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Die populäre Religion und die Transformation der Gesellschaft

Hubert Knoblauch

/ 15 Minuten zu lesen

Die Religion nimmt einerseits Formen der populären Kultur an und verlagert andererseits ihre Themen auf das Subjekt als "Spiritualität". Ursachen dafür sind die Aufwertung des Wissens, die veränderte Stellung der Frauen und veränderte Kommunikationsstrukturen.

Einleitung

Der Titel "populäre Religion" trägt eine Doppeldeutigkeit, die durchaus beabsichtigt ist. "Popularität" weist einmal auf die öffentliche Beliebtheit der Religion hin. "Beliebtheit" ist zwar schwer zu messen, es ist aber kaum zu übersehen, dass die Religion in jüngerer Zeit auf ein rasant gestiegenes Interesse stößt. Allerdings bewegt sich dieses Interesse keineswegs in den herkömmlichen Bahnen der kirchlichen Religiosität. Auch wenn man die Kirchen als bedeutendste Trägerinnen der Religion nicht kleinreden sollte, so richtet sich doch das gewachsene Interesse viel stärker auf diejenigen Aspekte der Religion, die eher am Rande, ja außerhalb der etablierten Großkirchen liegen.


Daher ist auch keine Trendwende in der Kirchlichkeit der Bevölkerung zu beobachten. Dies gibt einen Hinweis auf den zweiten Aspekt der Popularität: Die erfolgreichen Formen der Religion sind zugleich Formen einer popularisierten Religion. Die Popularisierung bedeutet nämlich keineswegs nur eine Ergänzung der Religion, sondern deutet auf eine massive Transformation hin, die sich subjektiv in einer zunehmenden Bedeutung der Spiritualität äußert. Während ich die populäre Religion und die wachsende Spiritualität hier nur kurz skizzieren kann, möchte ich einen Versuch unternehmen, die Transformation der Religion als Ergebnis der gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu beschreiben.

Veränderungen der Religion

Wer die öffentliche Diskussion über Religion seit längerer Zeit verfolgt, wird die immense Aufmerksamkeitsverschiebung kaum übersehen können. Spätestens seit dem 11. September 2001 gilt Religion wieder als etwas, das ernst genommen werden muss. Gerade in Deutschland hat dies zu einer regelrechten Kehrtwende geführt, wurde hier doch spätestens seit den 1970er Jahren die Religion als ein Auslaufmodell betrachtet, und zwar nicht nur in der akademischen Diskussion, sondern auch in der öffentlichen Debatte und innerhalb der Kirchen selbst. Lange herrschte etwa in der Soziologie das "Säkularisierungsparadigma" vor, das davon ausging, die Religion sei eine gleichsam vormoderne Form der Rationalität, die mit der zunehmenden Modernisierung absterbe. Auch im Journalismus wandte man sich den interessanteren neuen Formen des Religiösen außerhalb der Kirchen zu, denen lediglich der stetige Niedergang attestiert wurde. In kirchlichen Akademien und kirchlichen Medien dominiert ebenfalls die Rede von der "Krise" der Kirchen.

Diese Krise scheint nun spätestens seit "wir Papst sind" vorbei zu sein. Die Religion, vor kurzem noch zu wachsender Unsichtbarkeit verdammt, wird in einer ganz neuen Weise öffentlich sichtbar. Sie tönt aus allen Kanälen, die Buchläden sind ebenso voll von ihr wie das Fernsehen und das Internet: Im Jahr 2004 erhielt der Suchbegriff "Religion" bei Altavista 105 Millionen Treffer, nachdem es 1999 noch 1,8 Millionen Treffer waren. 2008 waren es bei Google mehr als 492 Millionen. Zwischen 1999 und 2004 stieg die Zahl der christlichen Webseiten von 610 000 auf 9,1 Millionen; die Zahl der kirchlichen Webseiten von 7 auf 65 Millionen.

