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Ordnungspolitische Perspektiven für die Krankenversicherung | Reformen des Sozialstaates | bpb.de

Reformen des Sozialstaates Editorial Aktivierender Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Steuerung Ordnungspolitische Perspektiven für die Krankenversicherung Die sozialen Kosten der Ökonomisierung von Gesundheit Die demographische Herausforderung der Alterssicherung Gerechtigkeit durch Sozialpolitik?

Ordnungspolitische Perspektiven für die Krankenversicherung

Bernd-Peter Lange

/ 3 Minuten zu lesen

Einleitung

Zu den Hauptaufgaben der Großen Koalition gehört neben der Sanierung der öffentlichen Haushalte die Reform der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Die Versorgung mit Gesundheitsdienstleistungen ist in Deutschland zwar im Vergleich zu manchen anderen Ländern hervorragend, aber die GKV ist - besonders in der Koppelung ihrer Beiträge an die Löhne und Gehälter - sehr teuer.

Daher ist eine grundsätzliche Neuorientierung der Organisation und Finanzierung der GKV als Fortentwicklung des bisherigen Systems erforderlich. Sowohl das Konzept der SPD einer "Bürgerversicherung", nach dem alle Bürgerinnen und Bürger zwangsversichert werden sollen, als auch die Vorstellungen von CDU/CSU von einer modifizierten "Kopfpauschale" für die GKV-Versicherten sowie eventuelle Kombinationen aus beiden Modellen bedürfen der Evaluierung. Hierbei können die ordnungspolitischen Leitlinien des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft und die grundgesetzlich garantierte Selbstbestimmung und -verantwortung des Einzelnen auch für die Gesundheitsvorsorge eine nachhaltige, zukunftsfähige Perspektive eröffnen.

Grundlagen des derzeitigen gegliederten Gesundheitssystems

Für den Bereich der gesetzlich Pflichtversicherten sind die öffentlich-rechtlichen GKV-Kassen (GKK) zuständig, für den der privat Versicherten die Privaten Krankenversicherungsunternehmen (PKV).

GKV - Grundlagen

  • Die GKV ist eine Pflichtversicherung: Wer als abhängig Beschäftigter mit seinem Einkommen unterhalb der Versicherungspflichtgrenze von gegenwärtig 3 937,50 Euro monatlich liegt, muss sich in einer der GKK versichern. Diese Pflicht war ursprünglich gemäß dem Subsidiaritätsprinzip für sozial Schutzbedürftige als Maßnahme staatlicher Fürsorge eingeführt worden; 60 Prozent der Bevölkerung sind inzwischen davon betroffen. Die Versicherten können zwischen verschiedenen Krankenkassen und damit unterschiedlichen Beiträgen - zwischen 12 und 14 Prozent des Bruttolohnes - wählen; die Leistungskataloge sind aber im Wesentlichen identisch.

  • Die Finanzierung der GKV ist lohnbezogen: Die Beiträge - als prozentualer Abzug vom Bruttolohn - wurden bis zum 30. Juni 2005 von Arbeitgeber und Arbeitnehmer je zur Hälfte aufgebracht. Seit dem 1. Juli 2005 müssen die Arbeitnehmer die Leistungen für Zahnersatz und für das Krankentagegeld mit 0,4 bzw. 0,5 Beitragssatzpunkten allein finanzieren. Für die Arbeitgeber stellen sich die Sozialversicherungsbeiträge als Lohnzusatzkosten dar.

  • Diejenigen, die - bis zur Beitragsbemessungsgrenze von gegenwärtig 3 525 Euro - mehr verdienen als andere, zahlen einen höheren Beitrag, ohne dafür entsprechend mehr Leistungen zu erhalten.

  • Die globale Finanzierung der GKV erfolgt nach dem Umlageprinzip, das heißt die jeweils hereinkommenden Beiträge werden zur Bezahlung der laufenden Gesundheitskosten verwandt. Es gibt keine Rückstellungen der GKK für höhere Gesundheitskosten im Alter. Nach dem hier zugrunde liegenden Generationenvertrag müssen alle Beitragszahler für die zwischen den Generationen unterschiedlichen Gesundheitskosten aufkommen: 2004 entfielen auf die über 80-Jährigen pro Kopf 12 430 Euro Gesundheitskosten, während die Durchschnittsausgaben pro Kopf der Bevölkerung lediglich 2 710 Euro betrugen. Diese Art der Finanzierung basiert aufdem "überkommenen" Normalarbeitsverhältnis nach dem Vorbild früherer Industriearbeit, auf Vollbeschäftigung und auf einer kontinuierlichen Reproduktion der Bevölkerung.

