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Die EU bedarf der Reformen | Europa | bpb.de

Europa Editorial 50 Jahre Römische Verträge Was wird aus dem EU-Verfassungsvertrag? Die EU bedarf der Reformen Die EU zwischen Legitimität und Effektivität Dimensionen einer neuen Ostpolitik der EU Die Koordination der deutschen Europapolitik

Die EU bedarf der Reformen

Frank R. Pfetsch

/ 15 Minuten zu lesen

Die EU steht an einem Scheideweg: Die Institutionen, ursprünglich für sechs Mitgliedstaaten konzipiert, müssen nach der Erweiterung um beinahe das Fünffache in ihren Strukturen und Prozessen angepasst werden.

Einleitung

Die Europäische Union (EU) steht an einem Scheideweg ihrer Geschichte. Die Institutionen, die für sechs Mitgliedstaaten konzipiert worden sind, müssen nach der Erweiterung um beinahe das Fünffache in ihren Strukturen und Prozessen den neuen Realitäten angepasst werden. Die Regierungsfähigkeit steht ebenso auf dem Prüfstand wie das Gemeinschaftsempfinden, die Identität. Alternative Weichenstellungen werden sichtbar: Soll sich die Union zu einer Wirtschaftsunion rückentwickeln oder zu einer politischen Union ausgebaut werden? Soll das liberale oder das soziale Europa weiterentwickelt werden? Können politische Strukturen gefunden werden, die die Balance zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Organen der nationalen Regierungen halten, oder zerfällt das politische Integrationsprojekt in einen losen Staatenbund ähnlich dem Deutschen Bund des 19. Jahrhunderts oder gar in die mittelalterliche Dachkonstruktion des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation? Wie viele Kohäsionskräfte müssen am Werk sein, um die erwähnten Spannungen auszugleichen? Diese Fragen soll der vorliegende Beitrag aufgreifen und Lösungen anbieten.



Die neue Lage ist vor allem durch die rapide Erweiterung entstanden. Nach der ersten Erweiterung in den 1970er Jahren (Großbritannien, Dänemark, Irland), der zweiten in den 1980er Jahren (Griechenland, Portugal, Spanien) und der dritten Erweiterung in den 1990er Jahren (Schweden, Finnland, Österreich) sind am 1.Mai 2004 in der vierten Erweiterungsrunde zehn neue Staaten aus Osteuropa und dem Mittelmeerraum aufgenommen worden. Ab dem 1. Januar 2007 sind es mit Bulgarien und Rumänien 27 Mitgliedstaaten. Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurde Ende 2004 beschlossen. Die nächsten Kandidaten sind neben Kroatien die westlichen Balkanländer Makedonien, Serbien, Bosnien-Herzegowina und Albanien, so dass die Union auf über 30 Mitgliedsländer anwachsen würde.

Mit diesen Erweiterungen und künftigen Erweiterungsplänen stößt das europäische politische Projekt an seine Grenzen. Der Erweiterungsschub in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist nach Quantität und Qualität verschieden von allen Vorgängererweiterungen. Waren es in den Dekaden davor jeweils drei neue Staaten, die aufgenommen wurden, so waren es bei der vierten Erweiterungsdekade insgesamt zwölf. Das einschneidende politische Ereignis des Endes des Ost-Westkonfliktes hat die europäische Spaltung aufgehoben und den immensen Erweiterungsschub ermöglicht.

Das geltende Regelwerk der in Nizza getroffenen Vereinbarungen hat lediglich die Weichen für die Erweiterung gestellt. Handlungsfähiger wurde die Union durch die Beschlüsse von Nizza nicht. Welche Auswirkungen hat die Erweiterung auf die Vertiefung? Schließt die Erweiterung die Vertiefung aus? Wie steht es um die Bürgernähe (building up), wie um die Transparenz und regionale Anbindung (building down), wie schließlich um die transnationalen Transaktionen (building across)? Kann die Parallelität von Erweiterung und Vertiefung, welche die europäische Entwicklung bisher gekennzeichnet hat, aufrechterhalten werden, oder führt die Erweiterung zu einer Schwächung der EU?

