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Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik

Michael Vester

/ 18 Minuten zu lesen

Die Erwartung, die Abmilderung krasser sozialer Polarisierungen würde den sozialen Frieden auf Dauer sichern, wird sich nicht erfüllen. Moderne Milieus brauchen mehr als eine Rückkehr in die sichere, aber bevormundende Hierarchie der fünfziger Jahre.

Einleitung

Die Bundestagswahl 2005 hatte eine Neubesinnung auf die gesellschaftspolitischen Orientierungen der Bevölkerung zur Folge. Das Wahlergebnis war nicht nur ein Schock für die Volksparteien, die von den 38,5 % des Jahres 2002 auf 35,2 % (CDU/CSU) bzw. 34,2 (SPD) zurückfielen. Es war auch eine Überraschung für die Meinungsforschung, die lange einen hohen Sieg der Union und eine noch größere Niederlage der SPD vorausgesagt hatte. Zur Erklärung dieses Desasters konkurrieren zwei Thesen miteinander. In beiden wird davon ausgegangen, dass es in den Monaten vor der Bundestagswahl extrem viele Unentschiedene unter den Wahlberechtigten gab. Dies wird zum einen mit der Auflösung langfristiger Parteibindungen (Erosionsthese), zum anderen mit der Enttäuschung der durchaus fortbestehenden Parteiklientele über einen Kurswechsel "ihrer" Parteien (Enttäuschungsthese) erklärt.


Horizontale Verschiebung der Sozialstruktur

Die erste These erklärt den Wahlausgang mit dem Schlagwort des "individualisierten Wählers in der Mediendemokratie", bedingt durch eine generelle "Individualisierung". Durch den Übergang zur "postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft", welche größere individuelle Kompetenzen fordere, verhielten sich die Wählerinnen und Wähler eher "volatil" ("flatterhaft") und würden diejenigen wählen, deren Angebot ihrem individuellen Vorteil am meisten entgegenkomme. Es handelt sich also um das Modell eines auf der Nachfrageseite in viele Einzelne aufgesplitterten, "atomistischen" Marktes.

In der politischen Sozialstrukturforschung wird dies auf breiter empirischer Basis nachhaltig in Frage gestellt. Die Gesellschaft wird nicht als atomisierter Markt, sondern als Feld verstanden, das dauerhaft in Berufsgruppen bzw. Milieus gegliedert ist, die relativ stabilen gesellschaftspolitischen Präferenzen folgen. Sozialstruktur und Präferenzen verändern sich zwar, aber nur langsam und eher in der Form einer horizontalen Auffächerung als der Auflösung sozialer Großgruppen.

Die Analysen der beruflichen Gliederung gehen von dem - auch den PISA-Studien zugrunde liegenden - Modell der vertikalen Klassenschichtung von John Goldthorpe aus, differenzieren dies aber zusätzlich horizontal. Walter Müller entdeckte so die horizontale Herausbildung modernerer "Klassenfraktionen" mit eigenen gesellschaftspolitischen Gruppenidentitäten. So wählen die oberen und traditionellen Klassenfraktionen (in der "administrativen" Dienstklasse) aus ihrem Interesse an Autoritätshierarchien eher konservativ und liberal. Die expandierenden Fraktionen der "technischen Experten" und der "sozialen Dienstleistungen" wählen, aufgrund ihrer Interessen an beruflicher Autonomie, eher ,rot-grün`. Müller kann die statistische Wahrscheinlichkeit dieser Präferenzen angeben. Aber er lässt offen, warum Minderheiten der Berufskategorien eben doch anders wählen und warum welche der verschiedenen Parteien innerhalb eines Lagers bevorzugt wird.

Soziale Milieus

Das Berufsfeld ist nur das erste Glied einer Vermittlungskette, an deren Ende die Parteiwahl steht. Um zu einer differenzierteren Landkarte der gesellschaftspolitischen Vorstellungen zu gelangen, müssen wir uns dem dazwischen liegenden Feld zuwenden: den Alltagsmilieus. Hier bilden sich die Vorstellungen heraus, nach denen die Gesellschaft im Alltag wie aus politischer Sicht geordnet sein soll. Dies geschieht nicht unabhängig von der beruflichen Stellung, aber doch relativ autonom, durch viele eigene Instanzen der Sozialisation und Erfahrung hindurch. Soziale Milieus sind nicht beliebig gewählte Lebensstilgemeinschaften, sondern Teil einer sozialen Gesamtgliederung. Entsprechend werden sie, schon bei Émile Durkheim, doppelt definiert: ,objektiv` als Zusammenhang von Beziehungen (der Verwandtschaft, Gemeinde oder Berufsgruppe) und ,subjektiv` durch die Herausbildung eines gemeinsamen "Korpus moralischer Regeln" und deren Verinnerlichung in einem gemeinsamen "Habitus".

