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Bismarck und die Weimarer Republik | 1918/19 | bpb.de

1918/19 Editorial Deutschland und der Große Krieg - Essay Die paradoxe Revolution 1918/19 Weltkrieg und Verfassung als Gründungserzählungen der Republik Bismarck und die Weimarer Republik Die neue Staatenwelt nach 1918 Versailles und Weimar

Bismarck und die Weimarer Republik

Robert Gerwarth

/ 15 Minuten zu lesen

Die Erinnerung an Bismarck diente nach 1918 rechten Kreisen als Instrument zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Popularisierung eines Führerkultes, den Hitler zu nutzen verstand.

Einleitung

Im Frühjahr 1921, wenig mehr als zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Deutschen Kaiserreiches und der Geburt der Weimarer Republik aus Kriegsniederlage und Revolution, veröffentlichte die linksliberale "Weltbühne" einen vielbeachteten Artikel über die "Bismarck-Legende". Der 1898 gestorbene Reichsgründer Otto von Bismarck, so die zunächst ungewöhnlich anmutende Kernaussage des Aufsatzes, stelle für die Weimarer Republik eine "schwere politische Gefahr" dar. In der Propaganda der politischen Rechten sei der Name Bismarck zu einer Chiffre für vergangene politische Größe und die Forderung nach einem neuen Führer von "bismarckschem Format" geworden. Um sich als historisch legitimer und politisch gefestigter Staat zu etablieren, so die Schlussfolgerung der "Weltbühne", müsse die Republik deshalb endgültig aus Bismarcks Schatten hervortreten und beweisen, dass die erste deutsche Demokratie zur Lösung schwierigster Krisen befähigt sei.


Die "Weltbühne" stand mit ihrer Einschätzung, dass die Erinnerung an den "Eisernen Kanzler" und seine politische Instrumentalisierung durch die deutsche Rechte eine Bedrohung für die junge Republik darstelle, keineswegs alleine da. Zahlreiche liberale Intellektuelle wie etwa der Rechtstheoretiker Hermann Ulrich Kantorowicz schlossen sich dieser Auffassung an. In seinem Buch "Bismarcks Schatten" schrieb er, dass die Konsolidierung der Demokratie in Deutschland nur auf den "Trümmer(n) des Bismarckkultes" gelingen könne.

Beweise für die Gültigkeit dieser Aussage lieferten die rechten Gegner der Demokratie zuhauf. Im April 1919, während in Weimar noch über eine neue Verfassung verhandelt wurde, erhob die konservative "Tradition", eine Wochenschrift der rechtsgerichteten Vaterländischen Verbände, den Vorwurf, dass das Bismarckreich keineswegs der feindlichen Übermacht der Gegner im Weltkrieg erlegen, sondern einem von langer Hand geplanten "Staatsstreich" zum Opfer gefallen sei: "Während der ganzen Dauer des Krieges verfolgten die Männer der Revolution nur das eine Ziel, sich selber in die Macht zu setzen." Als "Zerstörer der Schöpfung Bismarcks und Schänder seines geheiligten Namens" seien die Stützen des Weimarer "Systems" - Sozialdemokraten, Zentrumskatholiken und Liberale - auf ewig mit dem Makel des Verrats behaftet.

Kaum ein Jahr später, im Januar 1920, wiederholte einer der Führer der monarchistischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Kuno Graf von Westarp, den an die Republik gerichteten Vorwurf der historischen Illegitimität und verknüpfte ihn mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende Weimars. Seiner Ansicht nach widersprach die Gründung der Weimarer Republik dem "Geist Bismarcks", weshalb sie kein historisches Existenzrecht besitze. Westarp war jedoch zuversichtlich, dass die Demokratie nur einen vorübergehenden Tiefpunkt in der deutschen Geschichte darstellen werde: "Die Deutsche Republik des 9. November (...) (und) die Knechtschaft des Versailler Vertrages vom 28.Juni 1919, sie werden sich als die Übergangszeit erweisen. (...) Auf den Grundlagen, die am 18.Januar [1871, dem Tag von Bismarcks Kaiserproklamation in Versailles, R.G.] besiegelt und geschaffen worden sind,wird Preußen, wird Deutschland neu erstehen."

