforschen. Mit dem anknüpfenden Programm einer "Social Physics" hofft man, mithilfe von Big Data und einer vorhersagenden und berechnenden Theorie menschlichen Verhaltens bessere Systeme des Zusammenlebens gestalten zu können. Ein Extrembeispiel für die datengetriebene Steuerung gesellschaftlicher Prozesse im Sinne eines neuen Governance-Prinzips ist das Social Credit System in China. Ausprägungen des Projekts der Digitalisierung und eine fortschreitende Quantifizierung des Sozialen diagnostiziert der Soziologe Steffen Mau jedoch auch für die westliche Welt: "Mit der Verfügung über immer mehr Daten begibt sich die Gesellschaft auf den Weg zu einer datengetriebenen Prüf-, Kontroll- und Bewertungsgesellschaft, die nur noch das glaubt, was in Zahlen vorliegt."

Aus diesen Gegenwartsdiagnosen folgen Bildungsansprüche. Bildung in der digitalen Transformation bedeutet, ein reflektiertes Welt- und Selbstverhältnis zu eben diesen politisch und individuell höchst folgenreichen Entwicklungen aufzubauen und Verkürzungen einer allgegenwärtigen Sozialvermessung entgegenzutreten: Nicht nur das Zählen, sondern auch das Erzählen, nicht nur das Messen, sondern auch das Ermessen, das angemessene Urteil und das rechte Maß sind von grundlegender Bedeutung für unser Verhältnis zur Welt und zum eigenen Selbst. Fähigkeiten, dieses kritisch-diskursiv zu denken und in Sprache zu fassen, nehmen eine herausgehobene Stellung im Bündel zukünftiger Bildungsziele ein.

Spannungsfelder und Bildungsfragen

Aufklärung über das Projekt der Digitalisierung umfasst ein Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Mensch, Medien- beziehungsweise Digitaltechnologie und sozialer Welt. Gesellschaftswandel und Medienwandel korrespondieren miteinander. Neu entstehende Spannungsfelder in diesem Wechselwirkungsdreieck betreffen insbesondere den Umgang mit Daten, also die (Daten-)Souveränität des Einzelnen sowie die Gestaltungen auf politischer, wirtschaftlicher und kultureller Ebene. Ausgewählte Spannungsfelder können hilfreich sein, um offene Fragen nach zukünftigen Bildungsherausforderungen präziser zu stellen.

Von der Datensparsamkeit zur Datenfreigiebigkeit: Angesichts des eingangs erwähnten exponentiellen Wachstums des Datenuniversums und des Internets der Dinge wirkt der Ruf nach Datensparsamkeit unzeitgemäß. Jede Entscheidung zwischen Sparsamkeit oder Freigiebigkeit hat zwei Seiten: eine einseitige, ausschließlich gefährdungsorientierte Sichtweise auf das Geben von Daten könnte den gesellschaftlich wünschenswerten datengetriebenen Erkenntnisgewinn für das Gemeinwohl beispielsweise in gesundheitlichen oder sozialen Anwendungszusammenhängen behindern. Welche Kultur des reflektierenden Gebens von Daten soll in der Bildung gefördert werden?

Von der digitalen Selbstverteidigung zur Ergebung in den Kontrollverlust: Nach den Enthüllungen von Edward Snowden und den Datenskandalen der digitalen Plattformen hat das Bewusstsein um die Sicherheit der eigenen Daten zugenommen. Digitale Selbstverteidigung durch Anonymisierung, alternative Suchmaschinen und Verschlüsselung des Datenverkehrs ist erlernbar. In der praktischen Umsetzung könnte sie zur Abkapselung von der Peer-Group und zum Ausstieg aus den komfortablen digitalen Ökosystemen der Internetkonzerne führen. Wie überzeuge ich meine Freunde, die bei Whatsapp sind, zu einer datenschutzsicheren Open-Source-Alternative zu wechseln? Die unterstellte Allmacht der Nachrichtendienste und Internetkonzerne führt nicht nur bei Kindern und Jugendlichen zu einer resignativen Grundhaltung. Aus der demokratiepolitisch ohnehin problematischen Aussage "Ich habe doch nichts zu verbergen" wird die Ergebung "Ich kann doch sowieso nichts verbergen". Wie überzeugt man von der Bedeutung schützenswerter informationeller Güter, und gibt es in Zeiten des Kontrollverlustes auch einen Freiheitsgewinn?

Vom Werkzeuggebrauch in Medienwelten zum Verhalten in Datenumwelten: Wir bewegen uns in einem permanenten Datenstrom. Eine bewusste Einwahl ins Netz gibt es nicht mehr. Vernetzt zu sein, ist die Vorgabe. Zwar mutet das Smartphone mitsamt seinen Tools und Apps wie ein faustkeilgleiches Werkzeug an, zugleich aber ist es ein mobiler, smarter Sensor in einem globalen Datennetz, der permanent Daten sendet und empfängt sowie Millionen von Einzelbefehlen pro Sekunde im Hintergrund prozessiert. Anstelle einer befristeten, zweckorientierten Nutzung eines Medienwerkzeugs tritt mit dem Internet der Dinge der Aufenthalt und das Verhalten in informatisierten und digitalisierten Umwelten. Werkzeugfunktion und Welterzeugungsfunktion durchdringen einander. Welche Bewusstseinsänderungen, welches daten- und informationsökologische Handeln kann und sollte Bildung in datafizierten und informatisierten Umwelten befördern?

Vom Surfen im Netz zu den Datenspuren im "Überwachungskapitalismus": In der abgenutzten Metapher vom Surfen im Netz schwingen noch Freiheit und Unbeobachtetheit mit. Verborgen bleibt jedoch die permanente Beobachtung, Vermessung und Klassifizierung des Einzelnen im Netz. Im Panoptikum der digitalen Welt sind nicht alle für alle sichtbar. Jene, die uns sehen, können wir nicht sehen – sie befinden sich auf der anderen Seite einer Informations- und Machtasymmetrie. Im "Überwachungskapitalismus" werden Verhaltensdaten zum Rohstoff für die Wertschöpfung. Wirtschaftliche Verwertungslogiken schreiben sich in die Benutzeroberflächen der Datensammler ein. Auf Basis hinterlassener Datenspuren können zukünftige Handlungspfade mit Wahrscheinlichkeiten vorausberechnet werden, und neue Märkte für Verhaltensvorhersagen bringen Plattformen mit einer enormen Macht- und Finanzkonzentration hervor. Diese operieren global, wenig reguliert und nach anderen Logiken als die traditionellen Massenmedien. Können kritisch-reflexive Medienpädagogik, digitalökonomische Grundbildung, politische Bildung und eine kreative Offenheit gegenüber den Wachstumspotenzialen der Digitalwirtschaft gemeinwohlorientiert verbunden werden?

Von der Auffälligkeit zur Konformität: Unter den Bedingungen der Überwachung und Berechenbarkeit erfährt die Abweichung eine algorithmische Verstärkung und Aufwertung. Durch Algorithmen werden Auffälligkeiten und Andersartigkeiten identifiziert. Offen ist zunächst der gesellschaftliche Anwendungsnutzen. Dieser kann von der wünschenswerten Kreditkartenbetrugserkennung bis hin zum Aufbau einer dystopisch-konformistischen Kontrollgesellschaft reichen. Getroffene Wahrscheinlichkeitsaussagen können auch falsch liegen und treffen niemals das Individuum in seiner Einzigartigkeit. Das Andersartige und Deviante aber kann auch Katalysator für positive Impulse sein. Muss Bildung in Zeiten von Big Data den Wert von Nonkonformität, Devianz und Subversion für die gesellschaftliche Entwicklung und somit die Persönlichkeitsbildung betonen?

Vom Manipulationsverdacht zur Algorithmenkritik: Traditionell richtet sich die pädagogische Medienkritik auf die Hinterfragung medialer Bedeutungskonstruktionen, auf die Bearbeitung eines Manipulationsverdachts durch die Aufdeckung dahinterliegender kommerzieller oder politischer Interessen in einer Medienbotschaft. Die Manipulationsmöglichkeiten von digitalen audiovisuellen Daten sind grenzenlos. Mit der fortschreitenden Algorithmisierung gesellschaftlicher Kommunikation gewinnt eine weitere Form der Medienkritik an Bedeutung, die die von Programmiererinnen und Entwicklern in Algorithmen eingeschriebenen Normen und Abweichungsgrenzen hinterfragt. Dabei geht es um eine Entmythologisierung von "Daten, die für sich sprechen", denn aus datenkompetenter Sicht sind Daten niemals "roh", sondern jeweils schon "gekocht", generiert und geformt. Je lauter die Forderung wird, die Daten sprechen zu lassen, desto mehr Sprechen und Nachdenken über die Grenzen informatischer Modellierung tut not. Indes ist das medienkritische Individuum mit einer Algorithmenkritik überfordert. Es bedarf diskursiver und regulatorischer Schnittstellen und Organisationen, um Algorithmen in ihren sozialen Auswirkungen bewertbar zu machen. Wie kann Bildung die sozialen Folgen mit ausreichender, auch informatischer Beschreibungstiefe thematisieren und zugleich einen algorithmenethischen Diskurs befördern? Welche mittelbaren sozialen Folgen entstehen, wenn unter Handlungs- und Optimierungsdruck algorithmisch erzeugte Entscheidungen bevorzugt und legitimierend eingesetzt werden?

Vom souveränen Subjekt zum "soziotechnischen Projekt": Nicht erst mit der Diskussion um den digitalen Kontrollverlust wird die alleinige Verantwortungsverlagerung auf das kompetente Subjekt als Verkürzung interpretiert. Schon Ende der 1990er Jahre wurde die Verschiebung von Konsequenzen marktwirtschaftlicher Medienderegulierung auf das medienkompetente Individuum als Krisensymptom gedeutet. Um Verkürzungen und Überlastungen entgegenzutreten, sollte digitale Kompetenz in Beziehung zu überindividuellen Gestaltungsoptionen gesetzt werden. So schlägt der Sachverständigenrat für Verbraucherfragen vor, die individuell gebundene digitale Kompetenz mit Regulierungsprozessen und der Technologiegestaltung zu einem Dreieck der digitalen Souveränität zu verbinden. Digitale Souveränität kann nicht über Bildungsmaßnahmen allein gewährleistet werden, sondern erfordert geeignete regulatorische Kontexte und Anforderungen an die Technologiegestaltung, beispielweise den Versuch, bei der technischen Erarbeitung von Datenverarbeitungsvorgängen Datenschutz bereits zu integrieren. Ein solches soziotechnisches Projekt müsste im starken Individuum verankert werden und zugleich Schnittstellen zu sozialen Akteuren schaffen. Gelingen kann das nur interdisziplinär übergreifend. Für die Bildung bleibt das Individuum zentral: Es trifft die ethisch grundierten Entscheidungen in Wertekonflikten und handelt in Situationen der Unsicherheit. Wie kann Bildung zwischen Überforderung, zweckrationaler Indienstnahme und unverkürzter Entfaltung ihre Position in der digitalen Transformation behaupten?

Handlungsempfehlungen

Für eine kritische Bildung inmitten dieser und weiterer Spannungsfelder können einige Handlungsempfehlungen formuliert werden:

Allen Hypes um Trendbegriffen wie "Big Data" zum Trotz geht es nach wie vor um die verbindliche Verankerung von medienpädagogischen und informatischen Lernzielen in die Curricula entlang der Bildungskette und im Bereich der Lehreraus- und -fortbildung. Diskurse über die "Bildung in der digitalen Welt" sollten gemeinsam mit den relevanten Akteuren auch im Hinblick auf die oben genannten Spannungsfelder weiter fortgesetzt werden.

Aufklärerische und nicht-zweckfunktionale Bildungsziele in ihren erkenntnisbezogenen, ethisch-moralischen und politischen Ausprägungen sollten verstärkt Eingang in zukünftige öffentliche Fördermaßnahmen für eine kritische Bildung über Big Data finden. Die Förderung anwendungs- und arbeitsmarktorientierter Kompetenzen und Qualifizierungsaspekte für Big Data findet ohnehin ihren Weg.

Über die Vermittlung von Grundlagenwissen zu den Einsatzszenarien hinaus sollte die kritisch-reflexive Selbstpositionierung des Einzelnen gegenüber den sozialen und politischen Folgen einer fortschreitenden Datafizierung gefördert werden. Von Bedeutung sind das diskursive Abwägen, die ethische Bewertung und der Umgang mit Kontingenz, Risiken und Widersprüchen in Zeiten des drohenden Kontrollverlustes. Um daten- und algorithmengetriebene Folgen für die soziale Welt erfahrbar zu machen, bedarf es nicht notwendigerweise Informationstechnologien; auch künstlerisch-ästhetische Vermittlungsformen wie Theater- oder Kunstprojekte können helfen, Fragen der Souveränität und Freiheit in der digitalen Welt zu beantworten.

Eine informationell selbstbestimmte Lebensführung ist für das Individuum im Big-Data-Zeitalter zunehmend unerreichbar. Starke datenschutzrechtliche Rahmen und technologische Gestaltungsvorgaben für das Sammeln und Verarbeiten von Daten sind unverzichtbar, und eine alleinige Verantwortungsverschiebung auf das Individuum greift zu kurz. Grenzen individueller Datensouveränität sollten realistisch bewertet und politische Dimensionen neuer informationeller Machtasymmetrien herausgestellt werden. Insbesondere dann, wenn sich Big-Data-Praktiken diskriminierend oder sozial unverantwortlich entfalten, muss politische Steuerung greifen. Hierfür sollte auch die politische Bildung sensibilisieren.

Die fortschreitende Durchdringung der Gesellschaft mit Big-Data-Intermediären wie beispielsweise Google oder Facebook verbindet datenökonomische Interessen von Internetkonzernen mit politischen Konsequenzen für sich wandelnde Öffentlichkeiten. Prozesse der politischen Meinungsbildung verändern sich unter diesen Bedingungen. Speziell die digitalökonomischen Triebkräfte mit ihren politischen Konsequenzen sollten daher Bildungsanstrengungen aufgreifen und erörtern.

Zur Planung und Entwicklung von Bildungsangeboten über Big Data sind Forschungen im Schnittfeld von Bildung, Technologien und gesellschaftlichen Kontexten nötig. Entsprechend eines nicht-funktionalistischen Bildungsverständnisses bedarf es hierzu angemessener, qualitativer Forschungsansätze.

Die Dynamik technologischer Entwicklungen erfordert einen stetigen Dialog und einen übersetzenden Austausch zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Alltagswelt. Entgegen dystopischer Interpretationen von Big Data sollten sich Bildungsmaßnahmen auch kreativ, partizipativ und aktiv gestaltend mit datengetriebenen Anwendungen auseinandersetzen. Die praktische Förderung von Datenkritik und die Erschließung neuer gemeinwohlorientierter datengetriebener Nutzungsfelder im sozialen Umfeld können beispielsweise in didaktisch aufbereiteten Daten-Lernumgebungen oder Open-Data-Projekten gelingen.

Fazit

Seit der Aufklärung ist Bildung eng mit Prinzipien der Vernunft, Mündigkeit und Emanzipation verbunden. Sie trägt ein Moment des Nicht-Zweckfunktionalen in sich und umfasst Selbst- und Persönlichkeitsentfaltung in einem fortwährenden und unabschließbaren Prozess. Eben diese Bildungsdimensionen verankern informationelle Selbstbestimmung und Freiheitsgestaltung, digitale Souveränität und Entscheidungsautonomie in der digitalen Aufklärung. Bildung in der digitalen und vernetzten Welt muss aus technologischer, gesellschaftlich-kultureller und anwendungsbezogener Perspektive betrachtet werden. Über die Fragen "wie funktioniert das?", "wie wirkt das?" und "wie nutze ich das?" hinaus geht es um die Frage "wie und warum positioniere ich mich dazu?".

Jenseits aller Zergliederung und Auflösung in Einzelkompetenzen geht es bei Bildung in der digitalen Welt um eine persönlichkeitsbildende Perspektive. Diese schließt ethische Urteilskraft und eine diskursive Grundhaltung ein, die auch die Metaphoriken in den Reden über Technologien kritisch entzaubert. Ergänzend gilt es, die informatischen Modellierungen der Welt in ihren Auswirkungen zu verstehen und solidarischen und politischen Gestaltungswillen für die digitale und soziale Welt zu zeigen. Jenseits aller Kompetenzförderung geht es um etwas viel Grundsätzlicheres: um die Neuverfugung ganzer Bildungsbereiche; informatische, medienpädagogische, kulturell-ästhetische und ethische Bildung sowie angesichts der Informations- und Machtasymmetrien politische und ökonomische Bildung. All dies ist eine enorme interdisziplinäre Anstrengung, die aber mit der Reichweite und Tiefe der digitalen Transformation unserer Gesellschaft begründbar, ja notwendig erscheint.

leitet den Forschungsbereich am Grimme-Institut und arbeitet in Projekten des Grimme-Forschungskollegs an der Universität zu Köln. E-Mail Link: gapski@grimme-institut.de