  • In der GKV sind nicht berufstätige Ehefrauen und Kinder beitragsfrei mitversichert. Das bislang prägende Familienbild geht dabei von der Ehefrau als Hausfrau und damit vom Modell des Ein-Verdiener-Haushaltes aus.

  • Die Abrechnung von Gesundheitsdienstleistungen erfolgt von den behandelnden Ärzten bzw. Krankenhäusern über die Kassenärztlichen Vereinigungen mit den GKK. Der Versicherte erfährt die Kosten seiner Behandlung nicht. Sein Beitrag wird vom Arbeitgeber einbehalten. Jeder Arztbesuch - sieht man von der jüngst eingeführten Praxisgebühr ab - stellt sich für die Versicherten quasi als "kostenlos" dar; es besteht kein Anreiz, Gesundheitsdienstleistungen selbstverantwortlich und kostenbewusst in Anspruch zu nehmen.

  • Es gibt zwischen den GKK einen Risikostrukturausgleich. Das bedeutet, dass jene Kassen, die relativ niedrige Einnahmen haben, von den anderen mitgetragen werden. Folglich kann von einem wirklichen Leistungswettbewerb zwischen den Kassen nicht gesprochen werden. Bei den Kassen sind daher erhebliche Einsparpotenziale vorhanden.<

Bisherige Reformbemühungen

Aufgrund des medizinischen Fortschrittes und der steigenden Lebenserwartung bei gleichzeitiger Zunahme des Anteils der älteren Menschen an der Bevölkerung sind die Gesundheitskosten in den letzten Jahren explodiert. Hier liegt der Grund dafür, dass die Politik - allerdings mit relativ geringem Erfolg - Anstrengungen zur Kostendämpfung unternommen hat. Außerdem wurden die Praxisgebühr und die Zuzahlungspflicht für Arzneimittel eingeführt, um im Sinne einer individuellen Selbstbeteiligung für ein höheres Kostenbewusstsein bei den Versicherten zu sorgen. Diese Maßnahmen waren jedoch nicht geeignet, die vorhandenen Probleme auch nur annähernd zu lösen. Es mangelt auch an notwendigen Strukturreformen bei den GKK und ihrer so genannten "Selbstverwaltung" in Richtung auf Leistungswettbewerb und Kostenkontrolle.

PKV - Grundlagen

Zehn Prozent aller Bürgerinnen und Bürger - jene, deren Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt und die nicht freiwillig in der GKV versichert sind, Beamte und Selbständige - sind in der PKV versichert. Die Beiträge sind - unabhängig vom jeweiligen Einkommen - risikoadäquat kalkuliert. Es findet das Kapitaldeckungsprinzip Anwendung, das heißt, es werden Rücklagen für das Alter gebildet, damit die Tarife nicht aufgrund der altersbedingt steigenden Gesundheitskosten angepasst werden müssen. Um die allgemeinen Preissteigerungen im Gesundheitswesen abzufedern, wird seit dem 1. Januar 2000 zusätzlich ein gesetzlicher Zuschlag auf den Beitrag von zehn Prozent erhoben. Außerdem sind die Tarife nach Leistungsumfang wählbar.

Dadurch, dass die Ärzte und Krankenhäuser bei den in PKV Versicherten höhere Entgelte für ihre Leistungen abrechnen können, trägt die PKV mit ca. 8,5 Milliarden Euro jährlich zur Finanzierung des deutschen Gesundheitswesens bei. Viele Arztpraxen und Krankenhäuser wären ohne diese Möglichkeiten kaum überlebensfähig.

Innerhalb der PKV herrscht Leistungswettbewerb: Jeder potenziell Versicherte kann Beiträge und Leistungen, Höhe der Verwaltungskosten und erzielte Verzinsung des Kapitals, Bedingungen für Beitragsrückgewähr bei Nichtinanspruchnahme der Versicherungsleistungen usw. miteinander vergleichen. Außerdem sind die privaten Unternehmen unterschiedlich organisiert: Es gibt einerseits Aktiengesellschaften und andererseits Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die in ihrem Geschäftsgebaren ausschließlich die Interessen der Versicherten vertreten.