Im Alltagsleben sind also äußere Lebensstellung und innerer Habitus relativ eng "verkoppelte" Elemente einer "Lebensführung" (Max Weber) oder "Lebensweise" (Raymond Williams), durch welche die Milieus, Schichten oder Klassen sich voneinander abgrenzen und innerlich zusammenhängen. In großen empirischen Studien ist für Frankreich wie für die Bundesrepublik nachgewiesen worden, dass der Habitustyp immer noch eng auf das jeweilige Berufsfeld abgestimmt ist, allerdings auf dynamische und flexible Weise, gleichsam über ein Gummiband. Die Vermittlung zwischen beidem erfolgt durch die im Habitus angelegten Schemata des Geschmacks und der Alltagspraxis und durch milieueigene "Strategien", welche die nachwachsenden Generationen auf bestimmte Bildungs- und Berufswege führen und die nicht nur zur "Reproduktion" der Klassenstellung, sondern auch zu "Umstellungen" taugen. Diese werden notwendig, wenn das angestammte Berufsfeld eines Milieus sich wandelt und beispielsweise zur bloßen Erhaltung der sozialen Stellung höhere Bildungsanforderungen stellt.

Entgegen den Klagen über die Trägheit der Menschen mangelt es diesen keineswegs an der Bereitschaft zu Umstellungen und zur Übernahme von Eigenverantwortung. Allerdings wird erwartet, dass Risiken, welche die Ressourcen und Planungen der Familien überfordern, durch staatliche Ordnungspolitik flankiert werden. Den Milieus stehen sehr verschiedene äußere Ressourcen und innere Dispositionen zur Verfügung. Dies ist empirisch detailliert untersucht worden. Die beigefügte "Landkarte" der Milieus (Abbildung1) haben wir aufgrund detaillierter eigener Forschungen entwickelt, die seit den siebziger Jahren angeregt worden waren durch die Konzepte der Milieus und Alltagskultur bei Émile Durkheim, Pierre Bourdieu und den frühen ,Cultural Studies`, sowie den empirischen Neuentwicklungen von Jörg Ueltzhöffer und Berthold Bodo Flaig für das ,Sinus`-Institut. Die Landkarte gibt einen - die Forschungsergebnisse stark vereinfachenden - Überblick. Sie zeigt eine räumliche Gliederung, in der sich die "Arbeitsteilungen" der Milieus ausdrücken. Vertikal ist die Gesellschaft ständisch dreigeteilt in eine privilegierte, eine nichtprivilegierte und eine unterprivilegierte Schichtungsstufe. Horizontal teilt sie sich auf jeder Stufe nach "Klassenfraktionen". Rechts sind die Milieus zugeordnet, die an Einordnung in traditionelle Autoritätshierarchien orientiert sind, links die Milieus, die auf eigene Arbeitsleistung, Bildungskapital und Autonomie setzen. Diese Raumgliederung (Abbildung1) hat eine erstaunlich verfestigte Form (und ähnelt darin frappierend der Gliederung anderer fortgeschrittener Gesellschaften). Die Gesellschaft teilt sich in hauptsächlich fünf Milieu-Großgruppen (fett umrandet), die ihren Platz im sozialen Raum schon seit Generationen weitergeben und daher als "Traditionslinien" gelten können. Gleichwohl gibt es gewisse Bewegungen, in kleinem Umfang zwischen und in beachtlichem Umfang innerhalb diesen Traditionslinien. Diese Bewegungen sind vor allem Ausdruck der beruflichen Umstellungen und des vermehrten Bildungserwerbs der jüngeren Generationen und drängen - ähnlich einer sich häutenden Schlange - auch gegen die äußeren Schranken, durch die sich andere Traditionslinien gegenüber Neuzugängen "abschließen". Die hierarchische ständische Ordnung steht jedoch im Konflikt mit dem zunehmenden, Gleichberechtigung einfordernden Kompetenzerwerb in den Volksmilieus. Die oval eingerahmten Bildungskennziffern in der Abbildung zeigen auch in der Mitte eine dynamische Bildungsbeteiligung, die aber nach oben "ausgebremst" wird. Obere bürgerliche Milieus: Oben grenzt sich eine nach allen Standards privilegierte bürgerliche "Oberschicht" (um 20 %) durch distinktive Lebensstile