Mythische Überhöhung

Polemische Äußerungen wie diese waren typisch für die Art und Weise, in der die tief gespaltene Weimarer Gesellschaft das Erbe des "Eisernen Kanzlers" interpretierte. Wann immer sich konservative und nationalistische Kreise zwischen 1918 und 1933 auf Bismarck beriefen, so taten sie dies, um der von ihnen verachteten Republik den mythisch überhöhten Maßstab des "Eisernen Kanzlers" und der glorifizierten Zeit seiner Herrschaft anzulegen. Für Linksliberale und Sozialdemokraten dagegen hatte Bismarcks semi-autoritäres Regime einen historischen Prozess der Liberalisierung und Demokratisierung Deutschlands unterbrochen, der mit den Befreiungskriegen begonnen und in der Revolution von 1848 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatte. Nach dem Zusammenbruch des kleindeutschen Hohenzollernreichs, so sahen es die Republikaner, hatten die Revolutionäre von 1918 Bismarcks historischen Irrweg korrigiert und ein gerechteres politisches System errichtet, das seinerseits mit den "besseren" Traditionen der deutschen Geschichte, vor allem mit der Revolution von 1848, tief verbunden sei: die Weimarer Republik.

Der öffentliche Deutungsstreit über Bismarck und sein Erbe beschränkte sich keineswegs auf die Jahre der ersten deutschen Demokratie. Kein anderer Staatsmann hat die Phantasien der Deutschen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert mehr beflügelt als der "Eiserne Kanzler", keinem deutschen König oder Kaiser wurden mehr Denkmäler errichtet als ihm, über keinen deutschen Politiker vor und seit Hitler wurde leidenschaftlicher gestritten als über Otto von Bismarck. Noch lange nach dem endgültigen Untergang des Bismarckschen Reiches im Frühjahr 1945, zu einer Zeit, in der der Ruf nach einem "neuen Bismarck" aus offensichtlichen Gründen an Attraktivität verloren hatte, galt Bismarck repräsentativen Umfragen zufolge als mit Abstand beliebtester Deutscher, bis ihn Adenauer nach dem "Wirtschaftswunder" in der Gunst der Deutschen ablöste. Die intensive Beschäftigung der Deutschen mit dem Gründer des Reiches von 1871 spiegelt sich auch in der Zahl der (mehr und weniger) wissenschaftlichen Publikationen wider, die ihm gewidmet sind: Bereits 1966 verzeichnete eine Bismarck-Bibliographie mehr als 6000 Einträge, eine Zahl, die bis zum 100. Todestag Bismarcks im Jahr 1998 noch erheblich angewachsen ist.

Wohl zuallererst aufgrund seiner unbestreitbaren Verdienste um die deutsche Einheit wurde Bismarck schon während seiner Kanzlerschaft zwischen 1871 und 1890 zum lebenden Mythos. In den Jahren nach seiner Entlassung als Reichskanzler und Preußischer Ministerpräsident durch Kaiser Wilhelm II., vor allem aber nach seinem Tod im Jahre 1898, griff die kultische Bismarck-Verehrung immer weiter um sich und fand ihren bleibenden Ausdruck in mehr als 360 Denkmälern, die allerorts in Deutschland errichtet wurden. Die peinlichen Blößen, die sich Wilhelm II. und seine Paladine in der deutschen Innen- und Außenpolitik gaben, bildeten die dunkle Folie, vor der die Heldengestalt des "Alten im Sachsenwald", wie Bismarck nach seinem Umzug nach Friedrichsruh bei Hamburg oft genannt wurde, umso heller erstrahlte. Als Bismarck am 30. Juli 1898 starb, galt er vielen, wenn nicht sogar einer Mehrheit der Deutschen als unfehlbar, als Sinnbild deutscher Tugenden, als Vollender des Werkes Friedrichs des Großen.