Wenn es um das zu schaffende 'neue Europa' geht, so nicht um die historische Unterscheidung zwischen dem 'alten' und dem 'fortschrittlichen' Europa, die Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei vorgenommen haben und schon gar nicht um die historisch unpassende Unterscheidung zwischen dem 'alten' und dem 'neuen' Europa, die ein amerikanischer Verteidigungsminister anlässlich des Irakkrieges geäußert hat, sondern gemeint ist jenes Europa, das nach der Überwindung der Nachkriegsspaltung entstanden ist, d.h. nach der Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa sowie zum Mittelmeer. Diese Erweiterung sowie die mögliche Aufnahme der Türkei bedeuten einen qualitativen Sprung in der Entwicklung des politischen Projekts Europa. Die in Umfang und Reichweite historisch einmaligeAusdehnung des geographisch-politischen Raums stellt die innere Verfasstheit der Europäischen Union in ihren alten Strukturen in Frage, die Türkeifrage hat die Diskussion um die kulturelle Identität Europas entfacht undzur Neubestimmung der geopolitischen und geostrategischen Lage herausgefordert. Die neuen Herausforderungen an die innere Struktur der Union resultieren aus der durch die gewachsene Mitgliedstaatenzahl zustande gekommene Heterogenität, Komplexität und Differenzierung. Die Handlungsfähigkeit, das Selbstverständnis und die 'finalité' des 'alten' politisch verfassten Europas stehen somit auf dem Prüfstand. Weichenstellungen sind vorgezeigt: Entweder gelingt es der Europäischen Union, ihren Gemeinschaftsbestand als politische Union zu erhalten und auszubauen, oder sie wird sich zu einem losen ökonomischen Zweckverband von Staaten zurückentwickeln. Politische Gemeinschaft oder wirtschaftliche Freihandelszone scheint die vorgezeigte Alternative zu sein. Außenpolitisch bedeutet die letztere Möglichkeit, dass der Traum von einem 'zivilen Handelsstaat', einer 'sanften Weltmacht' oder eines 'kosmopolitischen Empires' ausgeträumt wäre, und die liberale ökonomische Ratio bestimmte die Gemeinschaft. Dies bedeutete sowohl den Abschied von dem sozialen oderkulturellen Projekt Europa als auch von dem Anspruch, Weltpolitik mitzubestimmen.

Die markantesten Defizite bestehen vor allem in der durch die Erweiterung hervorgerufenen verminderten internen und externen Handlungsfähigkeit, in der wirtschaftlichen und sozialen Unausgewogenheit sowie im Verlust identitärer Gemeinschaftsbindung. Die Handlungsfähigkeit ist nach organisationssoziologischen Erkenntnissen bei einem Gremium mit 15 noch gegeben. Die EU27 hat diese Größe längst überschritten. Die europäischen Gremien sollen sowohl repräsentativ als auch effizient sein; beides ist nicht immer vereinbar: Was auf vielen Füßen steht, steht zwar fester, aber die Bewegung wird schwerfälliger. Wirtschaftliche Zusammenschlüsse gedeihen dann am besten, wenn die Diskrepanz zwischen dem reichsten und dem ärmsten Land die Obergrenze von 5 : 1 nicht überschreitet. Beim Europa der 27 Mitgliedstaaten liegt die Diskrepanz bereits bei 8 : 1. Schließlich nehmen die zentrifugalen Kräfte bei zunehmender Mitgliederzahl zu, der Gemeinschaftsgeist schwindet, die ohnehin schon wenig entwickelte europäische Identität wird bei anhaltender Erweiterungseuphorie geschwächt.

Es gibt Wege und Möglichkeiten, das EU- System handlungsfähiger, transparenter und ausgewogener zu machen: Erstens wäre die Verabschiedung des wie auch immer umgestalteten und auf das Wesentliche sich konzentrierenden Verfassungsvertrags angesagt. Die entstandene Diskrepanz zwischen Erweiterung und Vertiefung kann zweitens überwunden werden durch die Ausgestaltung des auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhenden europäischen Föderalismus eigener Art, drittens durch die symmetrische Gestaltung der wirtschaftlichen und der sozialen Union und schließlich viertens durch Weiterentwicklung der internen Flexibilisierung und externen Differenzierung.