Allerdings steht diese neue öffentliche Sichtbarkeit der Religion in einem scharfen Widerspruch zur inneren Situation der Kirchen. Zwar sind zur Zeit noch immer etwa 70 Prozent der Menschen in unserem Lande Mitglied einer Kirche oder religiösen Vereinigung, davon etwa 30 Prozent der katholischen Kirche und 30 Prozent der evangelischen Landeskirchen. Doch die Zahlen zur Kirchenmitgliedschaft tendieren nach wie vor nach unten, und das gilt auch für andere Indikatoren der kirchlichen Religiosität: Die Anzahl der Menschen, die an die Grundlehren der christlichen Kirchen glauben, nimmt eben so ab wie die Anzahl derer, die ihre ethischen Vorschriften befolgen. Und diese Abnahme der kirchlichen Religiosität wird auch nicht von kleineren Kirchen aufgefangen, die lediglich drei Prozent der Bevölkerung umfassen. Eine deutliche Zunahme verzeichnen lediglich die Muslime, die vier Prozent der Bevölkerung ausmachen.

Diese abnehmende Entwicklung der kirchlichen Religiosität wird von einigen Beobachtern noch immer als Ausdruck einer fortgesetzten "Säkularisierung" angesehen. Das Modell der Säkularisierung wird jedoch den Veränderungen der öffentlichen Sichtbarkeit der Religion in keiner Weise gerecht. Deswegen hat die These des spanischen Religionssoziologen José Casanova großen Anklang gefunden, der von einer "öffentlichen Religion" ("public religion") spricht. Die Religion habe ihre Verdrängung in die Privatsphäre überwunden, die ihr von der modernen Gesellschaft auferlegt worden sei. Sie habe sich als eine öffentliche Kraft und als eine vernehmbare Stimme im Chor der zivilgesellschaftlichen Institutionen etabliert, um sich dort "an den fortlaufenden Auseinandersetzungen, diskursiven Rechtfertigungen und neuen Grenzziehungen zu beteiligen".

So richtig Casanovas Beobachtung ist, dass die Kirchen als institutionelle Akteure auch in der modernen Gesellschaft relevant bleiben, so zweifelhaft ist die Ansicht, dass sich die Rolle der kirchlichen Akteure in den letzten Jahrzehnten deutlich geändert habe. Zwar wird die Krise der Kirchen in der Öffentlichkeit kommuniziert, aber die Kirchen treten wenigstens in der Bundesrepublik weiterhin als "zivilgesellschaftliche Akteure" auf - eine Rolle, die sie so konstant erfüllen, dass es geradezu verwegen erschiene, die jüngeren Veränderungen der Religion auf die öffentliche Rolle der Kirchen zurückzuführen.

Die Popularisierung und die Spiritualisierung der Religion

Betrachtet man die Kommunikation nicht nur als "Informationsübermittlung", sondern als gestaltende Form sozialen Handelns, dann darf man die wachsende öffentliche Sichtbarkeit der Religion auch nicht nur als "Indikator" für etwas anderes ansehen, sondern muss sie selbst als Teil eines neuen Phänomens anerkennen: das der Popularisierung der Religion bzw. der "populären Religion. Mit dem Begriff der populären Religion möchte ich der einseitigen Vorstellung vorbeugen, dass Religion lediglich in dem bestehe, was von den Kirchen hoheitlich verwaltet und kraft ihrer Autorität in gegebenenfalls populärer Form vermittelt werden kann. Die populäre Religion umfasst auch zahlreiche Gehalte und Formen, über die weder die Kirchen noch andere religiöse Institutionen verfügen. Mit "populärer Religion" meine ich aber auch nicht nur eine "Pop-Religion", wie sie etwa in der Aufnahme religiöser Symbole in der Popmusik oder im Film zum Ausdruck kommt. Im Rahmen der globalen Ausweitung der Kommunikation können verschiedenste religiöse Symbole und Inhalte aus ihrem angestammten kulturellen Kontext entnommen, in einen anderen transportiert und dort rezipiert werden.

