Politische und soziale Orientierungen in Ost und West. Empirische Befunde in generationaler Perspektive
Ungleichheit wird unter vielerlei Aspekten thematisiert, neuerlich insbesondere durch den Bericht der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" vom Sommer 2019.[1] Darin werden Vorschläge zu Voraussetzungen gemacht, die erfüllt sein müssen, damit "Menschen überall in Deutschland gut leben können", so Bundesinnenminister Horst Seehofer. Hervorgehoben werden dabei insbesondere die Themen Strukturschwäche, Infrastruktur, Daseinsvorsorge, Bildung, Kultur, Inklusion, Arbeitsmarktintegration, gesellschaftlicher Zusammenhalt, soziale und politische Partizipation sowie Generationenunterschiede. Auf die beiden letztgenannten Aspekte sowie auf politische Orientierungen werden wir im Folgenden unseren Blick richten.Im jüngsten Kinder- und Jugendbericht wurde 2017 verstärkt auf regionale Disparitäten hingewiesen.[2] Die Autorinnen und Autoren der Studie betonen, dass ländliche und dabei strukturschwache, peripherisierte schrumpfende Räume die Lebensbedingungen und Handlungsmöglichkeiten von jungen Menschen massiv einschränken. In dieser Konstellation könnten insbesondere männliche Jugendliche in den "neuen" Bundesländern für rechtspopulistische "Angebote" ansprechbar werden.
Es gibt also gute Gründe, sich in empirischen Analysen auf die Dimensionen Alter (jüngere und ältere Generation), Raum (Ost und West), politische Orientierungen sowie politische Partizipation zu konzentrieren.
Für die neue Shell-Jugendstudie wurden Anfang 2019 mehr als 2500 Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 27 Jahren befragt.[3] Hier sollen nur einige Ergebnisse stichwortartig genannt werden, die zu unserer Thematisierung passen und als Hintergrund beachtenswert erscheinen.
Regionale Unterschiede zwischen "neuen" und "alten" Bundesländern im Hinblick auf Orientierungen und Verhaltensweisen der jungen Generation nivellieren sich. Mit der Demokratie – so wie die Jugendlichen sie erfahren – sind drei Viertel eher zufrieden oder sehr zufrieden. Die Hälfte der Jugendlichen sieht die Europäische Union positiv, nur knapp ein Zehntel negativ. Die EU steht für sie für Freizügigkeit, kulturelle Vielfalt und Frieden, zunehmend auch für wirtschaftlichen Wohlstand und soziale Absicherung. Das Vertrauen in die EU ist nach den Ergebnissen der Shell-Jugendstudien gewachsen – die letzten beiden Studien sind von 2015 und 2010. Bei den Sorgen und Ängsten steht an erster Stelle das Thema "Umwelt".
Es soll im Folgenden darum gehen, einen Blick auf generationale sowie regionale Differenzen oder Annäherungen zu werfen.
Politische Orientierungen
In wissenschaftlichen Studien werden politische Orientierungen häufig differenziert erfasst, auch um dem Begriff "Politikverdrossenheit" eine der Komplexität von politischen Einstellungen angemessene empirische Analysemöglichkeit zu geben.[4] Unterschieden werden Einstellungen von grundlegenden Werten der Demokratie beziehungsweise zur Demokratie als politischem Basisordnungsmodell der Gesellschaft, zum konkreten Funktionieren der Demokratie in der Praxis sowie zum Vertrauen in politische Institutionen und zu den Inhaberinnen und Inhabern politischer Positionen. Empirisch ergibt sich dabei ein Bild, in dem die Zustimmungen der Bürger und Bürgerinnen vom Abstrakten zum Konkreten abnehmen: Die Demokratie als Herrschaftsmodell findet die breiteste Akzeptanz, geringer ist die Zufriedenheit mit der konkreten Praxis der Demokratie. Bei den Institutionen finden solche, die nicht unmittelbar mit dem politischen Prozess verbunden werden, also Gerichte und Polizei, ein hohes Vertrauen, geringer ist dieses bei den Institutionen der repräsentativen Demokratie, das heißt beim Parlament, der Regierung sowie den Parteien. Am wenigsten Vertrauen finden schließlich Politikerinnen und Politiker.Die Ergebnisse der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) von 2018 (Tabelle 1) ähneln denen der Jugendstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) 2015:[5] Durchgängig schätzen junge Menschen den Wert der Demokratie sehr. Vergleichsweise weniger zufrieden sind sie mit der demokratischen Praxis in der Bundesrepublik, noch geringer ist die Zustimmung zur jeweiligen Bundesregierung, was als Reaktion auf unterschiedlichste Outputaspekte verstanden werden kann. Den Institutionen des Rechtsstaats (Bundesverfassungsgericht, Justiz, Polizei) wird am meisten vertraut, denen des Parteienstaats weniger (Bundestag, Bundesregierung, politische Parteien), davon am wenigsten den politischen Parteien.