Herausforderungen an die GKV

Die bisherigen Grundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung erweisen sich mehr und mehr als brüchig.

Erstens: Das "Normalarbeitsverhältnis" - die kontinuierliche Beschäftigung oft über Jahrzehnte bei ein- und demselben Arbeitgeber - ist immer weniger die Regel: Zeiten der Beschäftigung - in Voll- oder auch in Teilzeit - wechseln einander ab mit Zeiten der Arbeitslosigkeit, der Umschulung, der Pausen für Elternzeit. Der faktische Eintritt in die Rente liegt oft weit vor dem 65. Lebensjahr. Gleichzeitig steigt die Quote der Frauenerwerbstätigkeit, wobei häufig eine Halbtagsbeschäftigung die Regel ist.

Zweitens: Wir haben es in der Bundesrepublik bereits über viele Jahre mit struktureller Arbeitslosigkeit zu tun: Nach offiziellen Angaben liegt diese im Jahresdurchschnitt bei ca. fünf Millionen Arbeitslosen. Hinzu kommt die verdeckte Arbeitslosigkeit - etwa derjenigen, die sich in Umschulung befinden oder derjenigen, die resigniert haben und sich nicht mehr arbeitslos melden: Nach den Zahlen des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) sind dies 1,6 Millionen Personen Die hohe, andauernde Arbeitslosigkeit ist einer der Gründe dafür, dass die GKK mit ihren Einnahmen nicht mehr auskommen.

Drittens: Durch die demographische Entwicklung in Deutschland hat sich die frühere Bevölkerungspyramide dramatisch verändert und verändert sich immer noch: Aufgrund der abnehmenden Reproduktionsrate auf heute 1,3 Kinder - zur Stabilisierung der Bevölkerung auf ihrem jetzigen Niveau wären im Durchschnitt 2,1 Kinder pro Frau erforderlich - verschieben sich die zahlenmäßig stärksten Altersgruppen immer mehr in Richtung der älteren Generationen. Es wird prognostiziert, dass 2050 die Hälfte der Bevölkerung älter als 48 Jahre und die Zahl der geborenen Kinder halb so hoch sein wird wie die der 60-Jährigen. Heute kommen 226 Erwerbspersonen auf 100 Rentner, 2030 werden es 78 und 2050 nur noch 71 sein. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung kontinuierlich, und die Gesamtbevölkerung beginnt zu schrumpfen. Der Generationenvertrag kann unter diesen Bedingungen nicht mehr eingehalten werden.

Viertens: Die Staatsverschuldung von Bund, Ländern und Gemeinden hat die astronomische Höhe von über 1,4 Billionen Euro erreicht, 2004 mussten dafür insgesamt mehr als 68 Milliarden Euro Zinsen gezahlt werden. Der europäische Stabilitätspakt, einst von Deutschland gefordert und gefördert, wird 2006 zum wiederholten Mal von Bund und Ländern verletzt. Eisernes Sparen der öffentlichen Hand ist erforderlich; es gibt keinerlei Spielräume für staatliche Zuschüsse zum Gesundheitswesen.

Fünftens: Auch für das Jahr 2006 ist kein wesentliches Wirtschaftswachstum zu erwarten. Es kann nicht damit gerechnet werden, dass neue Arbeitsplätze in nennenswertem Umfang geschaffen werden; vielmehr wird es zu einem weiteren Abbau von Arbeitsplätzen kommen. Im internationalen Vergleich ist es nicht die Steuerbelastung, welche die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen schwächt, sondern es sind die zu hohen Lohnzusatzkosten - 42 Prozent Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil vom Bruttolohn -, also die Sozialabgaben insbesondere für Renten und Gesundheit.

Sechstens: Bei einer Reform der GKK muss es auch um Bürokratieabbau und um mehr Leistungswettbewerb gehen. Eine "Reform vor der Reform" ist gefragt: So wie die Föderalismusreform die Voraussetzungen schaffen muss für eine bessere Funktionsfähigkeit unseres politischen Systems, muss die Reform der GKK und des gesamten Abrechnungssystems die Voraussetzungen für eine bessere Funktionsfähigkeit des gegliederten Gesundheitssystems schaffen.