Die populäre Religion umfasst unter anderem die erneuerten Formen dessen, was einst Aberglauben hieß, die nun als Ufo-Glaube, Reinkarnationsglaube, als Spiritismus oder als esoterischer Glaube an die magische Kraft von Steinen oder Pyramiden ein breites Interesse genießen. Sie beschränkt sich aber keineswegs auf diese einst abweichenden Formen des Religiösen. Die populäre Religion findet sich ebenso in den Räumen der kirchlichen Religiosität: Das reicht vom Engelsglauben über die Eventisierung der religiösen Zeremonie beim Papstbesuch und bei den Weltjugendtagen bis hin zur Aufnahme der Gegenkultur bei den Jesus Freaks. All diese Beispiele deuten an, in welchem Ausmaß Formen der religiösen Kommunikation von denen der populären Kultur durchdrungen werden.

Diese Durchdringung weist auf eine entscheidende Veränderung der modernen "öffentlich sichtbaren" Religion hin: die Aufhebung der Grenzen zwischen dem Religiösen und dem Nichtreligiösen - also die Entgrenzung der religiösen Kommunikation. Im Zuge dieser Entgrenzung nehmen kirchliche und andere religiöse Organisationen kommunikative Formen auf, die in der populären Kultur geschaffen und verbreitet wurden. Dazu zählt nicht nur der "Sakropop", die religiöse Popmusik, sondern darunter fallen auch andere Gattungen der populären Musik, die sich - nach gewissen Akkulturationsproblemen - im religiösen Bereich etabliert haben. Dasselbe gilt für Show- und andere Performanzformate, und zwar nicht nur in der rein medialen Kommunikation, sondern auch in lokalen Veranstaltungen, "Events" und "Shows", wie etwa den kreationistischen Themenparks in den USA, die Disneyland nachempfunden sind. Andererseits sind auch Formate der religiösen Kommunikation aus dem religiösen Bereich ausgewandert, wie sich etwa an der Aufnahme protestantischer Bekenntnisformen in der Anonymen-Bewegung, den Ritualen von Sportfans und natürlich den Subkulturen der populären Musik zeigt - von "Punk" über "Fernsehhochzeiten" und massenmediale Bekenntnisrituale bis zu den "Priestern des Techno". Die Entgrenzung wird daran deutlich, dass es mittlerweile zahlreiche Kulturelemente gibt, die keiner Seite mehr zugeordnet werden können - von den singenden Mönchen bei "Wetten, dass ...?" über die Buddhas bei Bayern München bis zum spirituellen Goa-Techno oder dem okkultistischen Gothic.

Die vorgenannten Beispiele markieren eine erste Dimension religiöser Entgrenzung. Weil es sich hier lediglich um eine bloße Aufnahme von Formen und Symbolen handelt, könnte man es für ein postmodernes Oberflächenphänomen halten. Die religiöse Tiefe der Entgrenzung macht aber ein Blick auf die zweite Dimension der Entgrenzung deutlich: Neben den Formen "wandern" auch die typischen religiösen Inhalte, Themen und Topoi aus dem "heiligen Kosmos" aus. In einer christlichen Kultur lässt sich das am besten mit Blick auf ein Kernthema des Christentums fassen: den Tod. Während sich die Kirchen unter dem Einfluss der Aufklärung immer mehr von der Deutung des Todes und einer breiten Ritualisierung zurückgezogen haben, entwickelt sich eine Kultur des Todes, die eigene Rituale, Erfahrungsformen und Deutungen des Todes hervorbringt. Von Waldfriedhöfen über Nahtoderfahrungen bis hin zur Reinkarnation beobachten wir eine regelrechte "Revolution des Todes". Diese neue populäre Kultur des Todes findet jedoch zu einem guten Teil außerhalb der Kirchen in den Medien und Kommunikationsformen der populären Kultur statt. Ihre Hohepriester sind Laien, Populärwissenschaftler(innen) und vor allem die Betroffenen selbst, deren Wissen über Ratgeberliteratur, Fernsehjournale, Boulevardblätter und über die verschiedenen Formate des Internets sowie die natürlich weiterhin bedeutsamen unmittelbaren Kommunikationsweisen wie die mündlichen Gespräche ausgetauscht werden.