Der Verfassungsvertrag

In der Konventsarbeit ist es gelungen, einen Verfassungsvertrag mit zwei Präambeln, 465 Artikeln, fünf Protokollen und drei Erklärungen zu erarbeiten. Von Gegnern einer Vollverfassung wurde verhindert, das Ergebnis als "Verfassung der Europäischen Union" zu bezeichnen; vielmehr bleibt es bei einem "Vertrag über eine Verfassung für Europa", einem "Verfassungsvertrag". Auch hier kommt der Doppelcharakter der Union zum Tragen, nämlich einerseits aus Einzelstaaten zu bestehen, die einen Vertrag wollen, und andererseits ein Gemeinschaftsprojekt zu verkörpern, das eine Verfassung erfordert. Die Präambel wird mit einem Zitat eingeleitet: "Die Verfassung, die wir haben ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist" - eine Aussage, die als Leichenrede des Perikles von Thukydides überliefert worden ist und die Union als Mehrheitsherrschaft definieren soll. Wie wird demokratische Mehrheitsherrschaft im europäischen Mehrebenensystem beschrieben? Zu den wichtigen Neuerungen zählen zweifellos die größere Handlungsfähigkeit (personalisierte Repräsentation durch Präsident und Außenminister, Flexibilitätsklausel, Reduktion der Kommissare, mehr Mehrheitsentscheide), größere Übersichtlichkeit (Abgrenzung der Kompetenzen) sowie die Stärkung demokratischer Rechte (mehr Rechte für das Parlament, Bürgerbegehren, Menschenrechtscharta).

In der Öffentlichkeit haben vor allem drei Themen die Verfassungsdebatte bestimmt: die weitere Ausgestaltung des europäischen Politiksystems, die Schwerpunktbildung in der Wirtschafts- und Sozialunion und die religiöse Verankerung im Vertrag. Welche Richtung hat sich schließlich durchgesetzt? In der Debatte zwischen Intergouvernementalisten und Integrationisten oder Föderalisten gibt es weder Gewinner noch Verlierer: Beide Seiten sind gestärkt worden. In der zweiten Debatte sind die Liberalen etwas im Vorteil geblieben, es ist weder zur Verankerung sozialer Rechte (z.B. Recht auf Arbeit, Mitbestimmung etc.) gekommen noch zur Stärkung der Zuständigkeit der Union in der Sozialpolitik. Die dritte Debatte hat einen eindeutigen Sieg der Säkularisten erbracht: Das Christentum oder der Verweis auf den christlichen Gott, wie es einige gefordert hatten, haben keine Aufnahme in den Verfassungstext gefunden. Stattdessen ist in der Präambel von den "kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen" die Rede. Der Verfassungsvertrag, der zu Beginn 2007 bereits von 18 Staaten angenommen worden ist, sollte in eine kürzere, überschaubare und nur die wichtigsten normativen und institutionellen Element enthaltende Fassung gebracht werden und so auch verabschiedet werden können.

Föderalisierung

Kulturelle Vielfalt nationaler Identitäten lässt sich nach außen am ehesten in einem multipolaren außenpolitischen Ambiente realisieren und nach innen in einem föderal organisierten Gemeinwesen. Zwar wird nach außen nach einem 'effektiven Multilateralismus' verlangt, aber nach innen in europäischen Arenen (Ministertreffen, Treffen der Staatschefs, akademische Kongresse etc.) hat der Föderalismus wenige Anhänger. Unkenntnis, Missverständnisse und Befürchtungen sind auf gegnerischer Seite zu beobachten. Aufklärung tut also Not, es bedarf einer Kampagne zugunsten des Föderalismus in Europa. Positive Wirkungen des Föderalismus liegen ganz allgemein formuliert darin, dass er Vielfalt in der Einheit fördert. Die Vielfalt der national gewachsenen Kulturen in Europa (im Gegensatz zum Föderalismus in den Vereinigten Staaten) soll in einem politischen Gebilde zusammengeführt werden und - wie schon die Klassiker der politischen Ideenlehre Montesquieu oder Rousseau konstatiert haben - die positiven Aspekte kleinerer Staaten (Überschaubarkeit, Freiheit, Selbstbestimmung) mit denen größerer Staaten (Verteidigung und Stärke nach außen) vereinen. Föderalismus ist somit ein Organisationsprinzip für ein territorial mehrstufig gegliedertes Gemeinwesen, in dem gleichberechtigte und relativ eigenständige Glieder zu einer übergreifenden Gesamtheit zusammengeschlossen werden. Die Gliedstaaten sind in einer zweiten Kammer einer zentralstaatlichen Organisation vertreten. Die nach diesem Prinzip geformte staatliche Ordnung ist ein Bundesstaat, der sowohl horizontale (zwischen den Gliedstaaten) als auch vertikale (zwischen Gliedstaaten und politischer Zentrale) Kooperationsformen kennt. Die Zuständigkeit der jeweiligen Gebietskörperschaften, bindende Entscheidungen für ihren jeweiligen Bereich zu treffen, können nach Politikfeldern oder/und nach Kompetenzarten (Gesetzgebung bzw. Vollzug der Gesetze) vorgenommen werden.