Die Schwierigkeiten einer Reform ergeben sich daraus, dass alle skizzierten Probleme miteinander zusammenhängen: Mangelndes Wirtschaftswachstum und hohe Arbeitslosigkeit schwächen die Einnahmen der GKK. Die notwendige Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Schaffung eines Niedriglohnsektors - etwa gefördert durch eine negative Einkommenssteuer - als Antwort auf die gesamtwirtschaftliche Wachstumsschwäche setzen die GKV-Einnahmen weiter unter Druck. Die demographische Entwicklung mag zwar mittelfristig zu einer Entlastung bei der Arbeitslosigkeit führen; durch die drohende "Überalterung" werden aber die Gesundheitskosten steigen, ohne dass die Rentner entsprechende Beiträge aufbringen (können).

Orientierungen am Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und am Grundgesetz

Angesichts der geschilderten Herausforderungen ist zunächst eine Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip in seinen beiden Ausprägungen vonnöten: Danach sind erstens staatliche Eingriffe und Betätigungen nur dann gerechtfertigt, wenn die notwendige Leistungserbringung im privatwirtschaftlichen Wettbewerb nicht optimal bzw. nicht für alle funktioniert. Zweitens ist der Einzelne zu selbstverantwortlicher Eigenständigkeit aufgerufen. Nur wenn dieser unverschuldet nicht selbst für sich sorgen kann, ist die nächstgrößere Einheit - zuerst die Familie, dann die Gemeinde, das Land, der Bund - in die Verantwortung zu ziehen. Das Subsidiaritätsprinzip ermöglicht die Entfaltung der persönlichen Kräfte und fordert Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Menschen in den ihn umgebenden Sozialgebilden.

Aus dem Subsidiaritätsprinzip folgt, dass eine Versicherungspflicht für mehr als 60 Prozent der Bevölkerung nicht zu rechtfertigen ist. Staatliche Fürsorge hat sich ungerechtfertigterweise weit von ihren Ursprüngen der temporären Nothilfe entfernt. Eine Zwangsversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger ist erst recht nicht legitimierbar. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft, das unter anderem aus Art. 2 GG: freie Entfaltung der Persönlichkeit, Art. 14 GG: Eigentumsgarantie und Art. 20 GG: demokratischer und sozialer Bundesstaat ableitbar ist und das sich nach dem Zweiten Weltkrieg großartig als Vorbedingung für Aufschwung, Wachstum und weit verbreiteten Wohlstand bewährt hat, räumt privatwirtschaftlichem Unternehmertum Vorrang ein vor staatlicher Betätigung. Privatwirtschaftlicher Leistungswettbewerb als Grundlage jeder wirtschaftlichen Betätigung mit dem Ziel der Förderung von Innovationen, Produktivitätssteigerungen und möglichst günstigen Preisen für die Verbraucher entfaltet sich nach diesem Konzept am besten im Rahmen staatlicher Regulierung, zum Beispiel der Konzentrationskontrolle.

Hieraus folgt ein Vorrang für die PKV gegenüber der GKV. Die Beschränkung des unternehmerischen Betätigungsfeldes der PKV bei Vollversicherungen auf rund zehn Prozent der Bevölkerung ist ordnungspolitisch nicht zu rechtfertigen.

Das Sozialstaatsprinzip lässt sich mit unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen unterlegen: Da ist zum einen die Vorstellung eines konsumtiven Sozialstaates (distributive Gerechtigkeit), für den die Verteilungsgerechtigkeit im Vordergrund steht; hierauf könnte die unterschiedliche Beitragshöhe in der GKV bei gleicher Leistung für alle Versicherten gestützt werden. Zum anderen gibt es die Vorstellung des investiven Sozialstaates (produktivistische oder aktivierende Gerechtigkeit), für den Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit im Vordergrund stehen; hierauf könnte sich eine Rückführung der Versicherungspflicht auf die wirklich sozial Schwachen - etwa 20 Prozent der Bevölkerung - beziehen. Der Schwerpunkt staatlicher Aktivitäten würde sich auf das Fördern und Fordern im Bildungs- und beruflichen Qualifizierungsbereich verlagern; es würde auf dringend erforderliche neue wirtschaftliche Dynamik gesetzt. Das vorrangige Abstellen auf Chancengleichheit und Leistungsgerechtigkeit steht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip, fördert Selbständigkeit und Eigenvorsorge. Außerdem entlastet es den Staat von "überholten" Aufgaben und wuchernder Bürokratie. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Umverteilung die Aufgabe des Steuersystems - etwa durch die Steuerprogression - und nicht der GKV ist: Im Gesundheitssystem sollte wie in vielen anderen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft das Äquivalenzprinzip Geltung haben: gleicher Beitrag für gleiche Leistung, mehr Beitrag für mehr Leistung.