Unumstritten war das Bild des "Eisernen Kanzlers" allerdings auch im Kaiserreich nie. Für die von Bismarck als "Reichsfeinde" geächteten Gruppen - vor allem für Zentrumskatholiken, Linksliberale und Sozialdemokraten - prägte die Erfahrung des Kulturkampfes und der Sozialistengesetze noch jahrzehntelang das Bild des ersten Reichskanzlers, auch wenn Katholiken seit der Jahrhundertwende verstärkt dem Bismarckkult huldigten, um ihre nationale Gesinnung unter Beweis zu stellen. Seine Kritiker standen jedoch einem politisch einflussreichen bürgerlichen Lager gegenüber, für das Bismarck die Verkörperung der deutschen Nation war, der "Erlöser", der Deutschland aus dem Zustand der territorialen Zerrissenheit und der inneren politischen Zwietracht befreit und das Reich zur kontinentalen Hegemonialmacht gemacht hatte. Dass Bismarck damit die "deutsche Mission" Preußens erfüllt hatte, sollte seine im größten deutschen Bundesstaat besonders ausgeprägte Popularität weiter beflügeln. Bismarck selbst hatte erheblich zu dieser Interpretation beigetragen, indem er die Kaiserproklamation von 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles bewusst auf den 18. Januar gelegt hatte, jenes Datum, an dem genau 170 Jahre zuvor Friedrich I. als erster preußischer König den Thron bestiegen hatte.

In der Übergangsphase vom Kaiserreich zur Republik änderten sich Bedeutung und Funktion des Bismarck-Mythos grundlegend. Bis 1918 hatte die mythisch überhöhte Figur Bismarcks dazu gedient, die Deutschen daran zu erinnern, dass das Kaiserreich den Höhepunkt der deutschen Geschichte darstelle und jede Kritik an der Staatsform zugleich auch eine Infragestellung des von Bismarck geschaffenen Nationalstaats bedeute. Nach dem Ende des Weltkriegs wurde er dagegen zu einer politischen Chiffre für das, was das Deutsche Reich durch einen von "inneren Reichsfeinden" begangenen "Verrat" verloren hatte, nämlich seine Rolle als führende wirtschaftliche und politische Macht auf dem europäischen Kontinent. Gleichzeitig wurde der Mythos dazu benutzt, um den Gedanken wach zu halten, dass die vergangene Größe Deutschlands nicht dem Parlamentarismus, sondern dem Vorhandensein eines überragenden Führers geschuldet sei. Die radikale Infragestellung des Existenzrechts der Republik mit Hilfe des Bismarck-Mythos erklärt die beispiellose Unversöhnlichkeit, mit der die gegensätzlichen Interpretationen des Eisernen Kanzlers zwischen 1918 und 1933 aufeinander prallten.

In der umkämpften, von ihren linken und rechten Gegnern bedrohten Weimarer Republik wurde die Vergangenheit im Allgemeinen und der Bismarck-Mythos im Besonderen zu einer Waffe im Ideologienstreit, die dazu diente, widerstreitenden politischen Zielen Glaubwürdigkeit und Legitimität zu verleihen. Die Leidenschaft, mit der alle beteiligten Seiten auf der Richtigkeit ihrer jeweiligen Geschichtsdeutung beharrten, erwuchs aus einer pragmatischen Erkenntnis: Nur wer die Vergangenheit auf seiner Seite wusste, konnte für seine Politikkonzepte in der Gegenwart historische Legitimität und politische Macht beanspruchen. Um eine adäquate historische Einordnung des Reichsgründers ging es also bei dem öffentlichen Deutungsstreit um Bismarcks Erbe nur sehr vordergründig. Es war der historische Standort der ersten deutschen Demokratie, ja die Existenzberechtigung der Republik von Weimar, die bei der öffentlichen Diskussion im Mittelpunkt stand.