Als Kennzeichen des Föderalismus lassen sich nennen: die Freiwilligkeit, der Blick von den Gliedstaaten aus, das Prinzip der Gleichbehandlung der ihn bildenden Einheiten, das gewaltenteilige System mit nach dem Subsidiaritätsprinzip verteilten Kompetenzen auf verschiedene Gebietskörperschaften, die Bürgernähe sowie die Ermöglichung einer breiten Rekrutierung des politischen Personals; der Föderalismus ist im eigentlichen Sinne Kulturföderalismus. Nach diesen Kriterien ist die Europäische Union bereits ein Föderalismus besonderer Art. Es kann nachgewiesen werden, dass die Europäische Union schon wesentliche Merkmale eines föderalen Systems besitzt (Mehrebenensystem, Subsidiarität, Mechanismen zum Ausgleich von Unterschieden, Sicherung kultureller Eigenständigkeit, Gewaltenteilung, Rekrutierungsvielfalt des politischen Personals etc.). Naturgemäß gibt es auch Nachteile föderaler Ordnungen. Genannt werden die Schwerfälligkeit und Langatmigkeit der Willenbildungs- und Entscheidungsprozesse, die durch die Beteiligung vieler zustande kommt. Auch gegenseitige Blockaden können Entscheidungen behindern oder lahm legen. Die Harmonisierungsbestrebungen durch Ausgleichsmechanismen können den Wettbewerb einschränken und Leistungsanreize mindern. Kurz gesagt: Es steht das Prinzip der Partizipation gegen das Prinzip der Effizienz.

Symmetrie von Wirtschafts- und Sozialunion

Europa hat de facto als wirtschaftliches Projekt angefangen, auch wenn in der Intention der führenden Politiker der politische Zusammenschluss zur Friedenserhaltung im Vordergrund stand. Es war ein politisches Projekt, das als Wirtschaftsprojekt begonnen wurde. Der wirtschaftliche Zusammenschluss der zerstörten Länder des europäischen Kontinents war die Erfolgsstrategie, die die amerikanische Führungsmacht praktizierte und die zur ersten transatlantischen Organisation, der "Organization for European Economic Cooperation, OEEC", führte; und dies durchaus mit der Fernerwartung, dass sich daraus auch die politische Stabilisierung einstellen würde. Die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes ohne Grenzen ist seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1951) und den Römischen Verträgen (1957) Kernbestand und Motor der europäischen Integration. Dabei handelt es sich bekanntlich nicht nur um eine Freihandels-, sondern auch um eine Zollunion mit Liberalisierung nach innen und einem gemeinsamen Zolltarif nach außen. Die Verwirklichung ist in den 1960er Jahren nach den vorgesehenen Etappen erfolgt, wurde aber durch die weltwirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre retardiert. Der so genannte Werner-Plan aus dem Jahre 1969 zur Schaffung einer Wirtschaftsunion, dessen Vollendung am Ende dernachfolgenden Dekade erfolgen sollte, konnte nicht realisiert werden und wurde erst in den 1980er Jahren mit der Einheitlichen Europäischen Akte (1986) wieder aufgenommen und schließlich mit dem Maastrichter Vertrag (1992) und der Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion in den 1990er Jahren Realität.