Prüfparameter

Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem, das einerseits die geschilderten Herausforderungen meistert und andererseits den grundsätzlichen ordnungspolitischen Anforderungen gerecht wird, hat den folgenden Prüfparametern zu entsprechen:

  • Individuelle Vorsorge muss Priorität vor staatlicher Fürsorge haben. Jedem Bürger sind nach den Kriterien des Leistungswettbewerbs Auswahlmöglichkeiten entsprechend seinen individuellen Bedürfnissen hinsichtlich Basissicherung und eventuellen Zusatzversicherungen zu gewähren.

  • Privatwirtschaftlichem unternehmerischem Wettbewerb ist im Rahmen staatlicher Wettbewerbsregulierung Vorrang einzuräumen.

  • Mit Blick auf die Generationengerechtigkeit und die absehbare demographische Entwicklung ist - im Sinne der Nachhaltigkeit - die Kapitaldeckung einzuführen: Jede Generation trägt ihre Gesundheitskosten selbst und sorgt durch die Bildung von Rücklagen für ihr Alter vor. Staatliche Fürsorge ist nur bei wirklicher Schutzbedürftigkeit und dann als Grundversorgung gerechtfertigt.

  • Mit dem Ziel, den Faktor Arbeit von den zu hohen Lohnzusatzkosten zu entlasten und so die Schaffung neuer Arbeitsplätze anzuregen, sind die Beiträge von den Löhnen zu entkoppeln.

  • Um den Abbau nicht zu rechtfertigender Staatsverschuldung nicht zu verzögern, sind keinerlei staatliche Zuschüsse für das Gesundheitssystem vorzusehen. Außerdem ist die Bürokratie im Bereich der GKK abzubauen.

  • Reformen müssen innerhalb des vorhandenen dualen Gesundheitssystems erfolgen und dieses fortentwickeln. Jede radikale Reform ist angesichts der unkalkulierbaren Folgewirkungen zu risikoreich. Außerdem bedarf es angesichts der gewachsenen Strukturen langer Übergangsfristen, um soziale Härten weitgehend zu vermeiden.

    Reformmodelle und Prüfparameter



    Bürgerversicherung

    Die Bürgerversicherung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen entspricht einer Zwangsversicherung in den GKK für alle, also auch die bisher privat versicherten Bürgerinnen und Bürger. Es sollen neben dem Arbeitseinkommen auch beispielsweise Zins- und Mieteinnahmen zur Beitragsbemessung herangezogen werden. Zwar ist daran gedacht, dass auch die bisherigen privaten Krankenversicherungen einen "Bürgerversicherungstarif" anbieten können, aber von einem Leistungswettbewerb auf einem einheitlichen Krankenversicherungsmarkt wird dann keine Rede sein können: Risikoprüfungen und -berücksichtigungen werden ausgeschlossen und Kontrahierungszwang wird verordnet sein; darüber hinaus soll ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich zwischen den Versicherungen vorgesehen werden.

    Diese Vorschläge widersprechen allen aufgestellten und begründeten Prüfparametern: Das Selbstbestimmungs- und Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger würde in verfassungswidriger Weise beschränkt. Noch mehr Bürokratie und Überwachung, insbesondere durch die Erfassung der einzelnen Einkommensarten, wären die Folge. Die private Krankenversicherungswirtschaft würde in Bezug auf ihr angestammtes Betätigungsfeld, nämlich die Vollversicherung für Krankheitsfälle, in verfassungswidriger Weise enteignet. Die Vorschläge halten am überholten Umlageverfahren fest.

    Schon allein deshalb ist das Modell nicht zukunftsfähig: Was bei 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr richtig funktioniert, wird bei 100 Prozent nicht besser funktionieren. Die Begründung - umfassende Solidarität aller Bürger und notwendige Umverteilung von oben nach unten - kann schon deshalb nicht überzeugen, weil mit der Einbeziehung weiterer Beitragszahler auch neue Leistungsberechtigte hinzukommen. Diese Reformvorschläge - geprägt von überholten Ideologien umfassender staatlicher Fürsorge - halten einem Realitätstest nicht stand. Hinzu kommt, dass wieder nur bei der Einnahmeseite der GKV angesetzt wird und die Reformnotwendigkeiten für das gesamte Gesundheitssystem nach klaren ordnungspolitischen Vorstellungen nicht berücksichtigt werden.

