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Erfinder der modernen Liebe - Essay | Heinrich Heine | bpb.de

Heinrich Heine Editorial Beiblättchen. Oder: Der Umgang mit Dichtern - Essay Erfinder der modernen Liebe - Essay Warum Heine heute? Dichterliebe und Denkmalstreit Heine nach 1945 Heines Umgang mit Judenhass als Fortführung eines biblischen Programms

Erfinder der modernen Liebe - Essay

Elke Schmitter

/ 11 Minuten zu lesen

Die Beschreibung eines ganzen Kosmos macht Heines Liebeslyrik einzigartig. Bei Heine sind die Frauen erstmals selbstbestimmte Wesen, die nicht nur Ja sagen oder in Ohnmacht sinken.

Einleitung

Über Heinrich Heines erste Liebe gehen die Ansichten weit auseinander; einig sind sich alle Forscher mit dem Dichter, dass sie unglücklich war. Dass es überhaupt zu näherem Kontakt mit Kusine Amalie kam, ist unwahrscheinlich; gesehen haben sich die beiden nur über wenige Wochen. Der Neunzehnjährige warb in Hamburg vergeblich um die reiche Erbin. Das soziale Elend, das diese unglückliche Liebe auch ausmachte, taucht in immer neuen Bildern des buchstäblich,räumlich Ausgeschlossenen auf, der im Schatten seine hell strahlende, von gesellschaftlichem Glanz erleuchtete Liebe anbetet: Sie haben heut Abend Gesellschaft, / Und das Haus ist lichterfüllt. / Dort oben am hellen Fenster / Bewegt sich ein Schattenbild. // Du schaust mich nicht, im Dunkeln / Steh ich hier unten allein; / Noch wen'ger kannst du schauen / In mein dunkles Herz hinein. // Mein dunkles Herze liebt dich, / Es liebt dich und es bricht, / Und bricht und zuckt und verblutet, / Aber du siehst es nicht.

Eine Heirat mit Amalie hätte den armen Vetter mit einem Mal herausgehoben aus finanzieller Abhängigkeit und berechtigten Zukunftsängsten, hätte den gesellschaftlich und ökonomisch schwankenden Boden, auf dem dieser Sohn eines glücklosen Düsseldorfer Tuchhändlers und einer ehrgeizigen Arzttochter seinen Lebenslauf beginnen musste, mit einem Schritt erhoben und befestigt. So sah es allerdings auch der Schwiegervater in spe, Salomon Heine, der vermutlich einiges daran setzte, die beiden nach Möglichkeit zu trennen - schließlich sollte für seine Töchter (möglicherweise verliebte sich Heine später auch in Therese, wenn nicht, wie in der Heine-Forschung hie und da angenommen, gleich der Reihe nach in alle vier) eine Partie gemacht werden: "In ihrer Nähe sein", schrieb Heine an den Freund Sethe im Herbst 1816, "und doch ewig lange Wochen nach ihrem alleinseeligmachenden Anblick oft vergebens schmachten, u - u - und - und - O! - O! - O Christian! da kann auch das frömmste und reinste Gemüt in wilder wahnsinniger Gottlosigkeit auflodern." Unwahrscheinlich ist allerdings auch, dass Heine bei mehr Gelegenheit sein Glück hätte erwerben können: Seine Liebesgedichte hat Amalie, die fünf Jahre später einen ostpreußischen Gutsbesitzer heiratete, "bitter und schnöde gedemütigt". Und mehr als Gedichte hatte er damals nicht. (Viel mehr sollte es auch nie werden. Es kam noch Prosa hinzu.)