Die Auswanderung der Themen aus dem heiligen Kosmos` bezieht sich sogar auf die Religion selbst. So zeigen Umfragen (wie der jüngst veröffentlichte "Religionsmonitor"), dass sich die Grenzen zur Religion auch im Selbstverständnis der Menschen verändern. Viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaften bezeichnen sich heute als "spirituell", und zwar nicht selten durchaus im Kontrast zu den "Religiösen". Doch auch hier beobachten wir dieselbe Entgrenzung: Denn außerkirchliche Formen des Religiösen (wie etwa den Glauben an die Reinkarnation oder magische Handlungsformen) finden wir auch bei den Mitgliedern der kirchlichen Religiosität - und zwar selbst bei den religiösen Experten in den Kirchen und Klöstern.

Man kann diese Entgrenzung noch klarer bestimmen, wenn man sich auf besondere Merkmale konzentriert, wie etwa auf die für die Religion klassische Erfahrung der Transzendenz. Diese Erfahrung ist so etwas Herausgehobenes und "Spirituelles", dass sie vielfach als Besonderheit der "religiös Musikalischen", der Mystiker und Propheten gilt. Blicken wir daher auf die Ergebnisse einer weltweit vergleichenden Umfrage von über 21 000 Menschen, die auch nach besonderen "religiösen Erfahrungen" befragt wurden. Selbst wenn diese nach "theistischen" Erfahrungen, die auf eine personalisierte Gottheit bezogen sind, und pantheistischen Erfahrungen, die eher mystisch-apersonale Bezüge hat, unterschieden werden, macht man doch eine geradezu sensationelle Beobachtung: Im Durchschnitt geben etwa 75 Prozent der Befragten an, mindestens eine theistische Erfahrung gemacht zu haben (in Deutschland immerhin fast 68 Prozent). Und auch die Zahlen für die pantheistischen Erfahrungen fallen entsprechend hoch aus: In allen der aufgeführten Gesellschaften macht ein Großteil, in vielen sogar die deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine pantheistische Erfahrung - in Deutschland sind es über 76 Prozent. Neben der beeindruckenden Zahl an Menschen, die bereit sind, dies in Interviews anzugeben, ist der geringe Einfluss der Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft in Kirchen für die These der Entgrenzung von Bedeutung: Zwar ist die Anzahl der Menschen, die sich als nichtreligiös einschätzen und die gleichwohl eine theistische Erfahrung beanspruchen, in der Tat gering, doch gibt es eine erstaunlich große Zahl an Personen, die als "nicht-religiös" gelten und doch Erfahrungen machen, die wir deswegen besser als "spirituell" bezeichnen. Das wird auch durch die Beobachtung gestützt, dass viele der kirchlichen Religiösen eine vermeintlich dem christlichen Glauben wenig entsprechende pantheistische Erfahrung machen. Deutlich wird daran zum einen die Überschreitung der Grenzen, aber auch die enorme Bedeutung und offensichtliche "Popularität" der "religiösen" subjektiven Erfahrung.

Diese Subjektivität muss keineswegs innerlich und passiv bleiben; sie kann sich auch in Handlungen äußern (etwa in der Meditation, deren grenzüberschreitende Popularität von derselben Umfrage bestätigt wird), und sie findet einen höchst sichtbaren Ausdruck in der populären Religion, über die wir oben sprachen. Bisher sozial unsichtbare subjektive religiöse Erfahrungen, die einst nur von besonders ausdrucksstarken religiösen "Virtuosen" überliefert wurden, werden mittlerweile massenhaft in den unterschiedlichsten "Foren", "Blogs" oder "Communities" ausgebreitet: Engelserfahrungen, Trauerrituale oder digitales Totengedenken sind dort ebenso anzutreffen wie die ausführlichen Selbstdarstellungen der betroffenen Personen. Sie machen all das, was an Religion je privat und für die Forschung so schwer zugänglich war, für alle anderen leicht und öffentlich zugänglich. Man könnte sagen: Die populäre Religion ist die kulturelle Ausdrucksweise der neuen Spiritualität.