Großdeutsche Rhetorik

Dass der Mythos um Otto von Bismarck zu einer der wichtigsten geschichtspolitischen Waffen der deutschen Rechten gegen die Republik werden sollte, war im Winter 1918/19 alles andere als offensichtlich. Zumindest bis zum Januar 1919, als sich die Revolution radikalisierte, galt das Kapitel Bismarckreich als abgeschlossen. Denn nur eine Abwendung von der Verfassung von 1871, ein demokratischer Neubeginn, schien einen gerechten, auf Woodrow Wilsons "14 Punkten" beruhenden Frieden zu garantieren. Dementsprechend stellte der "Vater" der Weimarer Verfassung, Hugo Preuß, den ersten Entwurf der Konstitution bewusst als Abkehr von der Reichsverfassung von 1871 und als aktualisierte Fassung der Ideale des Paulskirchenparlaments von 1848/49 vor.

Darüber hinaus wurde der militärische Zusammenbruch der Mittelmächte von vielen Deutschen als Voraussetzung für eine friedliche großdeutsche Erweiterung des Reichs, den Anschluss "Deutsch-Österreichs" unter dem Zeichen des Selbstbestimmungsrechts der Völker, angesehen. "Stolz stehen wir da und aufrecht und pflanzen am Grabe des alten Reiches die Hoffnung aufs größere Deutschland auf", hieß es im Spätherbst 1918 in einem Kommentar der Zeitschrift "Die Hilfe": "Jetzt können wir, anders wie unsere Väter 1871, unser Haus von Grund auf neu bauen." Auch die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSPD), die als stärkste politische Kraft aus den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung hervorgegangen war und mit Friedrich Ebert den ersten Reichspräsidenten der Republik stellte, setzte sich nachdrücklich für eine Überwindung des kleindeutschen Bismarckreiches ein. Dass Ebert und andere führende Republikaner im Frühjahr 1919 auf einen Anschluss "Deutsch-Österreichs" drängten, hatte mehrere Gründe. Zum einen wäre der Anschluss ein Beweis für die Fähigkeit der Republik gewesen, eine umfassendere Lösung der deutschen Frage herbeizuführen als Bismarck im Jahre 1871. Zweitens konnten die Parteien, die im Oktober 1918 unverhofft an die Macht gekommen waren, durch die Unterstützung der Anschlussbewegung demonstrieren, dass die Republik die großdeutsch-demokratischen Traditionen der 1848er Revolution wahrte. Bismarcks kleindeutsche Lösung der deutschen Frage und das auf der Verfassung von 1871 beruhende politische System wurden der Öffentlichkeit als "Fehler der Reichsgründung" präsentiert, deren "späte Korrektur" die Republik vornehmen könne.

Die großdeutsche, dezidiert gegen das kleindeutsche Bismarckreich gerichtete Rhetorik Eberts erfuhr einen entscheidenden Dämpfer, als die deutsche Delegation in Versailles im Mai 1919 erfuhr, dass die alliierten Siegermächte den Anschluss Österreichs unter keinen Umständen erlauben würden. Das Anschlussverbot der Alliierten erwies sich als Debakel für die republikanische Linke: Ebert und andere führende Sozialdemokraten hatten wiederholt betont, dass das Bismarckreich kleindeutsch und daher "unvollendet" gewesen sei. Noch am 18. März 1919 hatte das publizistische Flaggschiff der Sozialdemokraten, der "Vorwärts", erklärt: "Das kleindeutsche Reich Bismarcks ist in die Katastrophe des Weltkrieges hineingetaumelt, aber der großdeutsche Gedanke von 1848, der den Zusammenschluss aller Deutschen, auch der Deutschösterreicher, als Ziel vor Augen hatte, er marschiert und vollendet sich in unseren Tagen unter dem Zeichen des schwarz-rot-goldenen Banners, der Revolutionsfahne von 1848."