Im nächtgen Traum hab ich mich selbst geschaut, / In schwarzem Galafrack und seidner Weste, / Manschetten an der Hand, als gings zum Feste, / Und vor mir stand mein Liebchen, süß und traut. // Ich beugte mich und sagte: "Sind Sie Braut? / Ei! ei! so gratulier ich, meine Beste!" / Doch fast die Kehle mir zusammenpreßte / Der langgezogne, vornehm kalte Laut. // Und bittre Tränen plötzlich sich ergossen / Aus Liebchens Augen, und in Tränenwogen / Ist mir das hohe Bildnis fast zerflossen. // O süße Augen, fromme Liebessterne, / Obschon ihr mir im Wachen oft gelogen, /Und auch im Traum, glaub ich euch dennoch gerne! Der frühe Dichter träumte und schrieb Sonette, und Tod und Hochzeit schoben sich in fast allen Gedichten zusammen. Man kann das als lyrischen Ausdruck der Hoffnungslosigkeit dieser Liebe deuten, als einen Hinweis auf die jugendliche Schwermut des Verfassers oder als eine Aggression gegen die erniedrigende, verschmähende Liebste. Aber es erinnert doch eher an Romane und Filme einer bestimmten Sorte, die auch gewisslich mit dem Hochzeitsglöcklein schließen: Es gibt ein Glück, das schier nicht auszudenken ist, weil es nicht anschließt an Erfahrung, sondern nur lose an Wünsche geknüpft werden könnte, die abstrakt sind. Wir wollen alle nur reich und glücklich sein.

Als der junge Mann aus Hamburg fortging, um in Göttingen zu studieren, nahm er nicht einmal eine Erinnerung mit: Es gab ja nichts zu erinnern als einen enttäuschten Wunsch. Und dieser geistert in allen Erscheinungen, bis hin zum Madonnenbild im Kölner Dom: Es schweben Blumen und Englein / Um unsre liebe Frau; / Die Augen, die Lippen, die Wänglein, / Die gleichen der Liebsten genau. Das Objekt von Heines erster Liebeswahl war nie Subjekt geworden. Der Gegenstand seiner Sehnsucht war nicht durch Erfahrung konturiert, blieb Folie und konnte so jede Form annehmen. Nichts aber kann hartnäckiger schmerzen als fiktive Enttäuschung, weil keine Erfahrung sie heilen kann: So bleibt der vergeblich Liebende an seine Liebe gebunden wie ein Tier an seinen Pflock. Vielleicht hat Heine sich mit der Weisheit zu trösten versucht, dass die Zeit alles heile - aber dazu eben braucht es Geduld. Die bloße Quarantäne, das sterile Fort-Sein, das Nicht-mehr-Sehen und Nichts-mehr-Hören, das alles hilft ja nicht, solange die Seele erwartungsvoll, getrieben auf der Lauer liegt, um ihre eigenen Fortschritte zu verbuchen. Die Zeit, die alles heilt, ist ja, wenn überhaupt, nicht die verbrachte und verwartete, aufmerksam registrierte, sondern nur die erlebte Zeit.

Morgens steh ich auf und frage: / Kommt feins Liebchen heut? / Abends sink ich hin und klage: / Ausblieb sie auch heut. // In der Nacht mit meinem Kummer / Lieg ich schlaflos, wach; / Träumend, wie im halben Schlummer, /Wandle ich bei Tag. So einfach und so groß ist es bestellt um die liebende Sehnsucht, dass ein kleines achtzeiliges Volkslied alles umfasst, wenn Heine es gedichtet hat: Morgen und Abend, Tag und Nacht, Traum und Bewusstsein, Hoffnung und Klage. Und je mehr die Umgebung zum Glücklichsein reizt, je schöner der Frühling sich zeigt, die Lüfte lau, die Vogelstimmen lauter werden, desto tiefer sinkt das Herz in die Schwärze. Selbst die gallige Bitterkeit, die Heines lyrische Ich-Stimmen zu ihrem Schutz ausgebildet haben, kann vor jenem Moment nicht behüten, das Heine im 37. Gedicht des Lyrischen Intermezzo beschreibt: Philister in Sonntagsröcklein / Spazieren durch Wald und Flur; / Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein, / Begrüßen die schöne Natur. // Betrachten mit blinzelnden Augen, / Wie alles romantisch blüht; / Mit langen Ohren saugen / Sie ein der Spatzen Lied. // Ich aber verhänge die Fenster / Des Zimmers mit schwarzem Tuch; / Es machen mir meine Gespenster / Sogar einen Tagesbesuch. // Die alte Liebe erscheinet, / Sie stieg aus dem Totenreich, / Sie setzt sich zu mir und weinet, / Und macht das Herz mir weich.

