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Nation-building in Afghanistan | Afghanistan und Pakistan | bpb.de

Afghanistan und Pakistan Editorial Lokale Macht- und Gewaltstrukturen in Afghanistan Nation-building in Afghanistan Afghanistan unter dem Terror der Taliban Pakistan zwischen Demokratisierung und "Talibanisierung" Außenpolitik Pakistans zwischen Kaschmir und Afghanistan Hintergründe des anhaltenden indisch-pakistanischen Dialogs

Nation-building in Afghanistan

Matin Baraki

/ 17 Minuten zu lesen

Die staatlichen Strukturen Afghanistans wurden maßgeblich durch externe Faktoren zerstört. Eine militärische Lösung des Konfliktes kann es nicht geben. Ein Strategiewechsel, der sich an einer innerafghanischen und nichtmilitärischen Lösung des Problems orientiert, ist überfällig.

Einleitung

Es ist eine historische Tatsache, dass keine afghanische Regierung jemals in der Lage war, das ganze Staatsgebiet zu kontrollieren. Selbst der als "eiserner Amir" berüchtigte Abdul Rahman (1880 bis 1901) mit seinem landesweit operierenden Geheimdienstapparat hatte dies nicht vermocht. Dennoch gab es über einen längeren Zeitraum relativ funktionsfähige staatliche Strukturen und Institutionen am Hindukusch. Erst als 1978 nationalorientierte Offiziere der afghanischen Armee einen Militäraufstand inszenierten, die Führung der Demokratischen Volkspartei (DVPA) aus den Gefängnissen befreiten und ihnen die Regierungsverantwortung überlassen hatten, begann schrittweise eine Destabilisierung des Landes.


Die Zerstörung der staatlichen Strukturen Afghanistans nahm 1979 ihren Anfang. Der ehemalige CIA-Direktor Robert Gates und derzeitige US-Verteidigungsminister schrieb in seinen Memoiren, dass die US-Geheimdienste mit der Unterstützung der afghanischen Islamisten bereits sechs Monate vor der sowjetischen Intervention Ende 1979 begonnen hätten. Auch der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, bestätigte, dass dieser am 3. Juli 1979 die erste Direktive über die geheime Unterstützung der islamistischen Opposition gegen die Regierung in Kabul unterzeichnet hatte. Am 27. Dezember 1979 folgte die sowjetische Intervention. Damit wurde der Afghanistan-Konflikt internationalisiert und zum Objekt der rivalisierenden Weltmächte. Die Folge war ein unabsehbarer Zerfallsprozess der staatlichen Strukturen, der immer noch andauert.

Die Petersberg-Konferenz

Nach der Vertreibung der Taliban 2001 bestand eine reale Chance, die Staatlichkeit Afghanistans wiederherzustellen. Auf dem Petersberg bei Bonn wurde am 5. Dezember 2001 unter der Federführung der Vereinten Nationen (UNO) eine Regierung für Afghanistan gebildet. Vertreten waren Monarchisten und Führer der verschiedenen Mudjahidin-Gruppen. Es waren größtenteils jene Kräfte versammelt, die von 1992 bis 1996 an der Zerstörung Kabuls tatkräftig mitgewirkt hatten, wobei über 50 000 Zivilisten umgekommen sind.

Nicht in Afghanistan, sondern auf dem Petersberg wurde über die Zukunft des Landes entschieden und eine Regierung auf massiven Druck der über zwanzig anwesenden US-Vertreter gebildet. Hamid Karsai, der seit Beginn des afghanischen Bürgerkrieges enge Verbindungen zur CIA unterhalten hatte, wurde zum Interimsministerpräsidenten ernannt. Da diese Regierung weder Legitimation noch Rückhalt in Afghanistan hatte, wurde sie im Auftrage der Vereinten Nationen von einer internationalen Schutztruppe "International Security Assistance Force" (ISAF), gebildet von Soldaten aus NATO-Staaten unter US-Führung, nach Kabul begleitet. Wie schon in der Vergangenheit wurde eine militärische "Lösung" des Konfliktes favorisiert. Die afghanische Bevölkerung war somit vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auf der Grundlage des Petersberg-Akommens wurden zwischen 2002 und 2005 mehrere Wahlprozeduren durchgeführt. Im Dezember 2001 war Karsai in das Amt des Ministerpräsidenten eingeführt und im Juni 2002 auf einer Loya Jirga (Ratsversammlung) zum Präsidenten gewählt worden, wobei 24 Stimmen mehr abgegeben wurden als Abgeordnete anwesend waren. Am Eingang zum Wahlzelt wurden Abgeordnete durch Minister und Gouverneure per Unterschrift verpflichtet, für Karsai zu stimmen. Im Vorfeld dieser Wahlen hatten die USA 10 Millionen US-Dollar ausgegeben, um für ihn Stimmen zu kaufen. Anfang Januar 2004 wurde auf einer weiteren Loya Jirga eine Verfassung verabschiedet und Afghanistan zur Islamischen Republik ausgerufen. 2004 fanden Präsidentschafts- und 2005 Parlamentswahlen statt, wobei Drohungen, Gewalt, Mord und Stimmenkauf die Regel waren. Die "New York Times" nannte die Art und Weise, wie die Wahlen zustande kamen, "eine plumpe amerikanische Aktion". Bei all diesen Aktionen war die internationale Gemeinschaft präsent, die Vereinigten Staaten als Hauptakteur mit ihrem Botschafter Zalmay Khalilzad.

