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Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter | Idole - Kult | bpb.de

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Jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter

Karl Gabriel

/ 18 Minuten zu lesen

Die These einer fortschreitenden Säkularisierung ist ebenso unbefriedigend wie die Gegenthese einer Wiederkehr der Religion. Eine angemessenere Perspektive für die Entwicklung von Religion und Christentum bietet das Konzept der multiplen Moderne.

Einleitung

In kaum einem Bereich des öffentlichen Interesses sind die Nachrichten so widersprüchlich wie auf dem Feld der Religion. Einerseits beherrschen Meldungen über eine sinkende Zahl der Mitgliedschaften und Besucher der Kirchen sowie von der Abkehr von zentralen Glaubenswahrheiten des Christentums die öffentliche Medienwelt. Aus dem Wirtschaftsleben, aus der Politik, aber auch aus der Wissenschaft scheinen die letzten Reste religiöser Orientierungen und Bindungen zu verschwinden. Andererseits stoßen wir zunehmend auf irritierende Nachrichten und Phänomene, die in das gewohnte Schema der abnehmenden sozialen Relevanz von Religion nicht so recht hineinpassen wollen. Fast überall auf der kleiner gewordenen Welt scheint es sich "in Sachen Religion" anders zu entwickeln als im westlichen Europa. Gerade in den Vereinigten Staaten gehen hier offenbar die Uhren anders, in einem Land, von dem wir eigentlich gewohnt sind, dass seine Trends mit einer gewissen Verzögerung unweigerlich auch unsere Trends werden.


Unerwartet rankt sich plötzlich eine zunehmende Zahl von öffentlich ausgetragenen Konflikten um die Religion, angefangen beim Kruzifixstreit vor mehr als zehn Jahren bis zu den Auseinandersetzungen um repräsentative Moscheegebäude in Köln und anderswo. Dabei sind es nicht nur Konflikte, die für die These einer Rückkehr der Religion in die Gegenwartsgesellschaft in Anspruch genommen werden können. Der von Johannes Paul II. ins Leben gerufene Weltjugendtag und sein Erfolg scheinen von einer bisher unbekannten Art jugendlicher Event- und Massenreligiosität zu zeugen, für die ausgerechnet charismatisch agierende Päpste als Katalysatoren dienen. Als Fazit ergibt sich, dass auch für die These einer Wiederkehr der Religion genügend Hinweise zu finden sind, die dieser bis in die Alltagserfahrung hinein eine gewisse Plausibilität verleihen.

Die Säkularisierungsthese

Was heißt Säkularisierung? Von der Begriffsgeschichte kommt eine Übersetzung mit "Verweltlichung" oder "Verdiesseitigung" dem Begriffsverständnis am nächsten. Die Geburtsstunde des Begriffs in religiös-politischen Zusammenhängen schlägt am 8. Mai 1646 in Münster. Während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden erfindet der französische Gesandte Henry d'Orleans den Begriff, um das zu kennzeichnen, was mit dem Kirchengut in der Hand der protestantischen Kriegspartei geschehen war. Auf den Bezug zur Überführung von Kirchengut in weltliche Hände greift man 1803 im Reichsdeputationshauptschluss zurück. In einer Fürstenrevolution teilen die deutschen Fürsten den kirchlich-geistlichen Besitz unter sich auf und beenden damit das Heilige Römische Reich und die mittelalterliche Reichskirche, deren Bischöfe gleichzeitig Reichsfürsten waren. Die umstritten gebliebene Legitimation der Säkularisierung von 1803 bildet den Nährboden dafür, dass der Begriff im 19. Jahrhundert zu einem ideenpolitischen Kampfbegriff wird. In den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts schreiben sich zunächst die Liberalen den Begriff auf ihre Fahnen, um den Einfluss der katholischen Kirche auf den Feldern von Schule, Bildung und Wissenschaft zurückzudrängen. Als Gegenreaktion setzt die katholische Seite die Säkularisierungsbestrebungen mit einem großen, schon mit der Reformation beginnenden Abfall von Gott gleich. Die Liberalen geben die ideenpolitische Fahne der Säkularisierung schon zum Ende des 19. Jahrhunderts an die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen weiter. Als Teil der Staatsideologie sozialistischer Regime reicht der Kampfbegriff der Säkularisierung bis in unsere Tage hinein. Unter dem Banner aktiver Säkularisierung wurden in der DDR seit Mitte der 1950er Jahre die Religion und ihre Anhänger stigmatisiert und aus dem öffentlichen Leben entfernt. In keinem Punkt - so heißt es heute zu Recht - war das SED-Regime so erfolgreich wie in seiner Religionspolitik als aktive Säkularisierungspolitik. In wenigen Jahren sank die Kirchenmitgliedschaft in der DDR von über 90 auf unter 30 Prozent. Bis heute gelten die ostdeutschen Bundesländer als eine der säkularisiertesten Regionen nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt.

Auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert lässt sich die Geburtsstunde des wissenschaftlichen Begriffs der Säkularisierung datieren. Er spielt in der Entstehungsphase der modernen Soziologie insgesamt wie auch der Religionssoziologie eine zentrale Rolle. Hatte man vor Max Weber und Emile Durkheim die Soziologie gewissermaßen als Ersatz für die Religion zu begründen versucht, so setzen beide an den Platz einer ,Soziologie anstelle von Religion die Religionssoziologie. Schon bei Max Weber entsteht eine höchst elaborierte Konzeption von Säkularisierung, obwohl er den Begriff so gut wie nicht benutzt. Weber treibt Zeit seines Lebens die Frage um, wie der moderne Kapitalismus, der bürokratische Staat und die moderne Wissenschaft entstehen konnten - und: warum sie im westlichen Europa und nur hier zum Durchbruch kamen. Das westliche Christentum - so die Antwort Webers - beschreitet einen Sonderweg. Das jüdische und christliche Erbe von Prophetie und Heilsreligion setzt im westlichen Christentum einen Prozess der schrittweisen Entzauberung der Welt in Gang. Mittelalterlicher Katholizismus, Luthertum und schließlich der Calvinismus bedeuten Schritte auf einem Weg, an dessen Ende die Welt jeden Zauber von Heilsbedeutsamkeit verliert. So kann sie rückhaltlos Gegenstand rationaler Wissenschaft, rationalen Betriebskapitalismus und rational-bürokratischer Herrschaft werden. Für Weber konnte die moderne, auf Weltbeherrschung zielende Rationalität nur über die Religion ihren Siegeszug beginnen. Sie war für ihn die Lebensmacht aller vormodernen Gesellschaften schlechthin. Einmal - an den Rockschößen der Religion hängend - zum Durchbruch gekommen, kehrt sich für Weber das Verhältnis von moderner Rationalität und Religion um. Die Religion überlebt in der modernen, rationalen Welt bestenfalls im - wie er sich ausdrückt - "hinterweltlichen Reich mystischen Lebens oder in der Brüderlichkeit unmittelbarerer Beziehungen der einzelnen zueinander". Zur Macht gekommen, benötigt der Kapitalismus die Religion nicht mehr. Säkularisierung als Rationalisierung der Welt bleibt für Weber nicht auf den Ort ihres ersten Durchbruchs im westlichen Europa beschränkt. Es ist für ihn nicht anders denkbar, als dass sie von Europa aus ihren Siegeszug über die ganze Welt antritt.