    Hybridmodell

    Die Reformvorschläge von CDU/CSU stellen als Formelkompromiss eine Kombination aus Pauschalprämiensystem ("Kopfpauschale") und einkommensabhängigen Beiträgen dar. Der Arbeitgeberbeitrag zu den GKK soll auf 6,5 Prozent des Bruttolohnes eingefroren werden. Die Pauschalprämien sollen für beide Ehepartner entrichtet, die Beitragszahlungen für Kinder und Zuschüsse für Einkommensschwache dagegen durch staatliche Mittel - Zuschlag auf die Einkommenssteuer - finanziert werden. Vorgesehen ist, dass Arbeitgeber und Rentenversicherungsträger ihre Beiträge an eine Clearingstelle überweisen, die wiederum die individuell gezahlten Prämien aufstocken soll.

    Dieses Modell hat zwar im Gegensatz zur Bürgerversicherung den Vorteil, dass es sich "nur" auf den bisherigen Versichertenkreis der GKV bezieht, also darüber hinaus Wahlmöglichkeiten der privaten Vorsorge offen lässt. Es ist aber vor dem Hintergrund der Prüfparameter zu kritisieren, weil es - gemessen am vorhandenen System der GKV - nicht mehr Wahlmöglichkeiten für die Bürgerinnen und Bürger und nicht mehr Leistungswettbewerb eröffnet, weil es zu mehr statt weniger Bürokratie führen wird (Einführung einer neuen Clearingstelle), weil erhöhte staatliche Zuschüsse notwendig werden, weil es die Transparenz des Gesundheitssystems eher einschränkt und wieder nur an der Finanzierungsseite der GKV ansetzt.

    Das Hybridmodell, basierend auf zwei miteinander unvereinbaren Denkschulen - zum einen der Schule, die mit Kopfpauschalen die Finanzierung der GKV von der Lohnbezogenheit radikal lösen will (eher die Position der CDU), zum anderen der Schule, die vorsichtig die GKV weiterentwickeln will durch Einführung staatlicher Zuschüsse aus sozialen Gründen (eher das Modell der CSU) -, wird folglich den Prüfparametern ebenfalls nicht gerecht.

    In den Koalitionsverhandlungen von SPD und CDU/CSU ist die Frage der Reform des Gesundheitssystems offen gelassen worden, weil die jeweiligen Konzepte zu weit auseinander liegen. Sie soll im Laufe dieses Jahres beantwortet werden, möglicherweise in der Form einer Kompromissfindung aus Bürgerversicherung und Hybridmodell. Dabei könnten die folgenden Überlegungen eine Rolle spielen.

    Das SVR-Modell

    In seinem Jahresgutachten 2004/2005 hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwicklung (SVR) lange vor der Bundestagswahl und vor Bekanntwerden des Wahlergebnisses ein Modell vorgelegt, das "eine Synthese aus 'Bürgerversicherung' und 'Kopfpauschale' darstellen soll". Es umfasst folgende Elemente:

    • Die Wohnbevölkerung der Bundesrepublik soll verpflichtet werden, die so genannte "Bürgerpauschale" zu zahlen. Der gesamte PKV-Markt soll in dem neuen einheitlichen Versicherungsmarkt aufgehen.

    • Der Leistungskatalog beschränkt sich auf die medizinisch notwendigen Leistungen nach dem Vorbild der GKV.

    • Die Beiträge werden als einkommensunabhängige Pauschalbeiträge erhoben. Ihre Höhe differiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Kasse. Eine Beitragsdifferenzierung nach individuellem Krankheitsrisiko, nach Alter oder Geschlecht darf nicht stattfinden. Das System ist nach dem Umlageprinzip organisiert. Es kann durch Elemente der Kapitaldeckung ergänzt werden.

    • Die beitragsfreie Mitversicherung von nicht berufstätigen Ehegatten entfällt. Bei beitragsfreier Mitversicherung von Kindern bis zum Alter von 20 Jahren soll die "Bürgerpauschale" im Durchschnitt 198 Euro betragen.

    • Für die Krankenversicherungen, die diese Basissicherung anbieten, besteht Kontrahierungszwang.