ISAF - ein Etikettenschwindel?

Unter Druck der USA hat die NATO auf ihrem Gipfeltreffen in Istanbul am 28. Juni 2004 die faktische Entmachtung bzw. Unterordnung der Schutztruppe ISAF unter NATO-Kommando beschlossen. Dies bedeutet eine Aufgabenvermischung von ISAF und den US-geführten Antiterror-Einheiten "Operation Enduring Freedom" (OEF). Die USA brauchten diese Konstellation, um zum einen die Verbündeten in alle militärischen Operationen in Afghanistan einzubeziehen; zum anderen erhofften sie sich dadurch eine Entlastung für ihren Irak-Krieg. Auch die Bundeswehr in Afghanistan wurde durch den Beschluss von einer UN- zu einer Antiterroreinheit unter US-Führung umfunktioniert. Die logische Folge war die Entsendung der Tornado-Aufklärungsflugzeuge, und in absehbarer Zeit auch die Entsendung deutscher Bodentruppen nach Süd- und Ostafghanistan. Hiermit wird das große, historisch gewachsene Ansehen Deutschlands in Afghanistan gefährdet, und die "Liebesbeziehungen" zwischen beiden Ländern werden nachhaltig beschädigt. Afghanistan wurde nach einem Operationsplan des NATO-Hauptquartiers unter den Besatzern in vier etwa gleich große Sektoren aufgeteilt. Dadurch ist die Aufsichtsfunktion der UNO, die Souveränität und Eigenstaatlichkeit Afghanistans in Frage gestellt. Diese Demütigung der Afghanen ist u.a. der Nährboden, auf dem der Widerstand wächst. Solange militärische Besetzung und Fremdbestimmung andauern, werden in Afghanistan keine Ruhe und kein Frieden, kein Wiederaufbau und keine zivile Lösung des Konfliktes möglich sein.

Die USA beabsichtigen, lange im Lande zu bleiben. Sie haben sich dafür entsprechende politische und militärische Voraussetzungen geschaffen. Noch vor den Parlamentswahlen 2005 hatte Karsai eine so genannte "Nationale Konferenz" einberufen, auf der 100 Personen aus seiner Entourage zusammenkamen. Sie bevollmächtigten ihn, mit den USA einen Vertrag zu schließen, auf dessen Grundlage die Militäreinheiten der Vereinigten Staaten auf unabsehbare Zeit in Afghanistan bleiben dürfen. Dieser Tatbestand zeigt, dass die afghanische Bevölkerung zu Recht erhebliche Zweifel an einer souveränen und unabhängigen Regierung in Kabul hat. Das jetzige Kabuler Kabinett besteht zu über 50 Prozent aus American Afghans, den Rest stellen Euro-Afghanen und drei willfährige Warlords. Mehreren Ministern, darunter dem Wirtschaftsminister Amin Farhang und dem Außenminister Dadfar Spanta, ist von den Parlamentariern die Zustimmung verweigert worden; sie amtieren aufgrund eines präsidialen Dekrets nur mehr kommissarisch. Hinzu kommen noch die US-Berater, die ausnahmslos in allen Ämtern präsent sind und die eigentliche Entscheidungskompetenz innehaben.

Der 11. September und die Folgen

Der 11. September 2001 lieferte den Anlass für den Krieg gegen Afghanistan, obwohl dieser schon lange vorher geplant war. Bereits im Juni 2001 hatte die Bush-Administration ihren regionalen Verbündeten Pakistan über solche Pläne informiert, wie der ehemalige Außenminister Pakistans Naiz Naik bestätigt hat. Ende September 2006 erklärte auch der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, einen Krieg gegen Afghanistan geplant zu haben. Sowohl der Afghanistan-Krieg als auch der gegen den Irak waren Bestandteil der als "Greater Middle East Initiative" bezeichneten Strategie der Neokonservativen in den USA.