Die Entgrenzung der Religion führt also nicht nur zu einer "öffentlichen Religion"; wie die Subjektivierung der Religion in der Form der Spiritualität zeigt, hat sie eine Auflösung der Grenzen zwischen der Privatsphäre und der Religion zur Folge: Das Öffentliche steht nicht mehr im Kontrast zum Privaten, das Private kann vielmehr öffentlich und das Öffentliche privat sein. Diese Tendenz zur Entgrenzung von Privatsphäre und Öffentlichkeit liegt in der grundlegenden strukturellen Transformation der Kommunikation und damit natürlich auch der religiösen Kommunikation begründet: der Verlagerung von einer Form der Kommunikation, die auf zentral verwalteten Massenmedien beruht, zu einer Form der interaktiven Kommunikation. Diese Verlagerung führt zu einer Entmachtung der Institutionen, die über Inhalte verfügen - also auch der Kirchen. Sie verlieren zunehmend die einst weitgehend exklusive Macht über die Inhalte der religiösen Kommunikation. Während sich die neuen vermittelnden Institutionen auf die Bereitstellung von Infrastrukturen und Software-Verteilersystemen konzentrieren, die zumeist vorgeben, nicht in die Inhalte einzugreifen, werden die einstigen "Rezipienten" nun vollständig aktiviert. Sie "entscheiden" nicht nur als "Adressaten" über die Annahme oder Ablehnung von "Kommunikationen", sondern füllen sie selbst inhaltlich aus. Sie müssen nicht nur - und zwar im Wesentlichen als Einzelne - an der "Interaktion" teilnehmen, sie gestalten diese Kommunikation auch inhaltlich, indem sie von sich berichten, sich selbst darstellen und damit das Subjektive zum Gegenstand machen.

Dass es trotz dieser Subjektivierung nicht zu einer Individualisierung kommt (das heißt zu einer individualistischen und unüberschaubaren Vielfalt an Kommunikation und im Bereich der Religion zu einer vollkommenen Beliebigkeit von religiösen Formen und Inhalten), ist sicherlich dem Umstand zu verdanken, dass diese subjektiven Ausdrucksformen von den konventionellen populären Formen und Medien der religiösen Kommunikation (vom Gottesdienst bis zur gedruckten Bibel) überlagert werden, die bis tief in die ureigenste Erfahrung eine eigene Stereotypik entfalten. Daneben bemühen sich natürlich auch die Kirchen nach wie vor darum, diese "vagabundierende Religiosität" in geordnete Bahnen zu leiten. Ähnlich wie bei jedem "Marketing" geschieht dies mit einem Medienmix, der von religiös-kirchlichen Homepages oder Suchprogrammen über die Massenmedien bis hin zu lokal organisierten und auf die Medien abgestimmten "Events" reicht.

Die Popularisierung und Spiritualisierung der Religion führen keineswegs zur Ersetzung der gewohnten Kirchen und ihrer Organisation. Sie beziehen sich vielmehr auf die subjektive Religiosität der Menschen. Durch die aktive Beteiligung der Menschen an der Kommunikation wird diese Religiosität allerdings kulturell sichtbar, ein Vorgang, dem sich auch die Kirchen nicht entziehen können. Sie prägt die kirchliche Religiosität, findet sich aber auch weit außerhalb der Kirchen. Dass sie große Verbreitung gefunden hat, hängt wesentlich mit der Veränderung der Kommunikation zusammen, durch die sich auch die Grenzen von Privatem und Öffentlichem verschieben. Diese Veränderungen beschränken sich keineswegs nur auf die religiöse Kommunikation; sie sind Teil einer grundlegenden gesellschaftlichen Transformation. Abschließend möchte ich auf einige der Aspekte gesellschaftlicher Transformation hinweisen, die unmittelbar in Beziehung zur Transformation der Religion stehen.

Die Transformation der Religion und die Transformation der Gesellschaft

Weil die soziale Sichtbarkeit der Religion unmittelbar an ihre Kommunikation gebunden ist, können die jüngeren Veränderungen der Kommunikationstechnologien und die damit einhergehenden veränderten Strukturen des kommunikativen Handelns als bedeutendste Gründe der Transformation der Religion angesehen werden. Man kann dies nicht nur an der schon angedeuteten Auflösung der Grenzen von Privatheit und Öffentlichkeit festmachen. Die wachsenden Kommunikationsmöglichkeiten fördern auch die Globalisierung der Kommunikation. Gemeinsam mit der Migration insbesondere auch muslimischer Bevölkerungsgruppen führen sie nicht einfach zu einer Pluralisierung der (organisierten) Religion. Dem gerade in Deutschland auf die Frage der Gewalt und der (kirchen-artigen) "Organisation" des Islam verengten Blick entgehen die Tendenzen zur Popularisierung und Spiritualisierung des Islam. Die mit der technischen Vernetzung ermöglichte "Flachheit" der Kommunikation in den Organisationen der "Netzwerk-Gesellschaft" zeichnet nicht nur die postfordistischen Betriebe aus, sondern auch die dynamischen religiösen Bewegungen, die von der "elektronischen Kirche" und den charismatischen Netzwerken bis hin zu dem führt, was einst als "New Age" bezeichnet wurde.

Dass das "New Age" den Netzwerk-Gedanken ausgebildet und ihrerseits global verbreitet hat, bevor es die ersten funktionierenden elektronischen Netzwerke gab, weist bereits darauf hin, dass die Transformation der Religion schon lange vor dem 11. September 2001 begann. Während dieser Termin mehr als Wecksignal für die bislang religionskritische Öffentlichkeit wirkte, ist ihre Bereitschaft, sich überhaupt mit Religion zu beschäftigen, sicherlich mit dem Ende des Kalten Krieges und der folgenden Krise der politischen Ideologien verbunden. Das "Ende der Ideologien" nach 1989 bereitete besonders in den sich modernisierenden Gesellschaften große Probleme für die Plausibilität der sozialistischen Utopien. Dass sich deswegen viele ehemals politisch-ideologische Aktivisten vom Irak bis nach Brasilien dem Islam oder dem Christentum zuwandten, ist übrigens gerade kein Beleg für die "Unersetzbarkeit der Religion", sondern im Gegenteil gerade dafür, dass die Religion und die politischen Ideologien doch sehr ähnliche Funktionen erfüllten. Die Krise des Kapitalismus nach dem Platzen der ersten Internetblase ab dem Jahre 2001 hat auch dessen etwas weltlichere Heilsversprechungen diskreditiert.

Die wachsende Popularität der Religion reicht jedoch noch weiter zurück. Die Soziologie beobachtet schon seit den späten 1970er Jahren eine Tendenz zur "Resakralisierung". Spätestens seit der "islamischen Revolution" im Iran und der Wahl Jimmy Carters und Ronald Reagans in den Vereinigten Staaten wurde die Rolle "fundamentalistischer" Bewegungen in den modernen und den sich modernisierenden Gesellschaften deutlich. Als "fundamentalistisch" erscheinen diese Bewegungen jedoch vor allem aus der Sicht der Politik. In religiöser Hinsicht handelt es sich um eine zunehmende Spiritualisierung. Diese ist, wie Clark Roof u.a. für die USA zeigen, mit einem Generationswechsel verbunden. Als Träger des Wandels identifizieren sie die so genannten Babyboomer, also jene Generation, die (in Deutschland) zwischen Mitte der 1950er Jahre bis zum Einsetzen des "Pillenknicks" Mitte der 1960er Jahre geboren wurde. Diese Generation hat nicht nur die bis in die 1950er Jahre vorherrschenden Lebensformen abgelehnt und (als "68er") eine politische Bewegung mit breitester Resonanz getragen. Sie wandte sich auch von den traditionelleren sozialen Formen der Religion ab und "alternativen" Formen zu. Mehr noch: In dem Maße, in dem sich die Babyboomer etablierten, gewannen auch ihre alternativen kulturellen Formen Akzeptanz, deren Träger sie waren - eine Akzeptanz, die, wie wir sehen werden, den "alternativen" Charakter auch ihrer religiösen Bewegungen aufhob und sie hoffähig und populär machte.

Der "Generationeneffekt" beschränkt sich keineswegs auf die USA. Wie José Casanova beobachtet, vollzog sich dieser Wechsel auch in Europa innerhalb einer Generation. "Der hohe Prozentsatz derer, die ihre religiöse Bindung seit ihrer Kindheit verloren haben (43 Prozent in den Niederlanden, 33 Prozent in Großbritannien; vergleichbar den 46 Prozent in Ostdeutschland und 31 Prozent in Frankreich), zeigt, dass der Zusammenbruch fast die Sache einer Generation war." Es dürfte kein Zufall sein, dass es sich dabei auch um die Generation handelt, die mit den jeweils avanciertesten Kommunikationsmitteln die populäre Kultur durchgesetzt hat (die anfänglich nur als "Jugendkultur" erschien). Die Veränderung der Kommunikation geht auch mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen einher, die unter Begriffen wie "Informations-" oder "Wissensgesellschaft" firmieren. Nicht zufällig ist die Generation des Wechsels auch diejenige, die einerseits die De-industrialisierung und andererseits die (fortgesetzte) Bildungsexpansion betrieben hat.

Mit der Verlagerung von der Handarbeit zum Wissen geht auch eine weitere Veränderung einher, die ebenso starke Folgen für die Religion hat: die "Inklusion" der Frauen in die funktionalen Systeme der Gesellschaft. Während die stärker traditional orientierten Frauen den Kirchen eher noch die Treue halten, wenden sich die vielen Frauen, die ihren Weg in die Wissenschaft, in die Politik oder die Wirtschaft nehmen, einer anderen Form der Religion zu: der Spiritualität, die nicht nur semantisch stark weiblich kodiert ist. In der Tat bilden die Frauen die Mehrheit der spirituellen Aktivisten.

Ohne die Liste hier fortsetzen zu können, sollte deutlich geworden sein, dass solche gesellschaftlichen Veränderungen unmittelbare Auswirkungen auf die Religion haben. Sie sind es, die eine Transformation zu einer populären Form der Religion herbeiführen, die zwar die Kirchen nicht ersetzt, ihr Verhältnis aber zu den zunehmend "spirituellen" Subjekten ebenso prägen wird wie die gesamte Kultur.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Markt, Medien und die Popularisierung der Religion, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft, 8 (2000), S. 143 - 161. Eine ausführlichere Darstellung des Autors ist in Vorbereitung: H. Knoblauch, Populäre Religion. Die Sehnsucht nach Spiritualität, Frankfurt/M.-New York 2009.

  2. Vgl. Nicolai Hannig/Benjamin Städter, Die kommunizierte Krise. Kirche und Religion in der Medienöffentlichkeit der 1950er und 60er Jahre, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 101 (2007), S. 1 - 31.

  3. Vgl. Morten T. Hosgaard/Margit Warburg, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Religion and Cyberspace, London-New York 2005, S. 1 - 12.

  4. Vgl. Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007.

  5. Detlef Pollack, Säkularisierung - ein moderner Mythos?, Tübingen 2003.

  6. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago und London 1994, S.65f. (übers. v. HK).

  7. Hubert Knoblauch/Arnold Zingerle, Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens, in: dies. (Hrsg.), Tod - Sterben - Hospiz. Beiträge zur Thanatosoziologie, Berlin 2005, S. 11 - 30.

  8. Nähere Ausführungen zu den Daten, aber auch zu den Messproblemen finden sich in: Hubert Knoblauch, Populäre Spiritualität - oder: Wo ist Hape Kerkeling?, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Was glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2008.

  9. Vgl. Olivier Roy, L'islam mondialisée, Paris 2002.

  10. Manuel Castells, Das Informationszeitalter. Band 1: Die Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001.

  11. Vgl. Daniel Bell, The return of the sacred? The argument on the future of religion, in: British Journal of Sociology, 28 (1977) 4, S. 419 - 449.

  12. Vgl. Wade Clark Roof/Jackson W. Carroll/ David A Roozen, Conclusion: The Post-War Generation - Carriers of a New Spirituality, in: dies. (Hrsg.), The Post-War Generation and Establishment Religion. Cross-Cultural Perspectives, Boulder-San Francisco-Oxford 1995, S. 242 - 255. In den USA setzt diese Generation etwas früher ein.

  13. J. Casanova (Anm. 6), S. 328.

  14. Vgl. Linda Woodhead, Gendering Secularization Theory, in: Social Compass, 55 (2008), S. 187 - 193.

Dr. rer. soc., geb. 1959; Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität Berlin, Institut für Soziologie, Franklinstr. 28/29; Technische Universität Berlin, 10587 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: Hubert.Knoblauch@tu-berlin.de
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