Den anderen ist die Natur Kulisse; der tatsächlich Liebende kann sie nicht mehr ertragen, sie weckt nur die Erinnerung an eine Empfindungsfähigkeit, die vergessen werden soll. (Diese lyrische Einsicht trennt das aufrichtige Stadtkind Heine von seinen unselbständigen Kollegen, die ihre Liebesgefühle in bukolische Bilder kleiden, selbst wenn sie privat auf der Recamiere leiden.) Denn deren Existenz bedeutete Schmerz; nun aber ist das Subjekt durch seine Leiden mit dem Schmerz schon so verbunden, dass dessen Aufhören nur als Absterben vorstellbar ist - als Absterben nicht nur der Empfindung und der Empfindungsfähigkeit, sondern als Absterben der Person. Die erste große Liebe ist ja auch deshalb dem Unglücklichen so gefährlich, weil sie mit der Entdeckung der Persönlichkeit einhergeht: Man will kein anderer mehr werden, nicht einmal ein Ärmerer an Schmerz. "Ich sehe jetzt ein", schrieb Heine in einem Brief aus dieser Zeit, "daß die Menschen Narren sind, wenn sie über große Schmerzen klagen. Der Schmerz ist nicht so groß, aber die Brust, die ihn beherbergen soll, ist gewöhnlich zu eng."

Viel später, als "alles vorbei war", schrieb der Dichter ein Gedicht auf jene Art von Liebe, die meist eine Krankheit der Jugend ist: die Entdeckung eines Gefühls, das sich souverän zu seinem Objekt verhält wie zu seinem Subjekt - eine Empfindung, die herrscherlich und zufällig, absolutistisch und zerstörend ist, ein rein narzisstisches Unglück. Er schrieb diese vierstrophige kleine Ballade in jener perfekten Metrik, die er sich als Student bei seinem berühmten Lehrer August Wilhelm Schlegel angeeignet hatte: Die Philologie, eine im deutschen Sprachraum tote Wissenschaft, war von den Romantikern wieder entdeckt worden und zu einer einmaligen Höhe getrieben. Heine hat die Motive der Romantik mit Skepsis zitiert, manchmal verballhornt; seine subtile Sprachtechnik aber verdankt er der Textarbeit dieser Epoche. Deren Ergebnisse lassen alle Ansprüche des Reimens hinter sich; Rhythmus und Klang allein erzeugen die Schönheit eines vollkommenen Gedichts, die Dynamik in den Zeilen lässt den arglosen Leser einen Reim annehmen wie in den besten Gedichten der Anakreontik. Das Thema der Liebe findet seine formale Entsprechung in einem totalen Gedicht.

Der Asra

Täglich ging die wunderschöne
Sultanstochter auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.

Täglich stand der junge Sklave
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Waser plätschern;
Täglich ward er bleich und bleicher.

Eines Abends trat die Fürstin
Auf ihn zu mit raschen Worten:
Deinen Namen will ich wissen,
Deine Heimat, deine Sippschaft!

Und der Sklave sprach: Ich heiße
Mohamet, ich bin aus Yemmen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.

Heine als Dichter der Liebe - das umfasst die Innigkeit und auch ihr Gegenteil. Er kann Gedichte schreiben, die in ihrer Schlichtheit zu Herzen gehen und so unmittelbar wirken, dass man sie nicht vergisst. Er kann, naiv und treu, den Bänkelsänger seines Gemüts und seiner Sprache geben, natürlich, unverbildet, ein Hirte tiefer, singender Gefühle. Aber er kann auch mit Ironie sich selbst zitieren, die Fertigsprache seiner Zeit, die abgelebten Bilder, die er soeben noch selbst gebrauchte und noch einmal zu beglaubigen schien: Das Fräulein stand am Meere / Und seufzte lang und bang. / Es rührte sie so sehre / Der Sonnenuntergang. // Mein Fräulein! sein Sie munter, / Das ist ein altes Stück; / Hier vorne geht sie unter / Und kehrt von hinten zurück.