Unter dem formalen Dach der UNO wurde Afghanistan zu einem Protektorat der internationalen Gemeinschaft degradiert. Seit Beginn der 1990er Jahre wird die "Treuhandschaft" und das "liberale Protektorat", das auch als "liberaler Imperialismus" bezeichnet wird, als eine Chance zu "nation building" und zur Demokratisierung von außen thematisiert. Die "failing states" sollen für geraume Zeit unter internationale Verwaltung gestellt werden, und es wird einem "neuen Interventionismus" der westlichen Mächte mit "robustem" militärischem Mandat das Wort geredet. In Afghanistan wurde diese "Theorie" umgesetzt, der Konflikt im Lande hat sich jedoch dadurch nur noch verschärft. Da die internationale Gemeinschaft unter US-Führung steht, ist sie selbst voreingenommen und Partei. Sie kann die Probleme Afghanistans nicht lösen - im Gegenteil, sie ist Teil des Problems geworden.

Weil Protektorate faktisch einen kolonialähnlichen Status haben, können im günstigsten Fall Probleme nur verschoben, im ungünstigsten Fall verschlimmert werden. Zu einer echten Lösung kommt es, wie in Afghanistan ersichtlich, nicht. Gerade durch den Status als Protektorat ist die Wirtschaft Afghanistans zerstört worden. "99 Prozent der Waren im Land würden importiert", gab der Kabuler Wirtschaftsminister Amin Farhang zu Protokoll. Dadurch wird der einheimischen Wirtschaft jegliche Entwicklungschance genommen. Der florierendste Wirtschaftszweig ist der Drogenhandel. Afghanistan ist längst zu einem "Drogenmafia-Staat" geworden, wie der erste afghanische Finanzminister und US-Bürger Ashraf Ghani festgestellt hat. Kabir Mersban, Senator aus der nordafghanischen Provinz Tachar und ehemaliger Gouverneur der Provinz, beschuldigt öffentlich den ehemaligen Kommandanten der Garnison für Tachar und Kundus und jetzigen Staatssekretär für Rauschgiftbekämpfung im Kabuler Innenministerium General Mohammad Daud der Beihilfe zum Drogenhandel. Mersban berichtet, dass ein Bruder des Staatssekretärs unter seinem Schutz Mohnanbau und Drogenhandel betreibe.

Drogen und Korruption haben wie ein Krebsgeschwür den Staatsapparat so weit erfasst, dass sie zum größten Hindernis beim Nation-building geworden sind. Aber auch die Taliban und Al Qaida finanzieren sich durch den Drogenhandel, da sie etwa 35 Prozent des Landes im Süden und Osten, wo im großen Stil Mohnanbau betrieben wird, kontrollieren. Erst seit 2001 werden in allen 32 Provinzen des Landes Drogen angebaut. Die Drogenbarone nutzen den "Wirtschaftsboom" zur Geldwäsche. Sie investieren nur im Luxussegment wie in Hotels, Häuser und Lebensmittel für den Bedarf zahlungskräftiger Ausländer. Ein Wiederaufbau für breite Schichten der Bevölkerung findet kaum statt. Die Arbeitslosigkeit beträgt ca. 70 Prozent, mancherorts, vor allem im Osten und Süden sogar 90 Prozent. Dort sympathisieren bis zu 80 Prozent der Bevölkerung mit den Taliban. Den Afghanen wurden vor fünf Jahren "blühende Landschaften" versprochen. Dorfbewohner im Süden des Landes kommentierten verbittert: "Wir haben gesehen, dass ihr eine Menge Lügen erzählt und falsche Versprechungen macht." Schon im September 2006 konstatierte "Senlis Council", ein internationaler Think Tank: "Die Taliban haben die Kontrolle über die südliche Hälfte Afghanistans wiedererlangt." Das von der UN in Millionenhöhe unterstützte Rückkehrprogramm für afghanische Flüchtlinge muss deswegen scheitern, weil sie weder Arbeit noch Unterkunft finden. Es gibt zwei Möglichkeiten, die Immigranten in Afghanistan zu reintegrieren: Zum einen sollten die Aufnahmeländer ihnen ihre Sozialhilfe für ein Jahr weiter zahlen, bis sie sich in Afghanistan eine Existenzgrundlage geschaffen haben. Zum anderen sollte die internationale Gemeinschaft diesen Personenkreis bevorzugt in ihren Projekten beschäftigen. Ein weiteres Problem stellt die fehlende Sicherheit dar. Viele von ihnen werden überfallen, sogar von Polizisten, weil man bei ihnen Geld vermutet.