ab. Bis auf das kleine "gehobene Dienstleistungsmilieu", in dem sich die Aufsteiger der technischen Expertenberufe und der sozialen Dienstleistungen finden, hat sie ihre soziale Stellung seit Generationen gegen Neuzugänge gesichert. Auch die kulturelle Avantgarde (außen links) ist überwiegend Domäne jüngerer Oberschichtangehöriger. Über die Generationen verfestigt hat sich zudem die horizontale Teilung in eine Traditionslinie von Macht und Besitz (rechts) und eine Traditionslinie der akademischen Intelligenz (oben links). Doch beide Traditionslinien haben sich seit 1945 innerlich erheblich verändert, durch Anpassung an höhere Bildungsstandards und modernere Lebensstile. Respektable Volks- und Arbeitermilieus: Die Volksmilieus der Mitte (knapp 70 %) grenzen sich durch eine respektable Lebensführung und eine sichere und geachtete Berufsstellung nach unten ab. Sie grenzen sich auch nach oben ab, als Arbeitnehmer und "kleine Leute", die es durch eigene Leistung zu etwas gebracht haben. Sie sind daher sensibel gegenüber Privilegierungen, welche die Grundsätze der Leistungsgerechtigkeit und Statussicherung verletzen, wie dies etwa bei der Absenkung des Arbeitslosengeldes auf Sozialhilfenivau ("Hartz IV") geschieht. Horizontal sind zwei verfestigte Traditionslinien zu unterscheiden. Die kleinbürgerliche Traditionslinie (rechts) trägt ständisch-konservative Züge. Denn viele Angehörige stammen aus Familien von Kleinbesitzenden, die sich auf Arbeitnehmerberufe umstellen mussten, aber ihre Sicherheit immer noch von der Einordnung in Hierarchien erwarten. Die moderne Traditionslinie (links) setzt dagegen auf Autonomie, erworben durch eine planvolle Lebensführung, gute fachliche Arbeit, Ausbildung und Leistung sowie gegenseitige Hilfe. Ein Mensch soll nach seinen Werken beurteilt werden und nicht nach seiner Zugehörigkeit zu bestimmten Geschlechts-, Alters- oder Volksgruppen. Räumlich weiter links findet sich eine "erlebnisorientierte" Milieufraktion, die sich jugendspezifisch gegen die Pflicht- oder Arbeitsethik der beiden großen Traditionslinien, das heißt ihrer Eltern, abgrenzt, aber gleichwohl auch arbeitnehmerisch orientiert ist. In der großen Mitte ist die horizontale Bildungs-, Berufs- und Lebensstildynamik besonders ausgeprägt. In beiden Traditionslinien sind junge Milieufraktionen der so genannten "modernen Arbeitnehmer" rasch gewachsen. Sie besetzen die konventionellen Dienstleistungen ("Modernes Kleinbürgerliches Arbeitnehmermilieu") und die moderneren Dienstleistungen ("Modernes Arbeitnehmermilieu") mit mittlerem Qualifikationsniveau. Letztere Gruppe hat eine hohe Abiturquote erreicht, die aber mehr für Fachschulbesuch als für Aufstieg in akademische Berufe genutzt wird. Die Volksmilieus sind nicht mehr bildungsfern, sondern zur Hälfte über die Hauptschule hinausgelangt, allerdings auf dem weiteren Weg in die höhere Bildung abgebremst worden. Die andere, "untere" Hälfte freilich ist von sozialen Schieflagen bedroht. Unterprivilegierte Volksmilieus: In den unterprivilegierten Volksmilieus (gut 10 %) hat sich seit Generationen die Erfahrung sozialer Ohnmacht verfestigt. Entsprechend setzen die Angehörigen dieser Gruppierung weniger auf planmäßige Lebensführung als auf die flexible Nutzung von Gelegenheiten und die Anlehnung an Stärkere. Diese Milieus, für die lange ungelernte und unstetige Beschäftigungen typisch waren, hatten in der alten Bundesrepublik wie auch in der DDR erstmals dauerhafte, wenn auch körperlich belastende, Beschäftigungen finden können. Heute werden viele dieser Arbeitsplätze in andere Länder verlagert. Als gering Qualifizierte finden die Angehörigen des Milieus schwer neue Jobs. Viele sind dauerarbeitslos bzw. stärker in prekären Wirtschaftszweigen aktiv.