Die Europäische Zentralbank (EZB), die weitgehend nach dem Modell der deutschen Bundesbank statuiert worden ist, soll als unabhängige Instanz für die Einhaltung der Preisstabilität sorgen. Wie schon bei der deutschen Bundesbank steht auch die EZB in ihrer Unabhängigkeit im Spannungsfeld zwischen den Vorgaben der Preisstabilität und den Notwendigkeiten der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Diesbezüglich gibt es zwischen den Mitgliedstaaten unterschiedliche Schwerpunktsetzungen: Die einen legen mehr Wert auf Preisstabilität und damit auf Unabhängigkeit der Zentralbank von politischen Instanzen (z.B. Deutschland), andere legen den Akzent auf wirtschaftliches Wachstum und damit auf die Einbindung geld- und währungspolitischer Entscheidungen in das Gesamtgefügeder Wirtschaftspolitik (z.B. Frankreich). Auch das Verständnis von Kapitalismus stößt in den Mitgliedstaaten der Union auf unterschiedliche Interpretation und praktizierte Realität. Länderübergreifend haben sich als verschiedene Ausprägungen des Kapitalismus die Begriffe "Rheinischer Kapitalismus" bzw. "Liberaler Kapitalismus" durchgesetzt. Dabei meint "Rheinischer Kapitalismus" einen sozial abgefederten Kapitalismus, der u.a. von der katholischen Soziallehre mitgeprägt worden ist; der "Liberale Kapitalismus" betont dagegen stärker das freie Unternehmertum mit geringerer sozialer Verpflichtung. Die Symbiose beider hat in der Bundesrepublik bekanntlich zur sozialen Marktwirtschaft geführt.

Komplementär zum europäischen Wirtschaftsmodell bedarf es eines europäischen Sozialmodells. Und dies aus Gründen asymmetrisch sich entwickelnder Prozesse: Während das liberale, auf mehr Wettbewerb ausgerichtete Industriestaatenmodell neben Wohlstand für viele auch Notstand für wenige gebracht hat - und dies durch Prozesse der Globalisierung noch verstärkt wird -, bleibt die Last der sozialen Abfederung bei den Mitgliedstaaten hängen mit der Überlastung der Sozialhaushalte als Folge. Die "Mitbetreiberin" dieser sozialen Schieflage, die Europäische Union selbst, bleibt dabei weitgehend unberücksichtigt und hat in diesem Bereich wenige Kompetenzen. Zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Wirtschafts- und Sozialunion bedarf es der symmetrischen Weiterentwicklung und Ergänzung.

Das europäische Sozialmodell wird in der öffentlichen Diskussion sehr oft als das Markenzeichen Europas in Abgrenzung zu dem US-amerikanischen liberalen Wirtschaftsmodell betont. In Europa wird der sozialen Komponente mehr Rechnung getragen als im unternehmerischen Nordamerika. Mitbeteiligung oder Mitbestimmung der Arbeiterschaft, Schutz vor kurzfristiger Kündigung, soziale Abfederung bei Arbeitslosigkeit, diese Errungenschaften der organisierten Arbeiterschaft gehören zum europäischen Sozialmodell und sind im liberalen Laissez-faire-System Nordamerikas nicht zu finden. Zwar liegen die USA im Pro-Kopf-Einkommen im Schnitt höher als die EU-Länder, jedoch zeigen diese eine gleichmäßiger gestreute Einkommensverteilung, höhere Bildungs- und Sozialausgaben sowie bessere relative Armutsziffern.

In den Vertrags- bzw. Verfassungsdokumenten sind die normativen Elemente festgeschrieben. Der Amsterdamer Vertrag beispielsweise betont die "Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie dieHerbeiführung einer ausgewogenen undnachhaltigen Entwicklung, insbesondere durch Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen, durch Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts". Im Verfassungsvertrags heißt es: "Die Union strebt die nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums an, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt"; noch deutlicher ist der Text des Beschlusses des Europäischen Rats von Barcelona 2002: "Das europäische Sozialmodell stützt sich auf gute Wirtschaftsleistungen, ein hohes Sozialschutzniveau, einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand und sozialen Dialog." Diese Absichtserklärungen geben den normativen Gehalt dessen wieder, was als europäisches Sozialmodell' bezeichnet wird. Zu seiner Realisierung bedarf es eines größeren Engagements der Union. Die Lissabon-Strategie bleibt hinter solchen Erfordernissen zurück.