Man findet nur geringe Unterschiede zwischen Ost und West. Dies war in früheren Studien, insbesondere in den Jugendstudien des Deutschen Jugendinstituts, bezogen auf 16- bis 29-Jährige, noch anders. Aber auch zwischen den betrachteten Altersgruppen ist kaum ein größerer Unterschied zu sehen. Nur in einem ergänzenden Aspekt ist eine deutliche Differenz erkennbar: im Vertrauen zu den Institutionen EU-Kommission und Europaparlament. Zwar liegen die Zustimmungswerte insgesamt unter denen der rechtsstaatlichen Institutionen, die Jüngeren vertrauen jedoch den EU-Institutionen klar mehr als die Älteren, im Westen wie auch vor allem im Osten.
Zustimmende Haltungen zu den angeführten Aspekten politischer Orientierungen gelten als Unterstützung und Stabilisierung einer demokratischen Ordnung. Dabei sind sehr wohl kritische Elemente möglich und sogar sinnvoll, wie sie im Konzept der "kritischen Demokraten" auftreten, die eine deutliche Zustimmung zur Idee der Demokratie mit einer Kritik am konkreten Funktionieren der Demokratie und der relevanten Institutionen verbinden.[6] Basis ist dabei die klare Befürwortung demokratischer Werte. Zu unterscheiden ist die Ursache der Unzufriedenheit mit der Demokratie im eigenen Land. Vor dem Hintergrund politischen Interesses und politischer Kompetenzen und Aktivitätsoffenheiten kann dies als Bereitschaft zur Verbesserung demokratischer Realitäten beziehungsweise als Impetus zur Änderung unzureichender demokratischer Strukturen gelten. Beim Fehlen solcher individueller Kontexte kann hingegen wohl eher von einer diffusen Unzufriedenheit mit Erscheinungen politischer Prozesse ausgegangen werden, wobei dann Neigungen zu populistischen demokratiekritischen Vorstellungen eher erwartbar sein können. Wirklich problematisch ist jedoch die Kombination von Unzufriedenheit mit der realen Demokratie und einer geringen beziehungsweise fehlenden Verbundenheit mit grundlegenden Werten der Demokratie. Empirisch war diese Kombination in der FES-Jugendstudie nur selten vertreten, sollte aber dennoch nicht ohne Aufmerksamkeit der Jugendforschung bleiben.
Eine positive Sicht auf die Europäische Union und die Institutionen, durch die eine demokratische Legitimierung gestärkt wird, und eine Perspektive, wie in regionalen Unterschieden Gleichwertigkeit und soziale Entwicklungen als mögliche Tendenzen sichtbar werden, ist von Bedeutung für europäische Integration. Jürgen Habermas hat immer wieder die Relevanz einer europäischen politischen Öffentlichkeit betont und auf ein verbindendes Bewusstsein europäischer Solidarität hingewiesen, das von einem Nationalbewusstsein zu unterscheiden ist.[7] Insofern sind Umfrageergebnisse, die sich auf solche Aspekte beziehen lassen, von Interesse.[8] Mehr als zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger der EU sind der Ansicht, dass ihr Land von der EU-Mitgliedschaft profitiert. Dieser Aussage stimmen die Jüngeren häufiger zu (fast drei Viertel).
Zur regionalen und generationalen Differenzierung von Europaorientierungen lassen sich Ergebnisse des European Social Survey von 2016 nutzen.[9] Hier zeigt sich, dass die Verbundenheit mit der eigenen Nation in allen Ländern höher ist als die zu Europa. Dennoch gibt es auch eine starke Verbundenheit mit Europa. Differenzen zwischen den Generationen findet man insbesondere bezüglich der Verbundenheit mit der eigenen Nation: Diese ist bei den Älteren stärker. Dies weist darauf hin, dass die Jüngeren aufgeschlossener sind für gemeinsame europäische Lösungen angesichts der derzeitigen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen in Europa.
Eine weitere Frage lautet: "Ist die Europäische Einigung schon zu weit gegangen, oder sollte sie weitergehen?". Hierbei findet man deutlich europafreundlichere Positionen bei den Jüngeren, teilweise mit erkennbaren Länderunterschieden. Insgesamt kann man eine stärkere europafreundliche Haltung bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen erkennen.
Berücksichtigen kann man nun, dass sich nicht alle Differenzen notwendigerweise im Verlauf der Zeit aufheben müssen beziehungsweise als anzugleichende Momente zu betrachten sind. Das zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich unterschiedliche Wahlverhalten kann und muss man als Ausdruck unterschiedlicher Einstellungen verstehen, in denen sich regional unterschiedliche Erwartungen an Gesellschaft und Politik zeigen. So verstanden sind solche Differenzen für die Politik möglicherweise ein wichtiger Input, nicht aber notwendigerweise ein Problem, das dazu auffordert, Unterschiede zu beseitigen. Insofern kann Gleichwertigkeit statt eben Gleichheit von Merkmalen eher auch gleichwertige Anerkennung von Differenzen bedeuten, so empfiehlt es auch die Soziologin Eva Barlösius.[10] Das schließt allerdings nicht aus, dass problematische Haltungen zur Demokratie politische und soziale Antworten erfordern können, um nicht als Gefahr für soziale und politische Integration zu gelten. Unter einem weiteren Blickwinkel von sozialen Differenzen in einer Gesellschaft wird durchaus deutlich, dass andere Länder in Europa, wie zum Beispiel das Vereinigte Königreich, Belgien oder die Schweiz, mit ihren internen politischen, ökonomischen oder kulturellen Unterschieden sehr wohl demokratisch leben können.[11]