Sozialmodell und Bereitschaft zum Wandel

Das dargestellte Panorama der Milieus zeigt eine mehrheitliche Bereitschaft zur Eigenleistung und zur Umstellung über hohe Bildungsaktivität, die aber an bestimmte gesellschaftspolitische Bedingungen gebunden ist. Durch die Erfahrungen im historischen Sozialmodell der Bundesrepublik ist eine tiefe Gewöhnung an diesen "Pfad" der Entwicklung entstanden. Gösta Esping-Andersen unterscheidet drei Alternativen solcher nationalen Pfade, die sich in den verschiedenen Staaten aus historischen Konflikten zwischen den sozialen Gruppen herausgebildet haben. Sie beruhen auf der institutionellen Regelung der Chancen sozialer Platzierung (über das Bildungs- und Berufssystem), der materiellen Lage (über Tarifparteien und Sozialsystem) und der geschlechtlichen Arbeitsteilung (etwa Entlastung der Famlienarbeit durch private oder öffentliche Dienstleistungen). Eine "gerechte Sozialordnung" kann je nach Pfad verschieden aussehen, nämlich im - liberalen Modell (der angelsächischen Länder) als staatliche Minimalsicherung für die untersten Schichten und als private Selbstvorsorge nach dem reinen Leistungsprinzip für die mittleren und oberen Schichten; - sozialdemokratischen Modell (Skandinaviens) als staatliche Anhebung auch der unteren Schichten auf die individuellen Lebenschancen der modernen Mittelschichten; - korporativen Modell (des kontinentalen Westeuropa) als Mischung aus dem modernen Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und dem ständischen Prinzip der Statussicherung, der Sicherung eines Rangplatzes in einer Hierarchie gestufter Rechte und Pflichten.

Diese nationalen Pfade - und ihre Mischformen - sind heute durch innere und globale Entwicklungen herausgefordert, sie müssen von Seiten der Politik umgebaut werden.

Das korporative Modell beruht auf einem komplexen Aushandlungssystem zwischen Staat und Interessenorganisationen. Es enthält die Gefahr, bürokratisch und ständisch zu erstarren und zu einem Kartell von Besitzstandswahrern zu degenerieren, wenn es sich nicht neuen sozialen Herausforderungen und Gruppen öffnet. Durch seine Risikoabsicherungen bietet es aber die Chance, die Bereitschaft zum sozialen Wandel zu verstärken. Seit den Wachstumsjahren der Bundesrepublik sind die Milieus horizontalen Strukturwandel gewohnt. Durch zunehmende Produktivität und Ausbildungsniveaus wurden vor allem in Landwirtschaft und Industrie immer weniger Arbeitskräfte benötigt. Die Milieus stellten sich aktiv auf anspruchsvollere Arbeitsplätze bzw. neue Beschäftigungsmöglichkeiten, besonders in den Dienstleistungen, um. Die Risiken der Umstellungen wurden durch staatliche Ordnungspolitik abgefedert, um Teilhabe am Wirtschaftswachstum zu sichern oder Statusverluste zu vermeiden.

Seit etwa drei Jahrzehnten haben sich jedoch die Risiken und die Regulierungskonzepte geändert. Durch die zunehmende internationale Konkurrenz wurden zunächst eher gering qualifizierte, inzwischen aber auch immer mehr höher qualifizierte Arbeitsplätze in die aufstrebenden Schwellenländer verlagert. Damit stehen auch die besser qualifizierten und "leistungsstarken" mittleren Milieus vor neuen Herausforderungen. Auch sie müssen fürchten, dass die Risiken ihrer Umstellungen nicht mehr hinreichend flankiert werden und dass die restriktive staatliche Haushaltspolitik die Zunahme ungleicher Chancen noch verstärkt.

Dies beginnt mit den von den PISA-Studien festgestellten überdurchschnittlichen Bildungsbarrieren. Die Bildungspolitik hat bisher nicht nur versäumt, die "Bildungsarmut", welche die unteren zwanzig Prozent der Bevölkerung von qualifizierten Arbeitsplätzen ausschließt, zu beheben. Sie hat auch für eine Kanalisierung der Bildungsexpansion gesorgt, die die großen mittleren Arbeitnehmermilieus hauptsächlich in die mittlere Allgemein- und Berufsbildung lenkt. Der Zugang zu den akademischen Berufen, die immer noch privilegierte Standards der Einkommen, des Ansehens und der sozialen Sicherung sowie eine stark unterdurchschnittliche Arbeitslosigkeit genießen, ist erschwert. Dies hat auch dazu geführt, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu wenige Akademiker und Hochqualifizierte hat.