Interne Flexibilisierung und externe Differenzierung

Erweiterung und Vertiefung stehen in einem Spannungsverhältnis, das zwei politische Pole in Einklang zu bringen versucht: Effektivität und Partizipation. Während Partizipation auf das demokratische Prinzip der Teilhabe abhebt, meint Effektivität die Handlungsfähigkeit der Regierenden. Beide Prinzipien können sich widersprechen, und dieser Widerspruch ist durch die Erweiterung verstärkt worden. Die Erweiterung hat in der Tat zu einer Schwächung geführt: widening means weakening.

Die Effizienz eines politischen Systems steht in einem Spannungsverhältnis zur Partizipation. Systeme mit einer geringen Zahl von Beteiligten an Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren sind 'effizienter' als Systeme mit vielen Akteuren, indem sie 'schneller' zu Entscheidungen finden und zeitökonomischer arbeiten. Allerdings kann dies nur eine kurzsichtige Betrachtung sein, denn die Haltbarkeit solcher Elitenentscheidungen kann begrenzt sein. Entscheidungsprozesse mit breiter Beteiligung - wie in demokratischen Systemen üblich - tendieren eher zu dauerhaften Lösungen.

Interne Flexibilisierung: Die offene Methode der Koordinierung. Im März 2000 hat der Europäische Rat die so genannte Lissabon-Strategie verabschiedet. Diese meint neben den Innovations- und Wachstumszielen eine neue Form des Regierens in einem Politiksystem, das durch die gewachsene Mitgliederzahl zu Entscheidungsblockaden getrieben werden kann. Eine "soft policy coordination" soll die Steuerung durch supranationale förmliche Beschlüsse bzw. durch intergouvernementale Koordination ergänzen und somit Beschlüsse in selektiv ausgewählten Politikbereichen ermöglichen. Sie ist somit zwischen zentraler Steuerung und dezentraler Koordination angesiedelt und soll flexibel und effizient Beschlüsse ermöglichen. Dies ist eine Variante der Willensbildungs- und Entscheidungsfindung in Netzwerken bzw. der in der Flexibilitätsklausel anvisierten selektiven Bearbeitung von Politikmaterien. Angewandt wurde die offene Methode bisher in Politikfeldern, in denen der EG-Vertrag keine (wie z.B. in der Jugendpolitik) oder nur eine schwache Kompetenz vorsieht (wie in der Beschäftigungspolitik, der Altersicherung oder der sozialen Sicherheit). Bei der Migrationspolitik kam es nur im Bereich der Visa-, der Asyl- und der Flüchtlingspolitik zur Koordination, nicht aber bei der Integrationspolitik und beim Staatsangehörigkeitsrecht.

Externe Differenzierung: Die Konzepte der 'verstärkten Zusammenarbeit' (auch Flexibilisierung' genannt) und der 'differenzierten Erweiterung' sind Antworten auf die Regierbarkeit der größer gewordenen Union. Schon der Amsterdamer Vertrag sieht die Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit vor mitder Absicht, Mitgliedstaaten in die Lage zu versetzen, in bestimmten Politikbereichen schneller voranzuschreiten als andere. Verstärkte Zusammenarbeit muss nach vorne gerichtet sein, darf die Verträge nicht aushöhlen und den Wettbewerb im gemeinsamen Markt nicht beeinträchtigen; die Ziele der Union und das einheitliche institutionelle Gerüst dürfen nicht in Frage gestellt werden. Auch die Praxis der Mehrheitsentscheide kann dem Ziel verstärkter Zusammenarbeit dienen. Das Vetorecht einzelner Staaten müsse durch echte Mehrheitsentscheide korrigiert werden. Die intergouvernementale Konferenz solle untersuchen, ob flexible Lösungen auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik gefunden werden können. Die Idee der verstärkten Zusammenarbeit wurde in Art. 43 (1) des Verfassungsvertrags aufgenommen, wo es heißt: "Die Mitglieder, die untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeit der Union begründen wollen", können dies im Rahmen der Verfassungsbestimmungen tun. Art. 17 formuliert darüber hinaus: "Erscheint ein Tätigwerden der Union ... erforderlich, um eines der Ziele der Verfassung zu verwirklichen, ... so erlässt der Ministerrat ... die geeigneten Maßnahmen."