Er ist, als Dichter, auf vitale Weise unzuverlässig: Aus einer Stimmung aufgewacht, kann er ihrer sofort überdrüssig werden; vor fünf Minuten vielleicht war es noch der rote Sonnenuntergang, der ihn in der Seele berührte, jetzt ödet ihn die Sache an, und er schreibt über diese Empfindsamkeit einen zynischen Achtzeiler. Der so durchdringend und nachhaltig im Gedächtnis ist, dass er von nun an jeden lyrischen Sonnenuntergang kommentiert. Doch "trotz meiner exterminatorischen Feldzüge gegen die Romantik", wendete er gegen die Vorwürfe ein, er sei ein Held der Pose, "blieb ich doch immer ein Romantiker (...). Mit mir ist die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward."

Der erotische Erfahrungsschatz des Dichters Heine ist schwer zu schätzen. Wahr aber ist, dass Heine all den Spielarten der Liebe Ausdruck gab in seiner Poesie, die bis dahin (und nach ihm sehr lange Zeit wieder) nicht literaturfähig waren: das Erkennen der Anziehung in einem Augenblick, das Suchen nach der Gelegenheit, das Warten aufeinander und die erfüllte Seligkeit. Aber eben auch die trübe Seite des Mondes, die Vergänglichkeit der Liebe, die Langeweile und die abgestandene Rührung, das müde Erinnern, sogar der kleinliche Profit, den das frivole Gedächtnis aus seiner Vergangenheit zieht. Und Heine gönnt die Erfahrung Mann und Frau. Es sind in seinem Werk nicht nur die Marketenderinnen, die erotische Anziehung fühlen, Avancen machen, sich mit Selbstbewusstsein präsentieren: Es sind die Frauen und Damen seiner Gesellschaft, die Briefe schreiben, Liebhaber empfangen - und ihnen den Abschied geben. Er ist meines Wissens der Erste, der einer Geliebten das lyrische Recht gibt, Schluss zu machen mit einem Mann: aus eben dem Überdruss aneinander, der sonst nur dem Liebhaber zugeschrieben wird: Schaff mich nicht ab, wenn auch den Durst / Gelöscht der holde Trunk; / Behalt mich noch ein Vierteljahr, / Dann hab auch ich genug. // Kannst du nicht mehr Geliebte sein, / Sei Freundin mir sodann; / Hat man die Liebe durchgeliebt, / Fängt man die Freundschaft an.

Das allgemeine Übelnehmen, das Heine zeitlebens ertragen musste und das bis heute seinen Rang herabsetzt, war vermutlich ein Dreifaches. Einerseits bezog es sich auf seine - vermeintlichen, vermuteten - erotischen Erfahrungen; zum zweiten auf den lyrischen Gewinn, den er daraus beständig zog (unter unnachgiebiger Betonung der trivialen Aspekte der Liebe); drittens kommt jene saure Empörung hinzu, die sich einstellt, wenn einer seine Strafe nicht demütig trägt, sondern ihr trotzt. Und nur mit dem Schöpfer, so unter Kollegen, die wichtigen Dinge bespricht.

Das Hohelied

Des Weibes Leib ist ein Gedicht,
Das Gott der Herr geschriebenI
ns große Stammbuch der Natur,
Als ihn der Geist getrieben.
(...)
O welche göttliche Idee
Ist dieser Hals, der blanke,
Worauf sich wiegt der kleine Kopf,
Der lockige Hauptgedanke!
Der Brüstchen Rosenknopsen sind
Epigrammatisch gefeilet;
Unsäglich entzückend ist die Zäsur,
Die streng den Busen teilet.
Den plastischen Schöpfer offenbart
Der Hüften Parallele;
Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt
Ist auch eine schöne Stelle.
(...)
Versenken will ich mich, o Herr,
In deines Liedes Prächten;
Ich widme seinem Studium
Den Tag mitsamt den Nächten.
Ja, Tag und Nacht studier ich dran,
Will keine Zeit verlieren;
Die Beine werden mir so dünn -
Das kommt vom vielen Studieren.

Das kam schon aus der Matratzengruft, wo aus dem Materialisten des Lebens einer des Sterbens wurde: ein Krüppel, dazu verurteilt, neben der blühenden Mathilde, seiner letzten Geliebten und Frau, zu siechen. Trotzdem bestand er darauf, dass Gott "in unseren Küssen ist" - die christliche Fleischesverdammung machte der jüdische Dichter nicht mit.

Die getreuliche, genaue Beschreibung eines ganzen Kosmos macht Heines Liebeslyrik einzigartig. Er hat nicht nur die Raserei der Liebe, die stille Sehnsucht und die Fleischeslust, ihre Vergesslichkeit und ihre Zähigkeit beschrieben. Er hat, nicht ohne Trotz, auch die Gemütlichkeit verteidigt. Gesundheit nur und Geldzulage / Verlang' ich, Herr! O laß mich froh / Hinleben noch viel schöne Tage / Bei meiner Frau in statu quo. Fester als seine Zeitgenossen hat er darauf bestanden, dass die Liebe, nach allen Projektionen, ein sinnliches Vergnügen ist, ein Alltagsrausch und ein irdisches Paradies. Keine Spur von Selbstverachtung ist da zu lesen, wenn Küsse statt Worte die Lippen beschäftigen, und keine Spur von jener Weibsverachtung, die das bürgerliche Hohelied so oft durchzieht.

Bei Heine sind die Frauen erstmals selbstbestimmte Wesen, die nicht nur Ja sagen oder in Ohnmacht sinken, sich träumend und sehnend verzehren oder kaltlächelnd den Abschied geben: Sie spenden und empfinden Lust, verfügen über Gefühle und werden von diesen verfügt, sie stürzen sich in ihre Abenteuer, wählen mit Selbstbewusstsein ihre Liebespartner, sie haben Magen und Herz, sind aus Fleisch und Blut und durchaus dem Manne ebenbürtig. Aus Puppen sind Menschen geworden, aus stummen Projektionen unberechenbar Handelnde. Heine hat außerdem das Glück geschätzt, das seine Ehefrau ihm gab, und keinerlei Hinweis ist zu finden, dass er sein Selbstgefühl auf ihrem rund werdenden Rücken jemals erhöhen musste. Er hat, im Gegenteil, die konventionelle, verächtliche Scheidung zwischen der holden Gattin, deren Selbstopferung mit Respekt und gelangweilter sexueller Verachtung honoriert wird, und der Geliebten, die Fleisch ohne Würde ist, nicht mitvollzogen: In dieser Hinsicht war er eben nicht frivol. Weil er sein eigenes Begehren nicht geringschätzte, musste er seine Objekte der Begierde nicht verachten, und weil sein Selbstgefühl die Unterstützung einer Gemahlin nicht brauchte, konnte er sich einen Bettschatz leisten, ohne ihn dafür zu demütigen.

Mathilde war auch seine letzte Sorge, Gegenstand seiner Innigkeit. "In der Jugend", heißt es in seinen "Gedanken und Einfällen", "ist die Liebe stürmisch, aber nicht so stark, so allmächtig wie später. (...) wo das Blut langsamer in den Adern sintert, wo der Leib nicht mehr verliebt ist, liebt die Seele ganz allein, die unsterbliche Seele, und da ihr die Ewigkeit zu Gebote steht, da sie nicht so gebrechlich ist wie der Leib, nimmt sie sich Zeit und liebt nicht mehr so stürmisch, aber dauernder, noch abgrundtiefer, noch übermenschlicher."

Wozu ihn sein Lazarusleben außerdem führte, das waren nicht nur Motive der Liebeslyrik, die es zuvor nicht gab, sondern auch Gespräche mit Gott, der Welt und dem Tod, die bis heute unerhört sind. Doch das ist eine andere Geschichte.

geb. 1961; veröffentlicht Romane und Lyrik. Kulturredakteurin des "Spiegel". Ludwigkirchstraße 10, 10719 Berlin.
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