Unterdurchschnittlich ist auch die Förderung der Sozial-, Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen, die in anderen Ländern erheblich zur Verminderung - nicht zuletzt der weiblichen - Arbeitslosigkeit und Prekärbeschäftigung beitragen. Schließlich trägt die restriktive Haushalts- und Arbeitsmarktpolitik dazu bei, dass die inländische Konsum- und Staatsnachfrage zu niedrig ist, um zu Wachstum und Abbau der Arbeitslosigkeit beizutragen. Die Staatsausgaben werden infolge dessen übermäßig in die unproduktivste Aufgabe gelenkt: die Versorgung der Arbeitslosen. Soziale Schieflagen bedrohen inzwischen ein ganzes Spektrum von sozialen Gruppen.

Durch diese Erfahrungen hat sich in den meisten Milieus der Eindruck eines sozialpolitischen Paradigmenwechsels verfestigt, in dessen Ergebnis die Grundprinzipien der Leistungsgerechtigkeit und Statussicherung aufgegeben werden. Vier Fünftel der Bevölkerung stehen einem Wechsel insbesondere zum neoliberalen Pfad sehr ablehnend gegenüber. Empörung entsteht, wenn beispielsweise Entlassungen von solchen Firmen vorgenommen werden, die höchste Gewinne einfahren. Absenkungen sozialer Sicherungen auf Minimalstandards, etwa das Sozialhilfeniveau des Arbeitslosengeldes II ("Hartz IV"), werden als Verletzungen des zentralen Grundsatzes angesehen, dass die durch eigene Leistung ermöglichte Lebensweise auch in der Not fortgesetzt werden kann.

Der moralische Schmerzpunkt (und damit der sozialpolitische Interventionspunkt) ist für die meisten Milieus nicht erst dann erreicht, wenn ein absolutes materielles Minimum unterschritten wird, wie im englischen Sozialmodell. Er ist bereits erreicht, wenn die gewohnte respektable Lebensweise und die Vorstellungen einer gerechten sozialen Ordnung in Frage gestellt werden.

Gesellschaftspolitische Lager

Welches sind nun die Ordnungsmodelle, an denen sich die Bevölkerung orientiert? Schon die klassische Wahlforschung von Paul Lazarsfeld u.a. geht von sozialen "Cleavages" oder Trennlinien aus, die sich über die Generationen vererben. Ihre Nachfolger haben aber festgestellt, dass diese Trennlinien kein unmittelbares Abbild der ökonomischen Trennlinien zwischen oben und unten sind. In den parteipolitischen Lagern überschneiden sich vielmehr wirtschaftliche, konfessionelle, regionale und sozialmoralische Trennlinien. Dass die politischen Lager nicht direkt aus den ökonomischen Klassenteilungen abgeleitet werden können, ist nicht etwa die Folge einer "Entkoppelung" von sozialer Lage und politischem Bewusstsein, wie die "Erosionsthese" annimmt. Es ist der historische Normalfall. Dieser beruht auf den Eigenheiten des politischen Feldes, das sich meist in Koalitionen gliedert, die Milieugrenzen überschneiden. Die Führungsgruppen sind eher in anderen, höheren Milieus, die mit den Regeln des Kampfes, des Repräsentierens und des Diskurses besser vertraut sind, angesiedelt als die Klientelgruppen.