Säkularisierung ist nach Max Weber in erster Linie eine kulturelle Transformation. Der westliche Sonderweg hat aber auch bei Weber schon eine strukturelle Seite. Schon seit dem Investiturstreit beanspruchen Papst- und Kaisertum eigene, autonome Wertsphären für sich, die den jeweils Anderen in seine Schranken verweisen. Die Wissenschaft löst sich von religiösen Vorgaben und erhebt den Anspruch, die eigentliche Produzentin von Wahrheit zu sein. Mit dem Kapitalismus schließlich entsteht ein wirtschaftlicher Wertekosmos, an dem alle Maximen einer christlichen Brüderlichkeitsethik hoffnungslos abprallen müssen. Die Grundzüge der Säkularisierungsthese sind damit tief in die Ursprünge der Soziologie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingelassen. Sie macht einen Teil der disziplinären Identität des Faches aus. Der weitere Ausbau der These erfolgt in drei eng aufeinander bezogene Richtungen. Webers Entdeckung des Kampfs der Wertsphären in modernen Gesellschaften wird in der Theorie funktionaler Differenzierung entfaltet. Säkularisierung erhält hier die Bedeutung der Trennung und Ablösung der gesellschaftlichen Funktionsbereiche von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft etc. von der Religion. Seit den 1930er Jahren wird die Religion zum Gegenstand der neu entstehenden empirischen Sozialforschung. Sie wendet sich dem Messbaren an der Religion zu: Kirchgangshäufigkeit, massenstatistische Befragungen zu Gottesglauben, Befolgung kirchlicher Moralvorschriften und Vertrauen zur Institution Kirche. Die empirische Sozialforschung belegt seither, dass die so gemessene Religiosität bzw. Kirchlichkeit in lang- wie kurzfristiger Perspektive abnimmt. Sie stellt bis heute einen signifikanten Zusammenhang mit typischen Merkmalen moderner Gesellschaften wie Industrialisierung, Urbanisierung und Höhe des Bildungsgrads her. Die Säkularisierung als Rückgang des Glaubens auf individueller Ebene erhielt damit den Charakter einer vielfach bestätigten empirischen Tatsache. Noch in eine dritte Richtung erfährt die Säkularisierungsthese einen weiteren charakteristischen Ausbau: Religion wird in modernen Gesellschaften als Phänomen der Privatsphäre begriffen. Während die dominierenden Institutionen des öffentlichen Lebens nach säkularen, rationalen Maximen funktionieren, bleibt der Religion das Reich des Privaten. Sie wird privatisiert, individualisiert und verwandelt sich in einen Gegenstand individueller Wahlvorgänge.

Der Einfluss der Säkularisierungsthese reicht weit über die Soziologie hinaus. Man übertreibt kaum, wenn man sagt, die Säkularisierungsthese sei die dominierende Kategorie der Selbstverständigung des 20. Jahrhunderts, zumindest unter den Intellektuellen Europas. Die aufstrebenden Naturwissenschaften können sich auf sie berufen, und alle Geisteswissenschaften sind von ihr imprägniert. Auch die Geschichte der Theologie des 20. Jahrhunderts, die evangelische wie die katholische, lassen sich nicht begreifen ohne Bezug zum Horizont dieser These.

Die Säkularisierungsthese in der Kritik

Die Kritiker der Säkularisierungsthese gewinnen heute auf verschiedenen Ebenen an Boden. Zuerst trifft es die Annahme, mit der Säkularisierung habe man wissenschaftlich einen gesellschaftlichen Prozess identifiziert, der notwendig und zielgerichtet verlaufe und zwangsläufig auf ein Ende der Religion zusteuere. Ausgenommen einige versprengte kämpferische Atheisten - heute zumeist in einem biologistischen und naturalistischen Gewand - vertritt die Säkularisierungsthese als Teleologie, als Ziel von Geschichte und Gesellschaft, eigentlich niemand mehr. Ein zweites Feld der Kritik betrifft den inhärenten Eurozentrismus der Säkularisierungsthese. Die These ist im westlichen Europa entstanden und zeigt sich in die weltanschaulichen Frontstellungen, wie sie sich nur in Europa entwickelten, tief verstrickt. Im Verhältnis zur übrigen Welt nährte sie zudem den Glauben an eine überlegene Mission Europas für die ganze Welt. In den Vereinigten Staaten hat sich die Säkularisierungsthese nie voll entfalten können, und heute sieht sich die Mehrheit der amerikanischen Religionssoziologen im Recht, wenn sie sagt, bei der Säkularisierungsthese handele es sich um ein typisch europäisches Produkt. Eine These, die für die USA nicht taugt, wird aber schwerlich geeignet sein, etwas Entscheidendes über moderne Gesellschaften auszusagen. Dass die Säkularisierungsthese eine eurozentrische Dimension besitzt, wird heute kaum jemand ernsthaft bestreiten wollen.