    • Ein morbiditätsorientierter Risikostrukturausgleich zwischen allen diese Basissicherung anbietenden Versicherungen - die alten GKK und die in eine neue Unternehmensform überführten privaten Krankenversicherungen - soll den Wettbewerb zwischen den Versicherungen sichern (wie dies funktionieren soll, bleibt das Geheimnis des SVR).

    • Für Personen mit geringem Einkommen soll ein sozialer Ausgleich stattfinden - der SVR geht davon aus, dass 38 Prozent der Bevölkerung zuschussberechtigt sein werden und dieser staatliche Zuschuss 30 Milliarden jährlich umfassen wird.

    • Die derzeitigen Arbeitgeberbestandteile der Krankenversicherungsbeiträge sollen als Bestandteil der Bruttolöhne ausbezahlt werden.

    Der SVR versäumt es, die einzelnen Elemente des Modells zu begründen. So wird zum Beispiel nicht gesagt, warum er es in verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigender Weise für geboten hält, die PKV von ihrem angestammten unternehmerischen Betätigungsfeld abzuschneiden, warum eine Beitragsdifferenzierung nach individuellem Gesundheitsrisiko, Alter und Geschlecht nicht vorgenommen werden darf und was mit einer "neuen Unternehmensform" gemeint ist.

    Positiv ist anzumerken, dass es dem SVR um eine Abkoppelung der Gesundheitsbeiträge von den Arbeitskosten geht und dass er prinzipiell für mehr Wettbewerb zwischen den Versicherern eintritt. Kritisch bleibt festzuhalten, dass der SVR - offenbar auf Grund politischer Opportunität - eine Synthese von zwei völlig unvereinbaren Vorstellungswelten anstrebt.

    Die Vorschläge des SVR sind - wie jene von SPD und Bündnis 90/Die Grünen und von CDU/CSU - mit den Prüfparametern unvereinbar: Staatliche Zuschüsse zum Gesundheitswesen in der Höhe, wie sie der SVR kalkuliert hat, lassen sich angesichts der vorhandenen Staatsverschuldung in keiner Weise rechtfertigen, geschweige denn aufbringen. In diesem System werden vorhandener privatwirtschaftlicher Wettbewerb im Bereich der PKV aufgehoben und die Vergleichsmöglichkeiten im dualen Versicherungssystem eingeebnet. Die SVR-Vorschläge sind zudem nicht mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit vereinbar: Sie enthalten nur erste Ansätze für die Einführung von Kapitaldeckungselementen, und es besteht die Gefahr, dass zukünftige Ausgabensteigerungen durch weitere staatliche Zuschüsse aufgefangen werden sollen. Im Übrigen: Ein sozialer Ausgleich für 38 Prozent der Bevölkerung ist - weil viel zu hoch angesetzt - mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht vereinbar.

    Insgesamt ist also festzuhalten, dass es den Vorschlägen des SVR an ordnungspolitischer Stringenz mangelt, und es bleibt zu hoffen, dass die Große Koalition sich nicht an diesen Vorschlägen orientiert.

    Eine zukunftsfähige Reformperspektive



    Das deutsche Gesundheitssystem, das sich in seiner Dualität prinzipiell bewährt hat, sollte nicht radikal verändert, sondern evolutorisch weiterentwickelt werden. Nur ein sorgfältiges, an ordnungspolitischen Leitvorstellungen orientiertes Gesamtkonzept, das alle möglichen Rückwirkungen in Wirtschaft, Gesundheitssystem und bei den Bürgerinnen und Bürgern mit bedacht hat, wird auf Dauer die heutigen Probleme lösen und damit zukunftsfähig sein. Deshalb kann auch die vollständige Privatisierung der Krankenversicherung, wie sie von der FDP vorgeschlagen wird, nicht überzeugen. In Übereinstimmung mit den genannten und begründeten Prüfparametern macht die Weiterentwicklung des dualen Versicherungssystems folgende Maßnahmen erforderlich:

    • Schrittweiser Übergang zu mehr privater Vorsorge dadurch, dass die Versicherungspflichtgrenze auf keinen Fall weiter erhöht, sondern wieder auf das Niveau von 3 375 Euro gesenkt wird, das vor dem 1. Januar 2003 herrschte. Es gilt, die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung bei den GKK für diejenigen zu überdenken, deren Verdienst oberhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt. Es gibt für sie keinen Grund, ein System staatlicher Fürsorge in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig sind versicherungsfremde Leistungen wie Mutterschaftsgeld aus dem Katalog der GKK-Leistungen herauszunehmen.