In detaillierten Befragungen konnte festgestellt werden, dass diese "Cleavages" durchaus bis heute fortbestehen, auch wenn viele intermediäre, kohäsionsstiftende Institutionen nicht mehr direkt an die Lager gebunden sind. Trotz gewisser Verschiebungen entsprechen sie noch den klassischen konservativen, liberalen, sozialdemokratischen, rechtspopulistischen und heute auch postmaterialistischen Vorstellungen der Sozialordnung. Unterschieden werden können sechs grundlegende "Lager" mit je eigenen "Ordnungsmodellen". Unsere - wieder stark vereinfachende - Abbildung 2 zeigt, dass sie sich schwerpunktmäßig im Raum der Milieus verorten lassen. Allerdings überschneiden sich, wie erwartet, Milieugrenzen. Abbildung 2: Die gesellschaftpolitischen Lager im Raum der Milieus Im rechten Teil des sozialen Raums liegt eine noch relativ intakte Formation von zwei konservativen Lagern, die Hochburgen der CDU/CSU und des rechten Flügels der SPD sind. Nach dem konservativen Modell sozialer Gerechtigkeit können alle sozialen Gruppen Solidarität beanspruchen, aber nicht in gleichem Maße, sondern hierarchisch abgestuft nach Besitz, Bildung, Geschlecht und Ethnie. Das Modell folgt dem Patron-Klient-Muster: Loyalität muss durch paternalistische Fürsorge vergolten werden. Das Lager der Gemäßigt Konservativen, mit Schwerpunkt bei den kleinbürgerlichen Arbeitnehmern, legt das Modell eher arbeitnehmerisch aus. Verletzt etwa der Patron seine Fürorgepflicht, so sind unter anderem auch gewerkschaftliche Kampfmittel berechtigt. Auch hat sich ein Drittel dieses Lagers moderneren und toleranteren Lebensstilen zugewandt. Dies übt Druck aus auf das Lager der Traditionell-Konservativen, das in der Rolle des ,Patrons` ist. Im linken Teil des sozialen Raums finden sich zwei arbeitnehmerische Lager, die Hochburgen der SPD und des sozialen Flügels der CDU/CSU sind. Das Lager der Sozialintegrativen tritt für gleiche Rechte aller sozialer Gruppen ein, das heißt sowohl für die "materielle" Verteilungsgerechtigkeit für Arbeitnehmer und Unterprivilegierte als auch für die "postmateriellen" Rechte der Zivilgesellschaft, der Frauen, Ausländer, der Natur usw. Das Lager stützt sich auf die moderne Reformintelligenz, die nicht nur oben, sondern auch in den mittleren Milieus der Sozialberufe, der Gewerkschaften und der Kirchen verankert ist. Damit ist es räumlich und moralisch einem anderen Lager nahe, den Skeptisch Distanzierten, die vor allem aus den Volksmilieus der Facharbeit kommen und ein Modell der Solidarität auf Gegenseitigkeit vertreten. Wer zu Produktivität und Sozialstaat beiträgt (und wer unverschuldet in Not ist), soll auch daran teilhaben. - Beide Lager sind in ihren Vorstellungen von Solidarität von der Politik der Volksparteien stark enttäuscht. Ein drittes Paar von komplementären Lagern entspricht dem ideologischen Gegensatz von "Elite" und "Masse" oder "ideell" und "materiell". Das Lager der Radikaldemokraten, links oben im sozialen Raum, vertritt die postmateriellen Ideale, während es für materielle Ungleichheiten eher unsensibel ist. Wirtschaftsliberale Akzente sind hier stärker als sozialliberale. Das Lager ist daher Hochburg der "Grünen" und eines gewissen progressiven Neoliberalismus. Dass es kaum Anhänger unterhalb der oberen Milieus hat, liegt offensichtlich an einer elitistischen Ideologie, die die eigene höhere Position mit einer puritanischen Arbeitsethik rechtfertigt, die den Volksmilieus abgesprochen wird. Ihm entgegengesetzt ist das Lager der Enttäuscht Autoritären, mit beklemmenden 27 %. Es vereint Verlierer der ökonomischen Modernisierung, insbesondere ältere, aber teilweise auch jüngere Milieus mit wenig Bildungskapital und unsicheren Zukunftsperspektiven. Sie verarbeiten ihre Ausgrenzung - anders als die demokratische Mitte - nach autoritärem Muster, mit Ressentiments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten vernachlässigen. Aus Realismus wählen sie meist CDU/CSU und SPD. Regionalwahlen zeigen aber, dass - wie in anderen Ländern Europas - rechtspopulistische Parteien bis zu 20 % Proteststimmen gewinnen können.

Wandel der Parteienkonstellationen

Die Wahlniederlage der Volksparteien vom September 2005 war nur für diejenigen ein Schock, die auf die Meinungsumfragen gesetzt hatten. Diese hatten der CDU/CSU noch im Juli mehr als 40 %, der SPD um 30 % vorausgesagt. Das Wahlergebnis sah dann aus wie ein kurzfristiger "swing" von der Union (35,2 %) zur SPD (34,2 %). Dies schien die These von den "sprunghaften Wechselwählern" zu bestätigen, erwies sich aber bei näherer Analyse der Wählerwanderungen als optische Täuschung. Die Umfrageinstititute hatten offenbar die 28 % Unentschlossenen falsch interpretiert. Sie hielten sie nicht für enttäuschte Stammwähler, sondern für ungebundene Wechselwähler. Die Unentschiedenen haben dann jedoch nicht die CDU symmetrisch gestärkt, sondern überwiegend das ,linke` Lager, in dem die politische Enttäuschung noch größer war.