Die endgültige Ablehnung des Anschlusses durch die Alliierten schuf eine Angriffsfläche, auf die sich die Propaganda der Rechten umgehend einschoss. Die konservative Wochenschrift "Tradition" hatte den Sozialdemokraten bereits Anfang April 1919 vorgehalten, dass eine friedliche Revision der kleindeutschen Grenzen unrealistisch sei: "Wenn man mit Worten und warmem deutschen Herzen Reiche gründen könnte, dann hätten die Idealisten der Frankfurter Paulskirche uns schon vor 70 Jahren das große deutsche Vaterland vom Belt bis an die Adria geschenkt." Nach dem alliierten Anschlussverbot sah der Chefredakteur der "Neuen Preußischen Zeitung" und spätere Vorsitzende der DNVP, der bereits erwähnte Kuno Graf von Westarp, diese Einschätzung bestätigt, denn den Vätern der Verfassung war es "nicht gelungen (...), den Plan eines größeren Deutschlands zu verwirklichen, um dessentwillen sie sich bei Beginn der Verhandlungen [über die Weimarer Verfassung, R.G.] einem Bismarck so gewaltig überlegen dünkten." Von Westarps Erleichterung war verständlich, denn infolgedes Scheiterns ihres Versuchs, eine großdeutsche Republik zu schaffen, hatte die demokratische Linke ihr stärkstes und zugkräftigstes Argument gegen Bismarcks kleindeutsches Reich von 1871 verloren. Nach dem Anschlussverbot fehlte dem Versprechen der Mehrheitssozialdemokraten, das "unvollkommene" Bismarckreich durch eine großdeutsche Republik zu ersetzen, etwas ganz Entscheidendes, nämlich die Glaubwürdigkeit.

Das Anschlussverbot und die Unterzeichnung des Versailler Vertrages am 28. Juni 1919 trugen in starken Maße zur Radikalisierung des politischen Klimas bei. Der verlorene Krieg und die Errichtung einer als "undeutsch" empfundenen demokratischen Regierungsform wurden von rechten Parteien als direkte Folge des "Dolchstoßes" in den Rücken der kämpfenden Truppe dargestellt, den die Novemberrevolutionäre der "im Felde unbesiegten" deutschen Armee versetzt hatten. Von Anfang an war die "Dolchstoßlegende" aufs Engste mit dem Bismarck-Mythos verknüpft. Denn die "Verräter" vom November 1918 waren in erster Linie "Verräter" am untergegangenen Bismarckreich. So empfahl der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Gottfried Traub im Rahmen einer Debatte über ein nationales Verfassungsdenkmal in Weimar, dass man eine Statue errichten müsse, die den "Vater" der Reichsverfassung, den "Juden Preuß" dabei zeigen solle, wie er Bismarck einen Dolch in den Rücken stößt.

Popularisierung des Führerkults

In den 14 Jahren des Bestehens der Weimarer Republik nutzte die politische Rechte alle zur Verfügung stehenden Medien - Zeitungsartikel, Radiosendungen, Wahlplakate, Filme -, um die Kernelemente des Bismarck-Mythos nach 1918 zu verbreiten: den Glauben an die Notwendigkeit einer charismatischen Führerfigur und die These der historischen Illegitimität der Republik. Das Ziel der Popularisierung "bismarckschen Gedankengutes" verfolgte auch der zweiteilige Film "Bismarck", der Mitte der 1920er Jahre in die Kinos kam. Der Film sollte, wie die Produzenten freimütig zugaben, bei den Zuschauern die Wahrnehmung der "gegenwärtigen Ohnmacht" schärfen, um "die Seelen (des) Volkes (...) aufzurütteln und ihm zum Bewußtsein zu bringen, was es verloren hat". Das reich illustrierte Begleitbuch erläuterte, warum das neue Medium des Tonfilms gewählt worden war. Zeitungsartikel und Reden, so der Herausgeber Ludwig Ziehen im Geleitwort, seien "gewiß nützlich und notwendig", um Bismarck auf ewig im kollektiven Gedächtnis der Deutschen zu verankern, "aber wirkungsvoller für die Masse ist der Film, der (...) die Taten und Erfolge der Vergangenheit in bewegten Szenen lebendig vor Augen führt".

Die begeisterte öffentliche Aufnahme des Films veranlasste die linke Presse, die fragwürdige historische Authentizität des Werkes anzuprangern. So bemängelte etwa das "Berliner Tageblatt" die einseitige Darstellung des Reichsgründers als genialen Außenpolitiker. Die Produzenten des Films hätten nicht nur den "Bismarck der inneren Politik", den "junkerlich-patriarchalisch eingestellten Gewaltmenschen" verschwiegen, sondern auch versucht, den "Geist von Locarno" mit dem "Geist von Sedan" auszutreiben.

Dass die republikanische Linke dem Bismarck-Kult der Rechten entschieden entgegentrat, lässt sich durch ein weiteres Beispiel illustrieren. Wenige Monate nach dem sozialdemokratischen Erdrutschsieg bei der Reichstagswahl 1928 organisierte die Berliner SPD-Führung eine Großdemonstration im Lustgarten, die an die Verabschiedung des ersten Sozialistengesetzes vom 18. Oktober 1878 erinnern sollte. Fast 100 000 Demonstranten versammelten sich trotz stürmischen Wetters, um den "Eisernen Kanzler" als Unterdrücker der Arbeiterschaft zu schmähen und sich selbst als Sieger in der historischen Auseinandersetzung mit den Gegnern des Sozialismus zu feiern. "Bismarck ist tot", lautete der Spruch auf ihren Bannern, "aber die Sozialdemokratie lebt!"

Doch das zur Schau gestellte republikanische Selbstbewusstsein der SPD sollte nicht lange währen. Mit dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise erhielten jene Kräfte Rückenwind, die der Republik feindlich gegenüberstanden. Vor allem aber entstand durch die Krise nach 1929 ein Klima, in dem die durch den Bismarck-Mythos popularisierte Kritik an der parlamentarischen Demokratie und der Glaube an die Notwendigkeit eines "zweiten Bismarck" auf fruchtbaren Boden stieß. Niemand beutete das verbreitete Verlangen nach einem "neuen Bismarck" mit größerem demagogischen Geschick aus als der Führer der nunmehr größten Oppositionspartei im Reichstag, Adolf Hitler.

Hitler hatte bereits im April 1922 vor einer noch kleinen Schar von Anhängern deutlich gemacht, dass er von der propagandistischen Macht des Bismarck-Mythos überzeugt war: "In Bismarcks Spuren müssen wir wandeln. Nur so können wir Millionen von Wählern gewinnen. Und wenn die Zeit dann kommt, dann wollen wir sagen: wir beugen unser Haupt vor Dir, Bismarck." Nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise intensivierte Hitler seine Bemühungen, sich den Wählern als "zweiter Bismarck" zu präsentieren. In einer Parteitagsrede von 1931 rief er seinen begeisterten Zuhörern zu: "Wenn Bismarck heute wiederkäme mit seinen Mitstreitern, sie ständen heute alle bei uns." Freilich wäre es unsinnig, den Bismarck-Mythos für den Aufstieg Hitlers verantwortlich zu machen. Aber der Mythos half Hitler fraglos bei seinem Bestreben, eine Brücke zwischen seiner Anhängerschaft und dem konservativen Bürgertum zu schlagen.

Wie wenig Hitlers Kanzlerschaft mit derjenigen Bismarcks gemein haben würde, hätte jedem klar sein müssen, der "Mein Kampf" gelesen oder Hitlers Reden gehört hatte. Hitler hatte nie einen Hehl aus seiner Absicht gemacht, radikal mit allen parlamentarischen und konstitutionellen Traditionen zu brechen, die das Bismarckreich eben auch charakterisiert hatten. Der linksliberale Journalist und spätere Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky wies in einem vielbeachteten Aufsatz von 1931 jeden Vergleich zurück: "Bismarck war eine Jahrhundertgestalt, wer aber ist Adolf Hitler? Wie stark muss die Verblödung eines Volkes vorangeschritten sein, das in diesem albernen Poltron [Prahlhans] einen Führer von Bismarckschem Format sieht?"

In der öffentlichen Diskussion des krisengeschüttelten Deutschland beherrschten jedoch diejenigen das Feld, die in Hitler den Mann sahen, der Bismarcks Werk vollenden würde. Generalleutnant Richard Kaden zum Beispiel kommentierte die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 mit den Worten: "Wie deutlich bestätigt uns wieder die Schicksalswende vom 30. Januar den alten Erfahrungssatz, dass nie die Masse, nur der Führer, die einzelne Persönlichkeit die Befreiung bringen kann (...). Das sahen wir an Bismarck, das sehen wir jetzt wieder an Hitler, der mit seinem flammenden Kampfrufe die Massen aufrüttelte und sie in der Verbindung von nationalem Empfinden und sozialem Verständnis einte." Die Einsicht, dass Hitlers "Machtergreifung" nicht den Beginn eines deutschen Wiederaufstiegs markierte, sondern den Untergang jenes Reiches einleitete, das Bismarck 1871 gegründet hatte, sollte zu spät kommen.

Fazit

Der Bismarck-Mythos spielte in den geschichtspolitischen Debatten der Weimarer Republik eine zentrale Rolle. In den 14 Jahren des Bestehens der ersten deutschen Demokratie blieb die Erinnerung an Bismarck eine ständige Mahnung an vergangene deutsche Größe, die unablässig gegen die vermeintlichen und tatsächlichen Schwächen der Republik ins Feld geführt wurden. War sie, wie ihre rechten Gegner behaupteten, das Ergebnis eines aus Sozialdemokraten, Linksliberalen und Zentrumskatholiken ausgeführten "Dolchstoßes" in den Rücken des "im Felde unbesiegten" deutschen Heeres? War der "Verrat" von 1918 eine späte Rache der "inneren Reichsfeinde" an ihrem alten Widersacher, Otto von Bismarck? Oder hatten die Republikaner Recht, wenn sie erklärten, die Verfassung von 1919 stelle die Erfüllung jener demokratischen Ideale dar, für welche die Revolutionäre von 1848 vor ihrer Unterdrückung durch die deutsche Reaktion gekämpft hatten?

Der öffentliche Meinungsstreit, der sich an Fragen wie diesen entzündete, spiegelte ein Hauptproblem der politischen Kultur der Weimarer Republik wider: das Fehlen eines Minimalkonsenses über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Nation. Die extreme ideologische Fragmentierung der Weimarer Gesellschaft trat in einem Bürgerkrieg der Erinnerungen und historischen Symbole zutage, in dem konkurrierende politische Lager um das Erbe der Vergangenheit kämpften, um ihrer Politik für die Gegenwart und Zukunft einen historischen Sinn zu verleihen.

Darüber hinaus beförderte und popularisierte der Bismarck-Mythos zwei zentrale Elemente der rechten Agitation gegen die Weimarer Republik: die Zurückweisung des Parlamentarismus als "westliche", mit der deutschen Geschichte unvereinbare Staatsform der Sieger des Weltkrieges und den Glauben, dass nur ein starker charismatischer Führer die drängendsten Probleme der deutschen Gesellschaft nachhaltig zu lösen vermöge.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Richard Lewinsohn, Die Bismarck-Legende, in: Die Weltbühne, (1921) 17, S. 33ff. Vgl. zu diesem Beitrag ausführlich: Robert Gerwarth, Der Bismarck-Mythos. Die Deutschen und der Eiserne Kanzler, München 2007.

  2. Hermann Ulrich Kantorowicz, Bismarcks Schatten, Freiburg i. Br. 1921, S. 11.

  3. Bismarck und die Revolution, in: Die Tradition vom 5.4. 1919, S. 19f.

  4. Kuno Graf von Westarp, Der 18. Januar, in: Die Tradition vom 17.1. 1920.

  5. Vgl. Daniel Bussenius, Eine ungeliebte Tradition. Die Weimarer Linke und die 48er Revolution, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004, S. 90 - 114.

  6. Vgl. Jahrbuch der öffentlichen Meinung. 1965 - 1967, hrsg. von Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann, Allensbach-Bonn 1967, S. 144f.

  7. Vgl. Karl Erich Born (Hrsg.), Bismarck-Bibliographie, Köln-Berlin 1966.

  8. Vgl. Sieglinde Seele, Lexikon der Bismarck-Denkmäler, Petersberg 2005.

  9. Vgl. Lothar Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen. Reportage einer Tragödie, München 1998.

  10. Vgl. R. Gerwarth (Anm.1), S. 25 - 29.

  11. