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Brasilien nach den Wahlen 2006

Silvana Krause

/ 16 Minuten zu lesen

Der Beitrag bilanziert der ersten Amtszeit von Präsident Lula: seine Wahlkampfstrategie, die Konsequenzen für seine spätere Regierungsarbeit und die erreichten Ziele. Sodann werden die Präsidentschaftswahlen von 2006, die Strategien der Kandidaten und die Gründe genannt, die zur Wiederwahl Lulas geführt haben.

Einleitung

Der Wahlsieg von Luiz Inacio Lula da Silva im Jahr 2002 stellte für die in Brasilien erst 1985 eingeführte Demokratie eine Herausforderung dar, denn er führte zu einem Machtwechsel, und viele Politikwissenschaftler sahen darin sogar den Beginn einer neuen politischen Phase des Landes. Die Partei Lulas, die Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores = PT), symbolisierte einerseits den Kampf der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften aus den 1980er Jahren, andererseits aber stellte sie eine Option für die noch junge Demokratie Brasiliens dar. Lula kündigte einen wirklichen Richtungswechsel an, da seine Partei sich im politischen Umgestaltungsprozess nach den Wahlen an keiner Regierungskoalition beteiligt hatte und als klare Opposition auftrat. Das Profil der PT unterschied sich seit ihrer Gründung erheblich von den anderen Parteien. Sie war eine Partei mit einer fest gefügten sozialen Bezugsgruppe, mit den Charakteristika einer Massenpartei, und sie war nie von der Unterstützung des Staatsapparats abhängig. Sie hatte immer darauf geachtet, Abstand zu Führungsbündnissen und Parteien zu halten, die am Militärregime oder am Pakt zur politischen Umgestaltung und der Konstruktion einer neuen Regierung beteiligt waren.



Nach drei erfolglosen Versuchen, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen (1989, 1994 und 1998), präsentierte sich Lula, zu jener Zeit Gewerkschaftsführer, 2002 erneut als Kandidat, dieses Mal jedoch mit einer neuen Wahlstrategie und einer signifikanten Veränderung seines Profils.

Seine Wahlkampfstrategie bestand in der Vermittlung eines beweglicheren und weniger radikalen Bildes seiner Person. Lula signalisierte Bereitschaft zu Verhandlungen und der Aufnahme des Dialogs mit Unternehmern und war vertrauensvoll genug, um Vereinbarungen zu treffen. Er regierte, ohne die Armut aus dem Blick zu verlieren, denn schließlich stammt er nicht nur aus der Gewerkschaftsbewegung der Metallindustrie in Sao Paulo, sondern kommt aus der ärmsten Region des Landes, dem Nordosten.

Was seine Wahlkampfstrategie noch deutlicher macht, ist die Vereinbarung einer Koalition, die nicht aus Parteien des linken Spektrums zusammengesetzt, sondern eher in der Mitte-Rechts-Richtung angesiedelt ist. Deren Kandidat für den Posten des Vizepräsidenten Brasiliens ist José de Alencar von der Liberalen Partei (Partido Liberal = PL), der ein erfolgreicher Unternehmer ist und somit auch die Unternehmerverbände des Landes repräsentiert.

Eine weitere wichtige Strategie Lulas bestand darin, keine radikale Position gegen den bis dahin amtierenden Präsidenten Fernando Henrique Cardoso einzunehmen, sondern sogar dessen Politik der Inflationskontrolle zu loben und keinerlei Streit über den "Plano Real" einzugehen, der die brasilianische Wirtschaft seit 1994 stabilisierte. Diese Änderung von Image und Wahlkampfstrategie zeigte Wirkung und führte zum Sieg Lulas im zweiten Wahlgang gegen den Kandidaten der bis dahin regierenden Brasilianischen Partei der Sozialdemokraten (Partido da Social Democracia Brasileira=PSDB), José Serra.

Herausforderungen für die erste Regierung Lulas

Wenn auch die Änderung der Wahlkampfstrategie der PT 2002 zum Sieg Lulas führte, so galt es nun, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Durch die erweiterte Bündnispolitik kam es erstens zu internen Auseinandersetzungen, die besonders durch den linken Flügel der PT angeheizt wurden. Diese Debatten endeten mit dem Parteiaustritt von einigen Führungskräften und der Distanzierung von einem besonders militanten Flügel bei der Bildung der neuen Regierung. Zweitens musste der Präsident nun mit einer anderen Wählerbasis umgehen lernen, die sich signifikant von der Wählerschaft der 1980er und 1990er Jahre unterschied. Der traditionelle PT-Kandidat hatte bisher seine Klientel vor allem in den stärker entwickelten, urbanisierten und industrialisierten Regionen und Städten gefunden, die sich besonders im Südosten und Süden des Landes konzentrierten, so dass die PT Schwierigkeiten hatte, die ärmere Bevölkerung im Norden und Nordosten für sich zu gewinnen, die eher die konservativen Parteien wählten. Doch bereits im ersten Wahlgang erhielt Lula die Mehrheit der Stimmen in fast allen Regionen des Landes mit Ausnahme von zwei Bundesstaaten im Nordosten (Ceará und Alagoas) und dem Bundesstaat Rio de Janeiro. Dies macht einerseits deutlich, wie stark die PT den Kreis ihrer Wählerschaft erweitert hatte, und andererseits, wie sehr sie vom Kandidaten Lula abhängig war. Dies bedeutete, dass eine ärmere und weniger gebildete Schicht den PT-Kandidaten zum Präsidenten Brasiliens gewählt hatte.

Für die brasilianischen Wählerinnen und Wähler waren die Inflationsbekämpfung und die ökonomische Stabilität ein im Wahlkampf tabuisiertes Thema, weil diese die Erfolge der Regierung von Fernando Henrique Cardoso symbolisierten. Jedoch hatten der "Plano Real" und die Programme der Privatisierung unterdessen ihre Grenzen erreicht. Die Regierung Lula musste deshalb folgende Probleme lösen: erstens die Frage der Arbeitslosigkeit, denn das ökonomische Wachstum war nicht hoch genug, um die Arbeitslosenquoten zu senken; zweitens die soziale Frage und die Einkommensverteilung, die bisher keine Fortschritte gemacht hatte; drittens die hohe Auslandsverschuldung, die sich als Hindernis für die nachhaltige ökonomische Entwicklung des Landes darstellte.

Zu Beginn des Wahljahres 2006 konnte die Regierung Lula Erfolge in der Inflationsbekämpfung aufweisen. Mit 2,8 Prozent lag die Inflationsrate knapp über dem besten Ergebnis von 1,7 Prozent im Jahre 1998. Die niedrige Inflationsrate kam vor allem den ärmeren Schichten der Bevölkerung zugute, die dadurch wieder mehr Geld für Lebensmittel hatten. Trotz erfolgreicher Inflationskontrolle blieb das Wirtschaftswachstum - auch bei einer günstigen internationalen Weltkonjunktur - schwach. Brasilien war das Land, das seit 2000 die niedrigsten realen Wachstumsraten hatte, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, im Vergleich zum Durchschnitt der sogenannten Schwellenländer. Die soziale Frage war zentraler Bestandteil der Politik der Regierung Lula. Die bedürftigere Bevölkerung nannte ihn den "Präsidenten der Armen".

Der Kampf gegen die Armut und für die Umverteilung von Einkommen wurde und wird durch das "Ministerium für Soziale Entwicklung und Kampf gegen den Hunger" im Rahmen des Programms "Bolsa Família" geführt, dessen Ziel darin besteht, Einkommen direkt an arme Familien zu verteilen. "Bolsa Família" will jedoch nicht nur eine kurzfristige Lösung des Hungerproblems erreichen, sondern versucht, fundamentale soziale Rechte im Bereich von Bildung und Gesundheit zu garantieren. Seine ganzheitliche Sichtweise zielt darauf ab, den Kreislauf der Armut innerhalb der Familie zu durchbrechen und fordert deshalb auch Zugeständnisse von Seiten der Familien. Zu Beginn des Wahljahres zeigten Umfragen deutlich einen direkten Zusammenhang zwischen dem Sozialprogramm "Bolsa Família" und der Zustimmung zur Regierung. Dieser Erfolg wurde zunächst dem Engagement im sozialen Bereich zugerechnet (43 Prozent) und später erst der Leistung im Wirtschaftsbereich (24 Prozent). Ohne Zweifel hatten die Sozialprogramme größeren Einfluss in den ärmeren Regionen des Landes, im Nordosten, in denen der Präsident seine höchste Zustimmungsrate erreichte.

Getrübt wurde die Bilanz durch die 2005 aufkommenden Korruptionsvorwürfe gegen die Partei des Präsidenten, die sogar enge Vertrauenspersonen Lulas betrafen, die direkt an der Regierung beteiligt waren. Einerseits hatte die Politik der PT, Koalitionen einzugehen, zu solchem Unmut geführt, dass einige eher links gerichtete Abgeordnete die Partei verließen, andererseits erhoben auch die Koalitionspartner schwerwiegende Vorwürfe gegen die Regierung. Die Öffentlichkeit assoziierte die Korruption und die durch die Medien veröffentlichten Skandale zwar mit der Regierung Lulas; dies stellte aber überraschenderweise keine direkte Bedrohung für die weiterhin positive Bewertung der Regierung und für die Wiederwahl des Präsidenten dar. Eine wichtiges Indiz, um diesen scheinbaren Widerspruch zu erklären, ist die Personalisierung der Politik Brasiliens. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung wusste, dass es Korruption innerhalb der Regierung Lulas gab, vertraut sie weiterhin ihrem Präsidenten.

Die Präsidentschaftswahlen 2006

Während des gesamten Wahlkampfes führten die Umfragen verschiedener Institute immer den PT-Kandidaten Lula als Favoriten und hielten einen zweiten Wahlgang für eher unwahrscheinlich. Der Kandidat der oppositionellen PSDB, Geraldo Alckmin, war daher in seinem Bemühen wenig erfolgreich, den positiven Bewertungen der Regierung und dem charismatischen Profil des Präsidenten etwas entgegenzusetzen. Als ein erneuter Skandal, der auch das Umfeld der Regierung Lula betraf, aufgedeckt wurde und den laufenden Präsidentschaftswahlkampf beeinträchtigte, waren es nur noch 15 Tage bis zum ersten Wahlgang. Die Bundespolizei beschlagnahmte Unterlagen (Fotos, DVDs, Videos), die den Kandidaten der PSDB betrafen. Mit diesen Unterlagen konnte bewiesen werden, dass der PSDB-Kandidat in die "Blutsauger-Mafia" verstrickt war, die für den illegalen Ankauf von Krankenwagen verantwortlich war. Das beschlagnahmte "Dossier" sollte an Mitglieder der PT verkauft werden, um so dem PSDB-Kandidaten zu schaden. Der Skandal betraf indirekt auch Präsident Lula, weil die Untersuchungen ergaben, dass dessen engstes Umfeld in den Fall verstrickt war.

Die Strategie Lulas, sich in diesem Fall nicht zu äußern und nicht an den Wahlkampfdebatten im Fernsehen teilzunehmen, trug wesentlich dazu bei, dass ein zweiter Wahlgang notwendig wurde. Die politische Debatte im ersten Wahlgang kreiste um Korruptionsvorwürfe und Moral in der Politik. Die Oppositionskandidaten konzentrierten ihre Kräfte darauf, den Wählern deutlich zu machen, dass die moralische Integrität der PT angeschlagen sei. Diese Strategie zielte darauf, das positive Image zu zerstören, das die PT im Kampf gegen die Korruption gewonnen hatte.

Im ersten Wahlgang erreichte Lula 48,61 Prozent der abgegeben Stimmen, sein Gegenkandidat, Geraldo Alckmin, konnte 41,64 Prozent der Stimmen auf sich vereinen.

Der erste Wahlgang machte damit auch deutlich, dass das Land gespalten war, besonders, wenn man die regionale Stimmverteilung betrachtet. Lula gewann im Nordosten und Norden, also den ärmeren Regionen des Landes, in denen die Sozialpolitik der Regierung den Bedürftigen zugute gekommen ist. Geraldo Alckmin erzielte seine Erfolge im Süden und Südosten des Landes, wo das höchste Pro-Kopf-Einkommen erzielt wird. Auch ist die Relation zwischen der Stimmabgabe für Lula und den fünf Bundesstaaten, deren Wirtschaft stark von der Landwirtschaft geprägt ist, interessant. Im Zentralen Westen (Mato Grosso do Sul, Goiás und Mato Grosso) und im Süden (Rio Grande do Sul und Paraná) spiegelte das Wahlergebnis nicht nur die Krise in diesem Sektor wider, sondern auch die Unzufriedenheit mit der bis dahin amtierenden Regierung.

Der zweite Wahlgang ergab ein völlig anderes Wahlergebnis als der erste. Der Wahlkampf konzentrierte sich auf Lula und Alckmin und wurde besonders intensiv im Fernsehen ausgetragen. Der Präsident kritisierte nun seine eigene Partei und forderte einen Führungswechsel auf Bundesebene, denn immerhin wurden vier wichtige Mitarbeiter der PT eine Woche nach dem ersten Wahlgang aufgrund ihrer Verwicklungen in den "Dossier"-Skandal gegen die PSDB ihrer Ämter enthoben. Die gezeigte Führungsstärke Lulas ließ sogleich seine Umfragewerte steigen. Aber auch Alckmin versuchte, sein Image zu verändern, indem er Lula stärker angriff. Ein weiterer Faktor, der zum Sieg Lulas beitrug, war sicherlich, dass die Wähler erst in der Zeit zwischen den beiden Wahlgängen die Chance hatten, Alckmin näher kennen zu lernen, denn durch seine ehemalige Funktion als Gouverneur von Sao Paulo war sein Bekanntheitsgrad eher auf diesen Bundesstaat beschränkt geblieben.

Eine Strategie, die positive Effekte für Lula hatte, war der Versuch, die Debatte von der Korruption und der moralischen Integrität der PT auf die Privatisierungspläne der PSDB, besonders in Bezug auf Fernando Henrique Cardoso, zu lenken. Dadurch gelang es dem Präsidenten, die programmatischen Grenzen und Unterschiede in den Konzeptionen zur Wirtschaftsentwicklung seiner Politik und der von Cardoso zu verwischen.

Während der Regierung von Getúlio Vargas wurden vor allem staatliche Unternehmen gegründet, die zum Wirtschaftswachstum des Landes beitrugen. Für viele Wähler stellen diese immer noch öffentlichen Besitz dar, besonders, wenn es um unveräußerliche Errungenschaften geht. Denn für Brasilianer ist das Thema der Privatisierungen stark verbunden mit der Erfahrung des Nationalismus in der Zeit der Präsidentschaft von Getúlio Vargas. Und die "Ära" Cardoso bedeutet in diesem Zusammenhang nicht nur den Verlust von öffentlichen Eigentümern durch Privatisierungen, sondern auch Korruptionsverdacht und Unregelmäßigkeiten im Privatisierungsprozess.

Die Frage des Wirtschaftswachstums, in der sich die Parteien nicht gravierend voneinander unterschieden, wurde ebenfalls in die Debatte vor dem zweiten Wahlgang einbezogen. Die eher niedrigen Wachstumsraten und hohen Zinssätze während der ersten Amtszeit Lulas wurden von der Opposition kritisiert. Lula verteidigte sich mit dem Verweis auf nachhaltiges, aber langsames Wachstum und einer graduellen Senkung der Zinssätze. Aus Sicht des Präsidenten sollte dem Problem des brasilianischen Wirtschaftswachstums mit langfristig wirksamen Maßnahmen begegnet werden, indem die steuerliche Belastung verringert und eine generelle Steuerreform, besonders über Entlastungen im Bereich der Exporte und durch Vereinfachungen der Gesetzgebung, vorgenommen wird. Die Vorschläge des Oppositionskandidaten waren wenig innovativ. Alckmin forderte, die öffentlichen Ausgaben besser zu kontrollieren, machte jedoch keine detaillierten Angaben, wie das Wirtschaftswachstum angekurbelt werden könnte. In den Debatten verteidigte er seine Idee, dass der steuerliche Rechnungsausgleich zentral für ein ansteigendes Wirtschaftswachstum wäre. Lula sah dagegen keinerlei Handlungsspielraum dafür, die Staatsausgaben weiter zu senken, ohne Sozialprogramme und Angestelltengehälter kürzen zu müssen.

Die Debatte um Sozialprogramme, die zur Bekämpfung der Armut aufgelegt worden sind, spielte in der Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Die Zustimmung zu den Programmen ließ dem Oppositionskandidaten keine andere Wahl, als für die Weiterführung von "Bolsa Família" und dessen Verbesserung zu plädieren.

Die Politikreform war ebenfalls ein Streitpunkt. Dabei waren zwei Themen von besonderem Interesse: erstens die Wahlkampffinanzierung und zweitens die Möglichkeit der Wiederwahl. Auch hier gab es einen Konsens zwischen den Kandidaten. Beide stimmten angesichts der aktuellen Skandale einer Finanzierung des Wahlkampfes aus öffentlichen Mitteln zu. Die Möglichkeit der Wiederwahl wurde ebenfalls von beiden als demokratieschädlich, insbesondere im Sinne der Einflussnahme der Exekutivorgane auf den Wahlprozess, eingestuft.

Die Meinungsumfragen prognostizierten für Lula im zweiten Wahlgang einen möglichen Sieg. Die Wahlergebnisse bestätigten die Prognosen. Lula gewann die Wahlen mit 60,83 Prozent der gültigen Stimmen, Alckmin dagegen erhielt nur 39,17 Prozent.

Im zweiten Wahlgang änderte sich an der bereits im ersten Wahlgang erkennbaren Tendenz zu Gunsten Lulas nichts. Regional gesehen, gewann Lula vorwiegend im Nordosten und Norden des Landes, Alckmin dagegen im Süden und im Bundesstaat Sao Paulo. Auch die Stimmergebnisse in den Staaten, die besonders von landwirtschaftlich geprägten Industriezweigen leben, blieben auf dem gleichem Niveau wie im ersten Wahlgang. Auch in den Staaten Mato Grosso do Sul, Mato Grosso, Paraná und Rio Grande do Sul verlor der Präsident die Wahlen, nur der Bundesstaat Goiás fiel an ihn zurück.

Perspektiven der neuen Lula-Regierung

Vom politischen Standpunkt aus gesehen, zeigt die neue Parteienkonstellation nach den Wahlen eine überraschend starke Stimmverteilung zu Gunsten der PT und Präsident Lula, wenn man die entgegengesetzten Voraussagen und Verwicklungen der PT in die Skandale im Vorfeld der Wahlen bedenkt. Die PT ist 2006 weiterhin die Partei mit der höchsten Anzahl an Sitzen im Abgeordnetenhaus mit 15,01 Millionen Stimmen, es folgt die PMDB mit 14,57 Millionen. Wichtig ist, dass sich der wieder gewählte Präsident größerer Unterstützung der brasilianischen Bundesstaaten als nach den Wahlen von 2002 sicher sein kann. Dieser Faktor spielt deshalb für die Politik Brasiliens eine zentrale Rolle, weil die Gouverneure großen Einfluss auf die Abgeordneten ihres Bundeslands haben. Einige Analysten vertreten die Meinung, dass sie stärkeren Einfluss ausüben als die eigenen Parteien. Hinsichtlich der Unterstützung des Präsidenten im Kongress haben sich die Parteienkonstellationen und die Anzahl der Parteien nicht wesentlich verändert. In den Wahlen von 2002 wurden insgesamt 19 Parteien gewählt, 2006 waren es 21. Zum ersten Mal kam bei den Wahlen im Jahr 2006 eine Fünf-Prozent-Hürde ("Cláusula de Barreira") zur Anwendung. Von den 29 beim Obersten Wahlgericht (TSE) registrierten Parteien erreichten nur sieben die gesetzlich erforderlichen fünf Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Nach dem Gesetz verlieren die Parteien, die die erforderliche Stimmzahl nicht auf sich vereinen konnten, ihr Recht auf die Beteiligung an verschiedenen Gremien im Senat und Abgeordnetenhaus (Direktoren-Tisch, fachliche Kommissionen); sie erhalten keine finanzielle Unterstützung mehr aus der öffentlichen Parteienfinanzierung, und ihnen bleibt der Zugang zur kostenlosen Radio- und Fernsehwerbung verwehrt. Unter den Parteien, welche die erforderliche Stimmzahl nicht erreichen konnten, sind die Liberale Partei (Partido Liberal = PL) und die Arbeiterpartei Brasiliens (Partido Trabalhista Brasiliero = PTB) hervorzuheben, die zu den verbündeten Parteien des Präsidenten gehören und tief in die Korruptionsskandale verstrickt sind. Um Gesetze zu ändern und ihr Absinken in die politische Bedeutungslosigkeit zu verhindern, bleibt den durch die Fünf-Prozent-Hürde ausgeschlossenen Parteien nur noch die Möglichkeit von Parteibündnissen.

Trotz der Fünf-Prozent-Hürde wird der Präsident wahrscheinlich mit einer instabilen Parteienkonstellation regieren müssen. Man könnte es fast schon als eine Tradition brasilianischer Politik bezeichnen, dass die Unterstützung für den Präsidenten von der Vergabe politischer Ämter an die Parteien und von der Beliebtheit seiner Person abhängt. Zu Beginn einer neuen Amtszeit findet eine Regierung noch die Zustimmung der meisten Kongressabgeordneten. Dieser Zustand ändert sich erst in der zweiten Hälfte ihrer Amtszeit, wenn sich die politischen Parteien wieder auf die Wahlen vorbereiten.

2002 konnte die PT über 17,7 Prozent der Bundesabgeordneten bestimmen und kam zusammen mit den Bündnispartnern auf 25,3 Prozent der Sitze. Im Senat dagegen repräsentierten die PT und ihre Verbündeten nur 20,98 Prozent. In den Wahlen 2006 verringerte sich die legislative Basis der PT. Sie fiel auf 16,17 Prozent der Abgeordneten zurück und erreichte mit ihren Koalitionspartnern 18,9 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus. Im Senat haben sie 13,58 bzw. 18,51 Prozent der Sitze errungen. Trotzdem spiegeln diese Zahlen nicht die wirklichen Stimmenverhältnisse im Nationalkongress wider, weil nicht berücksichtigt wird, dass viele der anderen Parteien Lula zwar unterstützen, aber durch ihren nicht offiziellen Status nicht in die Berechnung einbezogen werden. Zum Beispiel wurde die Brasilianische Sozialistische Partei (Partido Socialista Brasiliero = PSB), die immerhin 5,2 Prozent der Bundesabgeordneten stellt und 3,7 Prozent der Sitze im Senat besetzt, wegen regionaler Streitigkeiten einfach nicht in die Wahlkampagne von Lula aufgenommen. Andere Parteien, die in die Korruptionsskandale verwickelt waren (PL, PTB und PP = Partido Progressista), tauchten ebenfalls nicht auf den Wahlplakaten Lulas auf, stellen jetzt jedoch eine wichtige Stütze für den Präsidenten im Parlament dar. Denn die drei Parteien erreichen zusammen immerhin 16,95 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus und 9,8 Prozent der Senatssitze.

Die stärkste Herausforderung für den Präsidenten wird die PMDB sein, die die größte Fraktion mit 17,3 Prozent im Abgeordnetenhaus und die zweitgrößte (18,51 Prozent) im Senat stellt. Auch wenn die PMDB keine sehr enge Zusammenarbeit mit der Regierung Lula pflegte, ist ein Teil der Partei bereits aktiv in der Regierung, inklusive den Ministerien, vertreten. Dies macht deutlich, dass dieZustimmung der Parteivorsitzenden der PMDB zur Regierung Lulas in dieser Amtsperiode größer ist, und auch Lula demonstriert Offenheit, den Spielraum für die Partei zu erweitern. Allen politischen Einschätzungen nach wird Lula zu Beginn seiner zweiten Amtszeit mit etwa 59 Prozent der Abgeordnetenstimmen rechnen können, ähnlich wie während seiner ersten Amtszeit.

Aus Sicht der Opposition sind die beiden wichtigsten Parteien die PSDB und die Partei der Liberalen Front (Partido da Frente Liberal = PFL), die zusammen 25,34 Prozent der Stimmen im Abgeordnetenhaus und 40 Prozent der Stimmen im Senat haben. Die PFL war jedoch der größte Verlierer der Wahlen, denn sie verlor ihre treuen Wähler im Nordosten des Landes an die PT. Traditionell waren die konservativen Parteien aus dem rechten Spektrum in Brasilien in den ärmeren Regionen des Landes (Norden und Nordosten) erfolgreich, die fortschrittlicheren Parteien und die des linken Spektrums konnten sich dagegen in den urbanisierteren und industrialisierteren Regionen des Landes (Süden, Südosten) behaupten. Die PSDB wird nun zwei Gouverneure in den wichtigsten Bundesstaaten des Landes im Südosten (Minas Gerais und Sao Paulo) und einen Gouverneur im Süden (Rio Grande do Sul) stellen. Jedoch haben die wichtigsten Führungskräfte der Partei, die diese Bundesstaaten regieren werden (José Serra, Aécio Neves und Ieda Crusios), keinerlei Interesse daran, eine starke Opposition gegen den Präsidenten zu bilden. Um ihre Bundesstaaten erfolgreich zu regieren und so ihre Wiederwahl 2010 zu sichern, sind sie auf seine Hilfe angewiesen.

Die Ankündigungen des wieder gewählten Präsidenten lassen den Schluss zu, dass keine großen wirtschaftspolitischen Veränderungen zu erwarten sind. Trotz der Debatte vor dem zweiten Wahlgang um die Beschleunigung des Wirtschaftswachstums oder der Beibehaltung der strengen Inflationskontrolle sowie der hohen Zinssätze deutet nichts darauf hin, dass eine Veränderung in der Wirtschaftspolitik zu erwarten ist. Lula beabsichtigt, ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent pro Jahr zu erreichen, dabei den Anfangsüberschuss auf hohem Niveau bei etwa 4,25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu halten, um die Staatsschulden zu reduzieren und einen schwankenden Wechselkurs zu stabilisieren.

Weiterhin wird der Präsident Investitionen in die Infrastruktur des Landes tätigen müssen, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, damit er seine Sozialpolitik und die Umverteilung von Einkommen fortsetzen kann, worin die politischen Stärken seiner ersten Amtszeit gelegen haben. Sodann sind die offenen Rechnungen für bereits erfolgte Investitionen zu begleichen, die sich auf 57 Prozent der geplanten Investitionen des für 2007 verabschiedeten Haushalts belaufen. Ein weiteres Problem ist die Wiederaufnahme der Schuldenverhandlungen zwischen Bund und Ländern, die ein Hauptinteresse für viele der neu gewählten Gouverneuren darstellt, weil sie ihre Arbeit unter günstigeren finanziellen Startbedingungen aufnehmen möchten. Für den Präsidenten wird dies jedoch keine leichte Aufgabe sein, da er die Unterstützung der Gouverneure benötigt.

Selbst bei der Formulierung einer minimalen Agenda zeigten sich die Schwierigkeiten der neuen Regierung. Präsident Lula muss versuchen, zwischen den verschiedenen Interessengruppen, zum Beispiel den brasilianischen Unternehmern, und anderen Sektoren, die nicht direkt an die Partei gebunden sind, zu vermitteln. Der Präsident scheint aber vor allem die Absicht zu verfolgen, seine Regierung auf eine breitere Basis zu stellen. Wichtig wird dabei am Ende zweierlei sein: ob seine Partei ihm dabei folgen wird und ob seine möglichen Bündnispartner keine zu hohen Forderungen stellen werden.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Juliane Greiner, Potsdam.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Margareth Keck, PT: A' lógica da diferença, S?o Paulo 1991.

  2. Soziale Bewegungen sind zum Beispiel die Bewegung der Landlosen (Movimento dos sem terra, MST) und die Vereinigung der Arbeiter (Central U'nica dos Trabalhadores, CUT), die vor allem die Metall- und Industriearbeiter sowie die Gewerkschaften der öffentlichen Angestellten repräsentiert.

  3. Vgl. Maria D'Alva Kinzo, Radiografia do quadro partidário brasileiro, S?o Paulo 1993.

  4. Vgl. Folha de S?o Paulo vom 29. 9. 2006.

  5. Vgl. http://200.152.41.8/bolsafamilia/bolsafamilia 01.asp (11.11. 2006).

  6. Vgl. Data Folha, in: Folha de S?o Paulo vom 26.2. 2006.

  7. Der Ausschluss dieser Abgeordneten ist vor allem dem Abweichen von der Parteilinie im Kongress zuzuschreiben.

  8. In einer Umfrage vom Jahresbeginn 2006 gaben 82 % der Befragten zu, dass Korruption in der Regierung Lulas existiert. Vgl. Data Folha, in: Folha de S?o Paulo vom 6.2. 2006.

  9. 2006 standen insgesamt 8 Kandidaten auf die Präsidentschaft zur Wahl.

  10. Der erste Wahlgang fand am 1. 10. 2006 statt. Entsprechend den Wahlregeln muss der erfolgreiche Präsidentschaftskandidat wenigstens 51 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen.

  11. Vgl. http://www.justicaeleitoral.gov.br/resultado/index.html.

  12. Der zweite Wahlgang fand am 29. 10. 2006 statt.

  13. In den 1950er Jahren gab es eine Kampagne "Das Erdöl gehört uns" ("O Petróleo é nosso"), die das staatliche Öl-Monopol der Firma Petrobras verteidigte.

  14. Getúlio Vargas regierte das Land von 1930 bis 1945 und von 1951 bis 1954.

  15. Vgl. http://www.justicaeleitoral.gov.br/ resultado/index. html (11. 11. 2006).

  16. Vgl. http:// oglobo.globo.com/ blogs/ilimar/ Default.asp?cod_blog= 18& palavra= &pag Atual3. Auch mit einer höheren Stimmenanzahl bleibt die PT hinter der PMDB zurück, da die Repräsentation der Regionen und Koalitionen das Sitzverhältnis verzerrt. Vgl. dazu Silvana Krause/Rogério Schmitt (Hrsg.), Partidos e Coligaçoes Eleitorais no Brasil, Rio de Janeiro-S?o Paulo 2005; David Samuels, Número e Distribuiç?o de Cadeiras dos Deputados, in: Leonardo Avritzer/Fátima Anastásia (Hrsg.), Reforma Política no Brasil, Belo Horizonte 2006; Jairo Marconi Nicolau, As distorçoes na representaç?o dos estados na Câmara dos Deputados, in: Revista Dados, (1997) 40/03.

  17. Die brasilianischen Gouverneure sind mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer vergleichbar. Über die Rolle der Gouverneure in der neuen Demokratie Brasiliens vgl. Fernando Luiz Abrucio, Os baroes da federaç?o: os governadores e a redemocratizaç?o brasileira, S?o Paulo 1998.

  18. PT: 15,58 %; PMDB: 15,12 %; PSDB: 14,13 %; PFL: 11,34 %; PP: 7,42 %, PSB: 6,38 %; PDT: 5,4 %.

  19. Vgl. Carlos Ranulfo Melo, Retirando as cadeiras do lugar. Migraç?o partidária dos deputados (1985 - 2002), Belo Horizonte 2004.

  20. Vgl. Folha de S?o Paulo vom 30. 10. 2006.

  21. Vgl. Revista "Isto E" vom 8. 11. 2006.

  22. Vgl. Folha de S?o Paulo vom 3. 10. 2006.

Dr. phil., Professorin für Politikwissenschaft an der Föderalen Universität des Goiás, 74001 - 970 Goiânia, Brasilien.
E-Mail: E-Mail Link: krause@fchf.ufg.br