Das Konzept der differenzierten Erweiterung ist bereits in den 1970er Jahren Thema gewesen. In den 1990er Jahren wurde ein Kriterienkatalog von Aufnahmebedingungen verabschiedet. Da der Begriff 'Europa' und damit die Frage nach den Grenzen nach Osten und Südosten auch historisch unbestimmt geblieben ist, mussten Standards der Aufnahme erarbeitet werden. Es gibt weder historisch, topographisch, geopolitisch, kulturell, religiös noch ideologisch klare Vorgaben dafür, wo die Grenze zum asiatischen Kontinent zu ziehen ist. Zwar dokumentieren z.B. architektonische Stile die Reichweite 'europäischen' Einflusses; diese sind jedoch nach Stilarten sehr verschieden. Um das sensible Thema religiöser Grenzziehung (" christliches Abendland") und ökonomischer Abschottung ("Bollwerk Europa") zu umgehen, könnten die Metaphern 'Leuchtturm' oder 'Epizentrum' weiterhelfen. Um zu Europa zu gehören, ist es nicht notwendig, in das Institutionensystem integriert zu werden; es gibt eine große Bandbreite differenzierter Anbindungen an das EU-System in Form von Assoziationen, Kooperationen, Abkommen etc., die Ausstrahlung ermöglichen, ohne Ausschließung zu bedeuten. Für die Weiterentwicklung stehen verschiedene Konzepte zur Verfügung wie 'Kerneuropa', 'Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten', 'Europa der abgestuften Integration', 'Europa à la carte', 'Europa der konzentrischen Kreise', 'Europa à géometrie variable', Europa als Schiff, als Geleitzug, als Regatta oder die Strategie der Flexibilisierung.

Solche differenzierten Muster gibt es sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union. Die Wirtschafts- und Währungsunion mit heute (2007) 13 Mitgliedstaaten, das Schengener Abkommen (1985) mit 13 Staaten oder die Sozialcharta mit ursprünglich (1989) 14 Mitgliedstaaten entsprechen dem Prinzip der verstärkten Zusammenarbeit (Art. 43 des Verfassungsentwurfs), weil nicht alle Mitgliedstaaten diesen Vereinigungsabkommen beigetreten sind. Andererseits gibt es Bereiche, in denen die EU gemeinsame Netzwerke aufbauen konnte, wie etwa auf dem Gebiet der Kultur und universitären Ausbildung. Die Jean-Monnet-Lehrstühle innerhalb Europas sowie auf allen Kontinenten können als Beispiele für grenzüberschreitende, die Zugehörigkeit dokumentierende abgestufte Anbindungen gelten. Außerhalb der Union existieren vielfältige Formen der Kooperation mit Staaten und Staatengruppen auf allen Kontinenten. Die Türkei sollte eine solche differenzierte Anbindung erhalten.

Zusammenfassend halte ich fest: Den die vor allem durch die immense Erweiterung zustande gekommenen Defiziten in der inneren und äußeren Handlungsfähigkeit, der wirtschaftlichen und sozialen Unausgewogenheit und den demokratischen und identitätsstiftenden Erfordernissen kann begegnet werden durch die Verabschiedung eines dieHandlungsfähigkeit verstärkenden Verfassungsvertrags, den weiteren Ausbau des subsidiären Föderalismus, den Ausbau der Sozialunion im Sinne der sozialen Marktwirtschaft sowie der Weiterentwicklung interner Flexibilisierung und externer Differenzierung.

Dr. phil., Dipl.-Volkswirt, geb. 1936; Prof. em. Politikwissenschaft, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Marstallstr.6, 69117 Heidelberg.
E-Mail: E-Mail Link: Frank.Pfetsch@urz.uni-heidelberg.de.