Aus der Soziologie selbst hat der spanisch-amerikanische Soziologe José Casanova vor über zehn Jahren viele kritische Argumente zur Säkularisierungsthese gebündelt und mit Wucht vorgetragen. Das Hauptproblem der Säkularisierungsthese sieht Casanova darin, dass sie in problematischer Weise Aussagen zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, zur Abnahme individuellen Glaubens und zur Privatisierung der Religion zu einer einzigen These unentwirrbar miteinander verschränke. Die drei Prozesse müssen aus seiner Sicht als einzelne betrachtet werden. Hatte Casanova in den 1990er Jahren zumindest noch den Prozess der funktionalen Differenzierung als konstitutiv für moderne Gesellschaften angesehen, so rückt er heute auch davon ab. Für die Entwicklungen im Verhältnis von Religion und Politik zum Beispiel sei die Säkularisierungsthese im Sinne funktionaler Differenzierung wenig instruktiv. Fruchtbarer sei es, von einer Vielzahl verschiedener Modelle wechselseitiger Tolerierung von Religion und Politik auszugehen. Offenkundig sei, dass mit Prozessen der Modernisierung nicht notwendig der Rückgang individuellen Glaubens verbunden sein müsse. Außer für den Westen Europas treffe dies empirisch einfach nicht zu. Am Beispiel so unterschiedlicher Phänomene wie der islamischen Revolution im Iran, der Befreiungstheologie in Lateinamerika, der Solidarnoscbewegung in Polen und der religiösen Rechten in den USA kann Casanova überzeugend belegen, dass auch von einem zwangsläufigen Zusammenhang von Modernisierung und Privatisierung der Religion nicht ausgegangen werden kann.

Mit der In-Frage-Stellung der Säkularisierungsthese ist eine wissenschaftliche Revolution verbunden. Ist doch - so hatten wir gesehen - die These tief in die gesamte Wissenschaftskultur der Moderne als Hintergrundannahme eingelassen. Für das Verhältnis von Religion und Politik trifft dies in besonderem Maße zu. Deshalb ist es sinnvoll, das alte Thema Religion und Politik interdisziplinär und durch die historischen Epochen hindurch erneut auf die wissenschaftliche Agenda zu setzen.

Die These von der Wiederkehr der Götter

Auch die These von der "Wiederkehr der Götter" kann auf Max Weber Bezug nehmen. In der aufgewühlten Situation des Jahres 1917 in München formuliert er in einem berühmt gewordenen Vortrag zum Thema "Wissenschaft als Beruf": "Die alten, vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf." Der siegreiche, moderne Kapitalismus - so Weber schon 1904 am Ende der "Protestantischen Ethik" - ist zu einem "stahlharten Gehäuse" geworden. "Niemand weiß noch," - so verweigert er sich einer Prognose - "wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden (...)".

Sind wir heute am Ende der ungeheuren Entwicklung angekommen, die Weber mit den Begriffen "Rationalisierung", "Intellektualisierung" und "Entzauberung der Welt" gekennzeichnet hatte? Anzeichen dafür lassen sich leicht zusammentragen: Zwei religiöse Expansionsbewegungen machen gegenwärtig weltweit auf sich aufmerksam. Das pfingstlerische Christentum wächst augenblicklich an vielen Stellen der Welt mit einer erstaunlichen Dynamik. Dies trifft für große Teile Ostasiens zu, China eingeschlossen. Mit atemberaubendem Tempo nimmt die Zahl der charismatischen Gruppen schon seit einigen Jahren in Lateinamerika zu. Auch das südliche Afrika ist Schauplatz einer Expansion charismatischen Christentums. Mit Evangelikalen und katholischen Charismatikern überschreitet die Bewegung typischer Weise auch die Konfessionsgrenzen.