Das Wahlergebnis bestätigt die Annahme langfristiger Bindungen an gesellschaftspolitische Ordnungsmodelle. Der nachhaltige Vertrauensverlust der Volksparteien ist bereits seit den achtziger Jahren an den Wahlergebnissen und an den Umfragedaten zur "politischen Verdrossenheit" abzulesen. Schon in den neunziger Jahren lag die CDU einmal bei 35,1 % (1998) und die SPD einmal bei 33,5 % (1990) und ein anderes Mal bei 36,4 % (1994). Die Daten belegen keine Erosion, sondern eine langfristige Verschiebung der Parteipräferenzen, und zwar sowohl zwischen den großen Parteilagern wie innerhalb dieser. Das ,bürgerliche` Lager ist nachhaltig um etwa 10 % auf 45 % geschrumpft, das "rot-grüne" um etwa 6 %, auf etwa 51 % gewachsen, aber nicht zugunsten der SPD, sondern der "Grünen" (auf 8,1 %) und der PDS/Linkspartei (auf 8,7 %). Die Zahl der Nichtwähler stieg von 10,9 % auf 22,3 % (1980 - 2005) bei den Bundestagswahlen und von etwa 18 % auf mehr als 40 % (2006) bei den Landtagswahlen. Zudem verbirgt sich in den 6 % der Splitterparteien ein rechtspopulistisches Potenzial.

Die Abwahl der rot-grünen Koalition war somit die Quittung für eine Politik der sozialen Asymmetrie, die vor allem Stammwähler in den Lagern der Arbeitnehmermitte verprellte. Dies hatten schon die hohen, bis zu zweistelligen Niederlagen bei vielen Landtagswahlen gezeigt. Die hohen Verluste der CDU/CSU können ebenfalls durch einen wirtschaftsliberalen Pfadwechsel, den Angela Merkel propagiert hatte, erklärt werden.

Die Bundestagswahl hat eine Parteienkonstellation geschaffen, die eine andere Dynamik der gesellschaftspolitischen Kräfte ermöglicht. Die alte Konstellation entsprach noch einem erweiterten Zweiparteiensystem, dominiert von der Konfrontation der beiden Großen, die - über die Stärkung der jeweiligen Opposition auf Länderebene - eine Blockierung gesellschaftspolitischer Alternativen nach sich zog. Die Konfrontation verstärkte den Disziplinierungsdruck nicht nur auf die kleinen Partner, sondern auch auf die inneren Flügel der Volksparteien. Die kleinen Partner und die Flügel sind aber die Repräsentanten der feiner fraktionierten gesellschaftlichen Strömungen, die sich im korporativen Politikfeld, in intermediären Bewegungen, Institutionen, Verbänden und Teilöffentlichkeiten, organisieren. Sie sind dem Druck sozialer Strukturveränderungen stärker ausgesetzt und reagieren auf diese zwar auch meist verspätet, aber doch reger als die zentrale Politik.

Neue historische Kompromisse, die Modernisierung und soziale Balance verbinden, sind trotz der Verschiedenheit der Lager möglich. Sie enthalten durchaus einen potenziellen gemeinsamen Nenner. Dessen Kern bilden mit 49 % die Solidaritätsmodelle der drei Lager der arbeitnehmerischen Mitte: der "Sozialintegrativen", der "Skeptisch-Distanzierten" und der "gemäßigt Konservativen". Solidarität und Eigenleistung gehören für diese Lager zusammen und können nicht - wie in neoliberalen oder protektionistischen Sozialmodellen - gegeneinander ausgespielt werden. Allerdings teilen sich die Solidaritätsmodelle horizontal in eine ständische Untergruppe, die u.a. von den konservativen Gewerkschaftern in der CDU (Arbeitnehmerflügel) und in der SPD ("Seeheimer Kreis") vertreten wird, und eine modernere Untergruppe, die u.a. von der SPD-Linken ("Demokratische Linke 21") repräsentiert wird.

Die Große Koalition bietet die Chance, dass diese beiden Lager an einem Strang ziehen. Diese bietet sie freilich auch ihren Gegnern in den konservativen, liberalen und technokratischen Parteiflügeln. Die Chance eines neuen historischen Kompromisses bestünde zudem in potenziellen vertikalen Aushandlungsprozessen, dass das Traditionell-konservative Lager nun mit am Koalitionstisch sitzt. Der in einer Großen Koalition denkbare neue historische Kompromiss könnte auch auf die übrigen Lager ausstrahlen.

Haupthindernis ist die - im internationalen Vergleich - übertrieben restriktive Haushalts- und Einkommenspolitik, welche die Inlandsnachfrage übermäßig dämpft. Ein dringend erforderlicher modernisierter Keynesianismus wird sich - wie vor achtzig Jahren in der letzten Weltwirtschaftskrise - nicht allein deshalb durchsetzen, weil Experten entsprechende Blaupausen vorlegen. Er kann sich nur, wie damals, neu entwickeln, wenn der alltagspraktische Druck von unten, die Dämpfung der Nachfrage zu beenden, zunimmt. Jeder Euro, der zusätzlich für Lernende, Kranke, Alte, Infrastrukturen und alle anderen vorgeblich kostentreibenden Zwecke ausgegeben wird, kehrt in Wirklichkeit als Nachfrage auf den Markt zurück. Im Dienstleistungssektor liegen, wie das Beispiel anderer Länder zeigt, die größten Potenziale für eine Erholung der Beschäftigung.

Es kann sich dabei als Illusion erweisen, nur auf den Konkurrenzdruck der Linkspartei, die der SPD sicherlich mehr Wählerinnen und Wähler abspenstig machen kann als bisher, oder gar auf eine spätere Linkskoalition zu setzen. Ein Machtkartell der Volksparteien mit seiner überwältigenden Mehrheit dürfte es sich durchaus leisten können, nach rechts und links immer wieder Stimmen zu verlieren und doch weiterzuregieren. Es ist nicht auszuschließen, dass eine konservativ-technokratische Koalition für einige Zeit eine revidierte "soziale Marktwirtschaft" institutionell sichern kann. Das Machtzentrum der Koalition liegt bei den Repräsentanten der konservativen Arbeitnehmermilieus in allen Volksparteien. Deren Konzept ist nicht soziale Chancengleichheit, aber doch die Gewährleistung einer gewissen sozialen Sicherheit für die Mehrheit der Milieus in Gestalt einer hierarchisch gestuften Ordnung, unterschichtet von einer unterprivilegierten Klasse, wenn diese die kritische Größe des "submerged fifth" nicht überschreitet. Die Erwartung, die konservative Abmilderung krasser sozialer Polarisierungen würde den sozialen Frieden auf Dauer sichern, wird sich nicht erfüllen. Denn die modernen Milieus brauchen mehr als eine Rückkehr in die sichere, aber bevormundende Hierarchie der fünfziger Jahre.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Manfred Güllner/Hermann Dülmer/Markus Klein u.a., Die Bundestagswahl 2002, Wiesbaden 2005, S. 9.

  2. Vgl. Walter Müller, Klassenstruktur und Parteiensystem. Zum Wandel der Klassenspaltung im Wahlverhalten, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1998) 1, S. 3 - 46.

  3. Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M.1988 [1893/1902], S.44-56; 245-260.

  4. Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt/M. 1982 [1979]; Michael Vester/Peter von Oertzen/Heiko Geiling u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt/M. 20012 [1993].

  5. Vgl. M. Vester u.a. (Anm. 4); Wolfgang Vögele/Helmut Bremer/Michael Vester (Hrsg.), Soziale Milieus und Kirche, Würzburg 2002, S. 267 - 409.

  6. Vgl. M. Vester u.a. (Anm. 4), S. 48 - 54.

  7. Vgl. W. Vögele u.a. (Anm. 5).

  8. Vgl. Gösta Esping-Andersen, Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus, in: Stephan Lessenich/Ilona Ostner (Hrsg.), Welten des Wohlfahrtskapitalismus, Frankfurt/M.-New York, S. 19 - 56.

  9. Vgl. Reinhard Kreckel, Politische Soziologie sozialer Ungleichheit, Frankfurt/M.-New York 20042.

  10. Vgl. Franz Schultheis/Kristina Schulz, Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz 2005.

  11. Vgl. Michael Vester, Der Kampf um soziale Gerechtigkeit, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hrsg.), Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006 (i.E.).

  12. Vgl. Seymour Martin Lipset/Stein Rokkan (Eds.), Party Systems and Voter Alignments, New York 1967; Rainer Lepsius (1993 [1966]), Parteiensystem und Sozialstruktur, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen, S. 25 - 50.

  13. Die Ordnungsmodelle sind, für Westdeutschland, 1991 zum ersten Mal auf der Grundlage einer großen repräsentativen Stichprobe empirisch gewonnen worden (differenziert dargestellt in: M. Vester u.a. (Anm. 4), S. 58 - 64, 249 f., 427 - 491). Nachfolgende Befragungen haben, auch für Ostdeutschland, bestätigt, dass es sich um lang anhaltende Grundüberzeugungen handelt; vgl. u.a. Michael Vester, Milieus und soziale Gerechtigkeit, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland-Trend-Buch, Opladen 2001 S. 160 - 171.

  14. Vgl. Oskar Niedermayer, Die Parteien nach der Bundestagswahl 2002, Opladen 2003.

  15. Michael Harrington, Das andere Amerika. Die Armut in den Vereinigten Staaten, München 1964.

Dr. phil., geb. 1939; Prof. i. R., Universität Hannover, Lehrgebiet Politische Soziologie und Politische Sozialstrukturanalyse.
E-Mail: E-Mail Link: m.vester@agis.uni-hannover.de