Die "Irakisierung" Afghanistans

Die im Rahmen der Demobilisierung von 50 000 freigesetzten Kämpfer der Warlords mehren nicht nur zusätzlich das Heer der Arbeitslosen, sondern sie sind zu einem destabilisierenden Faktor der Kriminalität und der Unruhe geworden. Da sie keine bezahlte Beschäftigung finden können, gehen sie entweder zurück zu ihrem Warlord oder schließen sich den Taliban bzw. Al Qaida, den Drogenhändlern oder den kriminellen Banden an. Die Sicherheitslage ist so schlecht wie seit dem Sturz des Taliban-Regimes nicht mehr. Schon Ende Mai 2006 konnten die Taliban sogar gut ausgerüstete Polizei-Einheiten in die Flucht schlagen. Afghanistan ist auf dem Wege, sich zu irakisieren. Selbstmordattentate und Angriffe nehmen zu. Im Jahre 2006 sprengten sich 160 Attentäter in die Luft. Aus einem Bericht des US-Außenministeriums geht hervor, dass 2005 etwa 15 000 und 2006 knapp 20 500 Menschen getötet wurden. 2006 wurden 749 Anschläge registriert, das ist eine Steigerung um 50 Prozent im Vergleich zu 2005. Die Leiterin des Kabuler Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Ursula Koch-Laugwitz, stellt fest, dass die "Flächenbombardements in der Regel von der OEF durchgeführt" werden, "doch hat es auch bei ISAF-Einsätzen zivile Opfer gegeben". Allein "in den vergangenen drei Monaten soll die ISAF versehentlich mehr Zivilisten als Taliban getötet haben". Je größer die Zahl der zivilen Opfer ist, desto stärker gerät Karsai unter Druck. Er sah sich veranlasst, offen die NATO zu kritisieren, und er weinte bei einer Pressekonferenz in Kabul vor laufenden Kameras. "Unser unschuldiges Volk wird zum Opfer der sorglosen Operationen der NATO und der internationalen Militärs." Hinter verschlossen Türen wird bereits über Karsais Ablösung nachgedacht. Seine Gegner verbünden sich schon. In Kabul hat sich eine "Nationale Front" aus Islamisten wie dem ehemaligen Präsidenten Rabani, dem amtierenden ersten Stellvertreter von Karsai Ahmad Zia Masud, den ehemaligen "kommunistischen" Generälen Sayed Ahmad Gulabzoi und Nurul Haq Ulumi sowie dem Monarchisten Prinz Mutafa Zahir als Gegenpol zu Karsai gebildet.

Hemmende Faktoren des Nation-building

Währenddessen geht es der Bevölkerung immer schlechter. Selbst in Kabul funktionieren weder Wasser- noch Stromversorgung. Nur in den Stadtteilen, in denen die Regierung und die internationalen Organisationen residieren, ist eine Versorgung gewährleistet. Wegen der katastrophalen sanitären Verhältnisse kommt es in den heißen Sommermonaten wiederholt zu Cholera-Epidemien. Nach den Angaben von Unicef für 2007 gibt es in Afghanistan 1,6 Millionen Waisenkinder, um die sich kaum jemand kümmert. Hinzu kommen noch ca. 55 000 Witwen allein in Kabul, die sich zum größten Teil durch Prostitution ernähren. Die Mietpreise in der Stadt sind unerschwinglich geworden, selbst für die Menschen, die Arbeit haben. Ein Professor verdient im Monat ca. 300 US-Dollar. Allein die Miete eines Zimmers in Kabul verschlingt sein ganzes Monatsgehalt. Kann der Hochschullehrer Englisch bzw. Autofahren, hat er eine Möglichkeit, etwas dazuzuverdienen, etwa als Übersetzer, Türsteher oder Bodyguard bei den internationalen Organisationen oder als Taxifahrer. Es gibt zahlreiche Fachkräfte wie Dozenten, Lehrer, Ingenieure sowie Staatsbeschäftigte und Bankangestellte, die von ihrem Gehalt nicht leben können, sie müssen sich bei den "Non Governmental Organizations" (NGOs) oder bei den ausländischen Militärs verdingen. Dies hat zur Folge, dass Afghanistan seiner Elite beraubt wird, mit allen negativen Konsequenzen für die Entwicklung und den Wiederaufbau des Landes.

"Keine Institution in Afghanistan gilt als so korrupt wie die Justiz." Richter und Staatsanwälte verdienen im Monat zwischen 35 und 60 US-Dollar. Damit können sie ihre Familien nicht ernähren, und von Unabhängigkeit kann keine Rede sein. Nur 60 Prozent der Richter haben eine juristische Ausbildung, davon kennt die Mehrzahl nur die Scharia (Islamisches Recht). Mehr als ein Drittel von ihnen hat nie studiert, während etwa 30 Prozent der Staatsanwälte ein Rechtsstudium absolviert haben. Es handelt sich also größtenteils um Laien.

Der deutsche Beitrag in Afghanistan

Die deutsch-afghanische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der inneren Sicherheit hat eine fast hundertjährige Tradition. Nach der Petersberger Konferenz 2001 hat die Bundesrepublik wieder die Aus- und Weiterbildung der afghanischen Polizei übernommen. Die Polizeiakademie in Kabul wurde im August 2002 wieder aufgebaut, und für 1 600 Polizeioffiziere wurde die Ausbildung aufgenommen. Anfang 2004 standen bereits 2 624 Absolventen der Kabuler Administration zur Verfügung. Zur Finanzierung des Projektes hat die Bundesregierung für 2002 und 2003 insgesamt 33 Mio. Euro bereitgestellt. Es wurden bislang "4 250 Polizisten mittlerer und höherer Dienstgrade in jeweils ein- bzw. dreijährigen Lehrgängen aus- und über 18 000 Polizisten fachlich fortgebildet". Gegenwärtig sind insgesamt 49 deutsche Polizeiberater und Kurzzeitexperten sowie seit März 2007 zusätzlich 30 Feldjäger der Bundeswehr bei der Polizeiausbildung im Einsatz. Deutschland berät auch das afghanische Innenministerium organisatorisch. Für die politische Koordination dieser Arbeit wurde im Herbst 2003 ein Fachmann im Rang eines Botschafters nach Kabul entsandt.

Die Konzeption der deutschen Seite ist darauf gerichtet, afghanische Polizeikader auszubilden, die dann als Multiplikatoren für die Aus- und Fortbildung der afghanischen Polizeikräfte einzusetzen sind. Das ist in zweifacher Hinsicht sinnvoll: Einerseits ist es kostengünstiger, weil hier auf den Einsatz zahlreicher hoch qualifizierter deutscher Experten verzichtet werden kann, andererseits unterrichten die afghanischen Ausbilder in ihrer Muttersprache, was zum Verständnis wesentlich beiträgt. Diese Konzeption passt den USA aus zwei Gründen nicht. Sie wollen den Einfluss der Deutschen im innenpolitischen Bereich Afghanistans begrenzen. Hinzu kommt, dass die US-Armee die "Irakisierung" der afghanischen Polizei betreibt: Sie wird seit einiger Zeit auch im Süden und Osten des Landes zur Entlastung der US-Einheiten im Kampf gegen Aufständische eingesetzt. Nach Angaben des Innenministeriums in Kabul wurden allein von Januar bis Juli 2007mehr als 450 Polizisten getötet. "Von einer frisch ausgebildeten Einheit traten kürzlich nur 135 von 160 Männern überhaupt ihren Dienst in der Provinz Kandahar an. Nach wenigen Wochen waren es nur noch 70."

Für die Realisierung ihrer Konzeption sind die USA selbst in das Polizeiausbildungsprogramm eingestiegen. "Im amerikanisch geführten Zentralen Trainingszentrum in Kabul ist der Einfluss des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten offensichtlich." Im Gegensatz zu den offiziellen US-Angaben erhalten die Afghanen dort keine Polizei-, sondern eine paramilitärische Ausbildung. Damit hat das Pentagon die amerikanische private Sicherheitsfirma "Dyncorp" beauftragt. Selbst ein Firmenmitarbeiter, ein ehemaliger Polizist, kritisiert, dass hier keine Polizisten, sondern Sicherheitskräfte ausgebildet würden. "Dann haben wir irakische Verhältnisse." Um den Vorwurf der "Irakisierung" zu entkräften, haben die USA inzwischen auch die Europäische Union in die Polizeiausbildung einbezogen. Nach außen wird bei der Eupol auf die Beibehaltung der deutschen Konzeption hingewiesen, intern jedoch wird offen gesagt: "Wir brauchen auch eine paramilitärische Ausbildung." In der EU sieht man jedoch die durch die USA betriebene Vermischung von Polizei- und Militäraufgaben kritischer. Statt mehr afghanische Soldaten in den Süden und Osten zu entsenden, haben die USA eine Erhöhung der Polizeikräfte um 20 000 Mann durchgesetzt. Es müssten "möglichst schnell möglichst viele Polizisten ausgebildet werden". Das hat damit zu tun, dass die USA bislang erst 30 000 statt der geplanten 70 000 Soldaten ausgebildet haben. Polizisten werden in Schnellkursen ausgebildet und als "Kanonenfutter" eingesetzt. Bereits bei fünf US-geführten Militäroperationen - Riverdance, Mountain Lion, Mountain Fury, Medusa und Mountain Eagle - wurden Polizisten eingesetzt. Nach Angaben von Polizeiausbildern starben dabei über zwanzigmal mehr Polizisten als Soldaten.

Der deutsche Berater für die Polizeiakademie, Harald Ziaja, bemerkt: "Wir versuchen den Polizisten zu vermitteln, dass sie ihre Bürger schützen müssen. Die amerikanischen Sicherheitsfirmen kommen dagegen, um Schießübungen zu machen. Für sie sind die Afghanen keine Bürger, sondern Feinde." Die USA wollen das deutsche Ausbildungsprogramm konterkarieren, was für die innere Sicherheit Afghanistans unabsehbare Folgen haben wird.

Nachhaltige Wirtschaftspolitik

Ein nachhaltiger Wiederaufbau, der vor allem ein "Krieg gegen den Hunger" zu sein hätte, wie es "Senlis Council" formuliert, einer, der allen Afghanen zugute kommt, muss oberste Priorität haben. Die Milliarden US-Dollar, auf diversen internationalen Geberkonferenzen dem Land versprochen und auf einem Sonderkonto bei der Weltbank geparkt, fließen über die 2 500 in Kabul stationierten und mit allen Vollmachten ausgestatteten NGOs, die "oft gegeneinander statt miteinander" arbeiten, in die Geberländer zurück. Diese NGOs fungieren faktisch als Ersatzregierung und zerstören die afghanische Wirtschaft noch weiter. Einheimische Unternehmen erhalten von ihnen kaum Aufträge. Der ehemalige Wiederaufbauminister Farhang musste feststellen, dass die NGOs ihn über geplante Vorhaben überhaupt nicht informieren, geschweige denn konsultieren. "Ich habe keine Ahnung, was die machen." Der zum Planungsminister ernannte Franco-Afghane Ramazan Bachardoust wurde, als er die Machenschaften der NGOs, die er "als die neue Al Qaida in Afghanistan bezeichnet", aufdecken wollte, von Karsai entlassen.

Afghanistans ökonomische Perspektive liegt in der Abkoppelung von kolonialähnlichen wirtschaftlichen Strukturen und der stärkeren Hinwendung zu einer regionalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den industriell entwickelteren Nachbarn Indien, China, Iran und Pakistan sowie in einer Süd-Süd-Kooperation. Neue Ansätze gibt es seit 2003, als das IBSA-Forum mit Indien, Brasilien und Südafrika gegründet wurde. In der dritten Juliwoche trafen sich ihre Außenminister in Neu-Delhi und konkretisierten ihre Ziele, wobei u.a. die Einbeziehung der ärmeren Länder in gemeinsame Projekte vereinbart wurde. Es gibt bereits erfolgreich durchgeführte Vorhaben z.B. in Haiti und Guinea-Bissau.

Als US-Protektorat hat Afghanistan weder politische noch ökonomische Perspektiven, geschweige denn eine friedliche Zukunft. Außerdem: Die von den USA favorisierte "militärische Lösung" kann es nicht geben. In jedem Fall wäre sie nur ein gigantischer "Ressourcenschlucker". Seit 2002 wurden in Afghanistan 82,5 Milliarden US-Dollar für den Krieg ausgegeben, jedoch nur 7,3 Milliarden für den Wiederaufbau. Experten der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) geben die Kriegskosten mit über 100 Milliarden US-Dollar an. Die Pro-Kopf-Ausgaben für die 40 000, darunter 3 200 deutsche, in Afghanistan stationierten ausländischen Soldaten betragen täglich 4 000 US-Dollar.

Empfehlungen für eine Exit-Strategie

Folgende Grundprämissen deutscher und internationaler Handlungsoptionen stehen zur Diskussion:

Option 1: Von USA- und NATO-Generälen vor Ort sowie von den Regierungen in Afghanistan und in den NATO-Ländern wird eine Aufstockung der Soldaten gefordert. Der Afghanistan-Konflikt ist aber militärisch nicht zu lösen; weder den Briten im 19. Jahrhundert noch den Sowjets im 20. Jahrhundert ist dies mit dem Einsatz von zeitweise 120 000 Soldaten gelungen. Die verantwortlichen Militärs und Politiker in den westlichen Ländern sollten diese historischen Erfahrungen zur Kenntnis nehmen. Afghanistan ist zweimal so groß wie die Bundesrepublik und topographisch sehr vielfältig. Um das Land völlig zu besetzen, wären möglicherweise ca. 500 000 Soldaten erforderlich. Dies würde immer noch keinen Frieden bedeuten, sondern einen Krieg auf höherer Eskalationsebene.

Option 2: Ein sofortiger Abzug aller Militäreinheiten, einschließlich der Bundeswehr aus Afghanistan. Diese Position wird hauptsächlich von der Friedensbewegung und der Linkspartei vertreten. Unter der Berücksichtigung der Erfahrungen von 1992, nach der Machtübertragung an die Modjahedin, die einen Bürgerkrieg, die Zerstörung der Hauptstadt Kabul und der Infrastruktur des Landes sowie die Ermordung von mehr als 50 000 Menschen zur Folge hatte, sollte diese Option als unpraktikabel verworfen werden.

Option 3: Mittelfristiger Abzug bis ca. Ende 2010 bzw. langfristiger Abzug in 15 bis 20 Jahren, was von manchen Strategen diskutiert wird. Diese Option würde an der jetzigen militärischen Auseinandersetzung nichts ändern. Im Gegenteil, der Widerstand gegen US-Armee und NATO-Einheiten würde sich fortsetzen, möglicherweise auf breiterer Basis. Da der Krieg täglich zahlreiche zivile Opfer fordert, werden sich weitere Teile der Bevölkerung dem Widerstand anschließen. Und es wird zu einer engeren Zusammenarbeit des innerafghanischen und internationalen Islamismus kommen. Dies wird die Destabilisierung der Region oder zumindest der Nachbarstaaten Afghanistans beschleunigen. Darüber hinaus kann ein beabsichtigter Wiederaufbau des Landes an seiner unsicheren Peripherie nicht erfolgreich durchgeführt werden. Da der Krieg auch weitere Zerstörungen verursacht, steht er im Widerspruch zu dem Wiederaufbauprogramm der internationalen Akteure.

Option 4: Der beste und einzig gangbare Weg zur Befriedung Afghanistans wäre die Bildung einer wirklich repräsentativen Regierung in Afghanistan. Unter strengster Kontrolle nicht durch die am Krieg beteiligten Nationen, sondern der Blockfreien Staaten, der Konferenz der Islamischen Staaten, der internationalen Gewerkschaften, von Friedens-, Frauen- und Studentenorganisationen sollten Wahlen für eine Loya Jirga durchgeführt und auf dieser repräsentativen Versammlung eine provisorische Regierung und Kommissionen zur Ausarbeitung einer Verfassung sowie von Parteien- und Wahlgesetzen gewählt werden. Eine Regierung, vom Volk gewählt, hätte auch in Kabul kaum etwas zu befürchten. Dann sollten die US- und NATO-Einheiten aus Afghanistan abgezogen werden. Im schlimmsten Fall sollte, wenn für kurze Zeit Militärschutz benötigt wird, eine International Security Assistance Force ausschließlich von Staaten aufgestellt werden, denen das Land nahe steht, wie den Blockfreien und den islamischen Staaten. Damit wäre auch den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen, denn Afghanistan wäre dann nicht von "ungläubigen Christen" und dem "großen Satan" besetzt. Schließlich sollte eine nationale Versöhnung - möglicherweise nach dem Muster Südafrikas - eingeleitet und ein "Marshallplan" für den Wiederaufbau des Landes ausgearbeitet werden.

"Der Einsatz am Hindukusch dauert jetzt schon so lange wie der Zweite Weltkrieg, ohne dass ein Ende absehbar ist. Eine ehrliche Debatte über den nötigen Strategiewechsel, die gewünschten Ziele und ein vernünftiges Ausstiegsszenario ist deshalb überfällig." Mit "Durchhalte-" und "Kurshalte"-Parolen sowie noch mehr Militär, wie der UN-Sonderbeauftragte für Afghanistan, Tom Koenigs, verlangt, wird es in Afghanistan jedenfalls kein Nation-building geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Robert M. Gates, From the shadows, New York 1996, S. 146.

  2. Vgl. Les Révélations d'un Ancien Conseiller de Carter, "Oui, la CIA est entrée en Afghanistan avant les Russes...", in: Le Nouvel Observateur vom 21.1. 1998, S. 76.

  3. Vgl. Matin Baraki, Afghanistan nach "Petersberg", in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 47 (2002) 2, S. 147.

  4. Vgl. Karsai fordert Einigkeit und Opferbereitschaft, in: Frankfurter Rundschau (FR) vom 14. 6. 2002, S. 2.

  5. Vgl. Michael Pohly, Am Anfang war der Wahlbetrug, in: Bedrohte Völker-Pogrom, 218 (2003) 2, S. 8.

  6. Zit. in: Rolf Paasch, Stunde der Strippenzieher, in: FR vom 19. 6. 2002, S. 3.

  7. Vgl. Matin Baraki, Die Beziehungen zwischen Afghanistan und der Bundesrepublik Deutschland, 1945 - 1978, Frankfurt/M. 1996, S. XVII und 549.

  8. Vgl. Dorothea Hahn, Vergebliche Suche nach der "goldenen Brücke", in: die tageszeitung (taz) vom 3./4. 11. 2001. Nach dem 11. September hat der Stellvertreter des damaligen US-Außenministers Colin Powell, Richard Armitage, dem pakistanischen Geheimdienstchef gedroht, sein Land "in die Steinzeit zurückzubomben", sollte die Regierung in Islamabad nicht mit den USA zusammenarbeiten. Vgl. Matthias Rüb, Karzai und Musharraf streiten weiter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 28. 9. 2006, S. 9.

  9. Vgl. Hans Leyendecker, Ich habe es versucht, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 25. 9. 2006, S. 2; Uwe Schmitt, Bush veröffentlicht Teile des Geheimberichtes über Terror, in: Die Welt vom 28. 9. 2006, S. 7.

  10. Diese "Theorie" wird beispielsweise von den Professoren Ulrich Menzel von der TU Braunschweig und Franz Nuscheler von der Universität Duisburg vertreten.

  11. Erste Milliardenprojekte für Afghanistan, in: Handelsblatt vom 31. 3. 2004, S. 6.

  12. Vgl. NZZ online vom 14. 6. 2003.

  13. Vgl. Christine Möllhoff, Westen hat in Afghanistan versagt, in: FR vom 14. 9. 2006, S. 6.

  14. Ebd.

  15. Ebd.

  16. Vgl. Spiegel online vom 31. 5. 2006.

  17. Vgl. Die Irakisierung Afghanistans, in: SZ vom 20. 7. 2007, S. 4.

  18. Vgl. 2006 deutlich mehr Terroranschläge, in: FAZ vom 2. 5. 2007, S. 2.

  19. Mehr Einfluss für Europa am Hindukusch, in: taz vom 29. 6. 2007, S. 12.

  20. Majid Sattar, Die Irakisierung Afghanistans, in: FAZ vom 14. 7. 2007, S. 10.

  21. Verbatim, in: Time vom 9. 7. 2007, S. 12.

  22. Vgl. Christian Neef, Das goldene Ei, in: Der Spiegel vom 14. 5. 2007, S. 116 - 119.

  23. Jochen-Martin Gutsch, Der Missionar des Westens, in: Der Spiegel vom 9. 7. 2007, S. 62.

  24. Vgl. M. Baraki (Anm. 7), S. 525 - 548.

  25. Deutschland beteiligt sich mit bis zu 60 Polizeiberaterinnen und -beratern an der EU-Polizeimission in Afghanistan, Auswärtiges Amt-online vom 6. 6. 2007.

  26. Friederike Böge, Polizisten mit paramilitärischen Kenntnissen. Irakische Verhältnisse in Afghanistan, in: FAZ vom 4. 8. 2007, S. 2.

  27. Ebd.

  28. Vgl. EU-Polizeimission für Afghanistan beginnt, in: FAZ vom 31. 5. 2007, S. 5.

  29. F. Böge (Anm. 26).

  30. Ebd.

  31. Martin Winter, EU schickt 160 Polizisten, in: SZ vom 30. 5. 2007, S. 8.

  32. F. Böge (Anm. 26).

  33. Ebd.

  34. Karen Fischer, Afghanistan kommt nicht zur Ruhe, in: Hintergrund Politik, Deutschlandfunk vom 26. 6. 2006, 18:40 Uhr.

  35. Astrid Wirtz, Straßen in Kabul wieder kaputt, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 25. 6. 2003, S. 5.

  36. Nikolas Busse, Böse Blicke, in: FAZ vom 4. 6. 2005, S. 3.

  37. Vgl. Klaus J. Lampe, Brot statt Opium, in: FAZ vom 4. 4. 2007, S. 8.

  38. Reden über Afghanistan, in: SZ vom 14./15. 7. 2007, S. 4.

Dr. phil., geb. 1947; Lehraufträge für internationale Politik an den Universitäten Marburg, Gießen und Kassel; Mitglied des Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg, Institut für Politikwissenschaften, Wilhelm-Röpke-Str. 6, 35032 Marburg.
E-Mail: E-Mail Link: baraki@staff.uni-marburg.de