    • Die Leistungen der GKK sind auf eine Grundsicherung zu begrenzen. So sollten private Unfälle, das Krankengeld und der gesamte Zahnersatz aus dem Leistungskatalog herausgenommen werden und jedermann die Möglichkeit eröffnet werden, sich in diesen Bereichen privat mit einer Zusatzversicherung abzusichern. Dies allein könnte die GKK um den jährlichen Betrag von 28 Milliarden Euro entlasten, und der Beitrag könnte um bis zu drei Prozentpunkte gesenkt werden. Gerade im Bereich der Zahnbehandlung und des Zahnersatzes sollte die Gesundheitsprophylaxe weiter dadurch angeregt werden, dass die Versicherten erstens die von ihnen verursachten Kosten über die Abrechnungen zur Kenntnis nehmen müssen und zweitens durch ein gesundheitsbewusstes Verhalten die Gelegenheit bekommen, etwa über Beitragsrückgewähr zu sparen.

    • Auch im Bereich der GKK sind schrittweise Anteile der Beiträge für Kapitaldeckung vorzusehen. Dies wären geeignete Maßnahmen im Sinne von Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit.

    • Die beitragsfreie Mitversicherung von Ehefrauen ist überholt und sollte abgeschafft werden. Dies würde zu mehr Einnahmen bei den GKK führen.

    • Um die Beiträge langfristig von der Lohnentwicklung abzukoppeln, sollte der Arbeitgeberanteil auf 6,5 Prozent festgeschrieben werden.

    • Zwischen GKV und PKV sollten ordnungspolitische Voraussetzungen für einen echten Leistungswettbewerb geschaffen werden. Dies gilt insbesondere für die Erleichterung des Wechsels bisher GKV-Versicherter zur PKV. Ein echter Systemwettbewerb im gegliederten dualen Krankenversicherungssystem der Bundesrepublik hätte etwa auch zu berücksichtigen, dass die GKK im Gegensatz zu den PKV-Unternehmen keiner Steuerzahlungspflicht unterliegen, kein Eigenkapital bilden müssen und die Solvabilitätsbestimmungen auf sie nicht angewandt werden.

    • Die evolutorische Weiterentwicklung des GKV-Systems darf sich nicht nur auf die Einnahmeseite beziehen, sondern muss auch - bei aller Bejahung des medizinischen Fortschrittes - mit Reformen auf der Ausgabenseite einhergehen: So sind die Wiedereinführung der so genannten Positivlisten, die ordnungspolitisch gebotene Förderung des Leistungswettbewerbs in der Pharmaindustrie und die Intensivierung der Krankheitsprävention durch mehr Gesundheitserziehung und die Schaffung von weiteren Anreizen, sich gesundheitsbewusst zu ernähren und zu verhalten, erneut zu überdenken.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. PKV-Reformkonzept Krankenversicherung, PKV-Verband 15.Juni 2005, S. 5f.

  2. Vgl. Frank Niehaus/Christian Weber, Der überproportionale Finanzierungsbeitrag privat versicherter Patienten zum Gesundheitswesen, Gutachten des Wissenschaftlichen Instituts der PKV, Köln 2005.

  3. Vgl. Gesprächskreis Arbeit und Soziales: Experimentierfeld Deutschland?, Reformstrategien in der Sozialpolitik auf dem Prüfstand, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 2005.

  4. Vgl. SVR Jahresgutachten 2004/05, Randnr. 244f.

  5. Vgl. ebd., Tabelle 50, S. 257; vgl. auch Datenreport 2004.

  6. Vgl. insbes. Art. 1 und 2 des Grundgesetzes.

  7. Zu unterschiedlichen, ja konkurrierenden Gerechtigkeitsvorstellungen vgl. z.B. Lutz Leisering, Eine Frage der Gerechtigkeit, Armut und Reichtum in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (1999) 18, S. 10ff.

  8. Vgl. SVR (Anm. 4), Randnr. 510ff.

  9. Vgl. PKV-Reformkonzept (Anm. 1), S. 8.

Dr. iur.; geb. 1938; em. Prof., Lehrgebiet Sozio-Ökonomie am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück, 1993 - 1999 Generaldirektor des Europäischen Medieninstituts. Über'm Rath 29, 56072 Koblenz.