Die zweite weltweite religiöse Expansionsbewegung ist uns in Europa präsenter: die des Islam. Dabei machen Europa und der Nahe Osten nicht einmal den vorrangigen Ort islamischer Expansion aus. Indonesien ist inzwischen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt. Außer in Ostasien und unter den Migrantinnen und Migranten Europas wächst der Islam auch in Schwarzafrika. Von einem sich von Westeuropa ausbreitenden Prozess der Säkularisierung im Sinne des Verschwindens von Religion ist augenblicklich wenig in der Welt zu spüren. Im Gegenteil: Die Religion ist in vielen Teilen der Welt eindeutig auf dem Vormarsch. Dass in den Vereinigten Staaten die Uhren in dieser Hinsicht nach wie vor anders gehen als im westlichen Europa, darauf war oben schon hingewiesen worden. Bleibt der Blick auf das westliche Europa als Region der Säkularisierung: Auch hier sind neuerdings Stimmen zu hören, die auch für Europa eine Wiederkehr der Religion, zumindest der individuellen Religiosität und religiösen Erfahrung, der Spiritualität als zeitgemäße Form der Religion behaupten. So bezieht sich etwa Hubert Knoblauch zunächst auf das - wie er formuliert -"erstaunliche Anwachsen bestimmter religiöser Formen, insbesondere der evangelikalen, pfingstlerischen und charismatischen Bewegungen" vornehmlich außerhalb Europas. Als gemeinsamen Kern der christlichen Wachstumsbewegungen macht er die zentrale Bedeutung der unmittelbaren religiösen Erfahrungen aus, die den Kontakt zum Göttlichen ohne eine institutionelle Vermittlung herstelle. Ein analoges Muster entdeckt Knoblauch in den verschiedenen Formen alternativer Religiosität in Europa. Deshalb könne man in dieser Hinsicht durchaus von einer erkennbaren religiösen Dynamik auch in europäischen Gesellschaften sprechen. Diese individualisierte Religiosität lasse sich zwar naturgemäß nicht in Zahlen ausdrücken, erhalte aber dennoch heute eine neue Sichtbarkeit, und zwar auf zweifache Weise. Zum einen mache sich die Religion im öffentlichen politischen Raum bemerkbar, zum anderen komme es zu einem massiven Eindringen religiöser Themen in die populäre Kultur. Knoblauch spricht von einem neuen "hallenden Diskursraum des Religiösen, in dem sich selbst diejenigen Subjekte positionieren, die dezidiert areligiös sind". Die Entzauberung habe deshalb gar nicht stattgefunden, die Moderne habe lediglich die Kirchen strukturell entmachtet und die Form der Religion verändert.

Wiederkehr der Religion auch in Europa?

Die These von der "Wiederkehr der Götter" bereitet aber ebenfalls nur schwer zu leugnende Schwierigkeiten. Wie schon die frühen Andeutungen Max Webers belegen, bleibt die These der Perspektive der Säkularisierung verhaftet. Wer von einer Wiederkehr spricht, setzt voraus, dass vorher eine Abreise bzw. Abkehr stattgefunden hat. Die These von der Wiederkehr der Religion teilt damit die Probleme, die im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese angesprochen wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wiederkehrthese denjenigen europäischen Intellektuellen besonders plausibel erscheint, die bis vor Kurzem noch die Religion im unaufhaltsamen Prozess des Verschwindens sahen. So etwa argumentiert heute Hans Joas gegenüber Jürgen Habermas, der zwar nicht von einer Wiederkehr der Götter, aber doch von einer "postsäkularen Gesellschaft" spricht. Die Rede von der "postsäkularen Gesellschaft" setze - so Joas - die Säkularisierung voraus. Wer - wie er selbst - nie ein Anhänger der Säkularisierungsthese gewesen sei, könne heute auch nicht von Wiederkehr sprechen.

Man muss die Argumentation von Ronald Inglehart und Pippa Norris nicht teilen, um insbesondere mit dem Blick auf Europa gegenüber der These der Wiederkehr der Religion ein Unbehagen zu empfinden. Inglehart und Norris halten trotz der weltweiten religiösen Expansionsprozesse an der klassischen Säkularisierungsthese fest. Sie deuten die empirischen Hinweise auf eine Wiederkehr der Religion an vielen Stellen der Welt gewissermaßen als eine vorübergehende Delle im Verdrängungsprozess der Religion. Diese lasse sich einfach dadurch erklären, dass in vielen Teilen der Welt die Armut nicht ab- sondern zunehme. Wo sich aber Armut ausbreite, dort kehre auch - darüber brauche man sich nicht zu verwundern - die Religion zurück. Wenn und soweit es gelinge, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern und sicherer zu machen, komme es auch wieder zu dem bekannten Zusammenhang von Anhebung des materiellen Lebensstandards und dem Verschwinden der Religion. Theoretisch erweisen sich Inglehart und Norris als Verfechter einer allzu einfachen These einer Kompensationsfunktion der Religion. Diese ist schwer mit der Einsicht in die Vielfalt von Funktionsbezügen der Religion in Einklang zu bringen. Empirisch müssen sie mit Blick auf den Fall der Vereinigten Staaten die Aufmerksamkeit ganz auf die Dimension der Sicherheit bzw. Unsicherheit lenken. Die ungesicherten Lebensverhältnisse als den alleinigen Verursacher für die Religiosität in den USA in Anschlag zu bringen, bleibt aber wenig überzeugend.

Der eigentliche kritische Testfall für die These der Wiederkehr der Religion bleibt das westliche Europa. Befürworter wie Gegner der Säkularisierungsthese sind sich soweit einig, dass das westliche Europa seit den 1960er Jahren einen Prozess der Schwächung der kirchlich verfassten Religion erlebt. Ohne dass es Anzeichen einer Trendumkehr gäbe, nimmt seit dieser Zeit die Zahl der Kirchenmitgliedschaften und regelmäßigen Gottesdienstbesucher ab, sinkt der Einfluss der Kirchen auf die religiösen Überzeugungen und moralischen Orientierungen der Menschen und verliert eine kirchlich geprägte Lebensführung an institutioneller Absicherung. Was macht man mit diesem unbestrittenen Befund, wenn man trotz allem von der Wiederkehr der Religion auch für Europa überzeugt ist? Der verständliche Ausweg besteht darin, zwischen Kirchlichkeit und Religiosität eine scharfe Kluft anzunehmen, die alternative, außerkirchliche Religiosität als die eigentliche Religiosität zu betrachten und der kirchlichen Religion einen marginalen, vernachlässigbaren Status zuzuschreiben. Damit gerät die Position einer Wiederkehr der Religion auch in Europa aber in Widerspruch zu schwer zu leugnenden empirischen Tatsachen. Zwei seien besonders hervorgehoben:

Erstens: Die Phänomene einer alternativen Religiosität haben ihren Ort nicht jenseits, sondern primär im Umfeld der Kirchen. Wo die kirchliche Religion geschwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden. Dies ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in den ostdeutschen Bundesländern nach 1989 ziehen lässt. Die von vielen erwartete breite Rückkehr zu den Kirchen fand nach 1989 nicht statt. Es gab aber auch keine nennenswerte Hinwendung zu Formen alternativer Religiosität. In Westdeutschland sind Phänomene alternativer Religiosität in signifikant höherem Maße zu beobachten als in Ostdeutschland.

Zweitens: Zu den Phänomenen einer Wiederkehr der Religion gehört wiederum unbestritten eine gewisse neue Sichtbarkeit der Religion bzw. deren Wiederkehr im öffentlichen Raum. Wenn man danach fragt, welche Religion heute primär in die Öffentlichkeit zurückkehrt, so ist es wiederum nicht die alternative Religiosität. Vielmehr sind es primär weltweit, aber auch in Europa, die alten Kirchen und die außerchristlichen traditionelle Religionsgemeinschaften. José Casanova hat als erster mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die traditionellen Religionsgemeinschaften die primären Träger dessen sind, was er die De-Privatisierung der Religion nennt.

Es gibt, so lässt sich resümieren, gute Gründe dafür, heute sowohl die Säkularisierungsthese als auch die These von der Wiederkehr der Götter als unbefriedigend zu betrachten. Deshalb erscheint es geboten, nach einen Konzept zu suchen, das die gegenwärtige religiös-kirchliche Lage besser zu erklären vermag als die beiden alternativen Positionen.

Das Konzept der multiplen Modernen

Die Modernisierungstheorie hat in ihrer Geschichte zwei Phasen scharfer Kritik durchlaufen. In den 1950er und 1960er Jahren beriefen sich vornehmlich amerikanische Soziologen auf die klassischen Entwürfe von Max Weber und Emile Durkheim, um ein Gesellschaftsbild zu konstruieren, nach dem die noch nicht modernen Gesellschaften in der südlichen Hemisphäre planvoll modernisiert bzw. zu modernen Gesellschaften entwickelt werden sollten. Wie zufällig entsprach das Bild weitgehend der amerikanischen Gesellschaft dieser Jahre. Selten hat sich eine Theorie so schnell und nachhaltig selbst widerlegt, da in den Folgejahren die von der Modernisierungstheorie angeleiteten Entwicklungskonzepte allesamt scheiterten. In einem ersten Läuterungsprozess wurden nicht nur die ideologischen und imperialen Kompenenten der amerikanischen Modernisierungstheorie thematisiert, sondern die Theorie selbst auch umgebaut. So verabschiedete man sich von der Vorstellung, Modernisierung ließe sich als ein einliniger, nach inneren Gesetzen auf einem bestimmten Pfad sich selbst entwickelnder Prozess begreifen. Gleichzeitig wurde auch denkbar, dass in modernen Gesellschaften weitergehende Modernisierungsprozesse ablaufen. In dieser Gestalt ist die Modernisierungstheorie seit den 1970er Jahren in vielen Geisteswissenschaften - insbesondere auch in der Geschichtswissenschaft - erfolgreich rezipiert worden. In einer gegenwärtig noch andauernden Debatte wurden die kritischen Elemente innerhalb der Modernisierungstheorie noch einmal verschärft. War man sich bisher sicher, dass die Kernelemente der Moderne - wie etwa eine liberal-kapitalistische Wirtschaftentwicklung und Demokratisierungsprozesse - sich wechselseitig notwendig bedingen, so ist man heute bei der Annahme notwendiger Zusammenhänge vorsichtiger geworden. Eine scharfe Gegenüberstellung von Tradition und Modernität - so eine weitere Einsicht - ergibt wenig Sinn. Vielmehr wirken Traditionen in der Moderne weiter und spiegeln sich in eigenen Formen von Modernität wider. Damit entspricht heute die Vorstellung von Modernisierung mehr einer Arena möglicher Optionen und Wege als einem gerichteten Prozess. Auf der Linie einer konsequenten Öffnung des Spielraums der Moderne liegt auch, wenn etwa Phänomene des Fundamentalismus als Alternativen in der Moderne und nicht als Alternativen zur Moderne in den Blick kommen. Shmuel Eisenstadt hat für die skizzierte Öffnung des Modernisierungskonzepts die Formel von der "Vielfalt der Moderne" oder von den "multiplen Modernen" eingeführt.

Es ist die These dieses Beitrags, dass das Konzept der multiplen Modernen die Chance bietet, jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Götter eine angemessenere Perspektive für die Entwicklung von Religion und Christentum heute zu gewinnen. Eine erste, weitreichende Konsequenz besteht darin, Religion entschieden in und nicht jenseits der Moderne zu verorten. Die immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Religion und Modernität sind typisch moderne Phänomene und keineswegs ein Zeichen dafür, dass die Religion irgendwie nicht zur Moderne gehört bzw. passt. Konflikte zwischen den Wertsphären - so schon Max Weber - machen gerade ein zentrales Charakteristikum der Moderne aus.

Die Vorteile einer reflexiven und offenen Modernisierungstheorie gegenüber dem Konzept der Säkularisierung liegen auf der Hand. Konzeptionell bekommt die Religion wieder einen Platz in der Moderne; ihre Stellung ist nicht mehr theoretisch im Sinne einer gesellschaftlichen Randposition vorentschieden. Die Modernisierungsprozesse innerhalb der Religionen können in den Blick genommen werden und eine angemessen Berücksichtigung finden. Auch fundamentalistische religiöse Bewegungen lassen sich als Phänomene innerhalb der Moderne identifizieren. Die Vielfalt der Moderne lässt unterschiedliche Modelle im Verhältnis von Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu. Für die religiösen Traditionen bleibt die Herausforderung, sich in der Moderne jeweils neu erfinden zu müssen. Dies gilt gerade auch für die religiösen Akteure, die nur die Tradition und nichts als die Tradition fortsetzen wollen. Für die kirchlichen Akteure in Europa bietet das Konzept die Chance, sich von der Prägung durch ein folgenreiches Säkularisierungsbewusstsein zu lösen. Im westlichen Europa wirkt dieses nach wie vor wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung - es bringt zu einem guten Teil erst das hervor, was es als sicher für die Zukunft erwartet.

Aber auch gegenüber der These der Wiederkehr der Religion bietet die Konzeption der multiplen Modernen bessere Chancen, die religiös-kirchliche Lage einsichtig und verstehbar zu machen. Sie besitzt eine größere Übereinstimmung mit der empirischen Datenlage für das westliche Europa. Sie vermag die Entwicklungen innerhalb der kirchlich verfassten Religion differenzierter wahrzunehmen und zu interpretieren. Im Unterschied zur These der Wiederkehr der Religion verfügt sie über ein konzeptionelles Verständnis von Modernität. Sie lenkt damit das Interesse auf die Bedingungen, unter denen die Religionen in der Moderne zu agieren haben. Sie hat die Spannungen im Verhältnis von Religion und Politik und die Vielfalt von Zuordnungsmodellen beider innerhalb der Moderne im Blick. Sie wird der religiösen Signatur der Gegenwart besser gerecht: Die Religionen bleiben, aber sie wandeln ihr Gesicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Forschungskonsortium WJT/Winfried Gebhardt u. a. (Hrsg.), Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis - Medien - Organisation, Wiesbaden 2007.

  2. Vgl. Richard Schröder, Säkularisierung: Ursprung und Entwicklung eines umstrittenen Begriffs, in: Christina von Braun/Wilhelm Gräb/Johannes Zachhuber (Hrsg.), Säkularisierung. Bilanz und Perspektiven einer umstrittenen These, Berlin 2007, S. 62.

  3. Vgl. Detlef Pollack, Säkularisierung - ein moderner Mythos?, Tübingen 2003, S. 77 - 131.

  4. Vgl. Hartmann Tyrell, Von der Soziologie statt Religion zur Religionssoziologie, in: Volkhard Krech/Hartmann Tyrell (Hrsg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 2003, S. 79 - 127.

  5. Vgl. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 19889 (zuerst 1920).

  6. Vgl. ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 19856, S. 612.

  7. Vgl. Thomas Luckmann. Die unsichtbare Religion, Frankfurt/M. 1991.

  8. Vgl. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago-London 1994.

  9. Vgl. ders., Public religions revisited, in: Hermann-Josef Große Kracht/Christian Spieß (Hrsg.), Christentum und Solidarität (FS Karl Gabriel), Paderborn-München-Wien-Zürich 2008, S. 320 - 329.

  10. Dazu bietet das Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster eine gute Chance.

  11. M. Weber (Anm. 6), S. 605.

  12. Ders. (Anm. 5), S. 204.

  13. Vgl. Stephen Hunt/Malcom Hamilton/Tony Walker (Eds.), Charismatic Christianity. Sociological Perspectives, New York 1997.

  14. Vgl. Werner Ende/Udo Steinbach (Hrsg.), Der Islam in der Gegenwart, München 20055.

  15. Hubert Knoblauch, Die Wiederkehr der Religionen? Statement im Rahmen des Workshops "Wiederkehr der Religionen" der Initiative Pro Geisteswissenschaften in Münster, 19 - 21.10. 2006, S. 3. Anmerkung der Redaktion: Siehe auch den Beitrag von H. Knoblauch in diesem Heft.

  16. Ebd., S. 6.

  17. Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg i. Breisgau 2005.

  18. Vgl. Pippa Norris/Ronald Inglehart, Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.

  19. Vgl. D. Pollack (Anm. 3), S. 88 - 92.

  20. Vgl. J. Casanova (Anm. 8).

  21. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975.

  22. Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000.

  23. Vgl. Staf Hellemans, Die Transformation der Religion und der Grosskirchen in der zweiten Moderne aus der Sicht des religiösen Modernisierungsparadigma, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, 99 (2005) 1, S. 11 - 35.

  24. Vgl. José Casanova, Die religiöse Lage ein Europa, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt/M. 2007, S. 338.

Dr. soz. wiss., Dr. theol. habil., geb. 1943; Senior Professor im Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
E-Mail: gabrielk@uni-muenster.de.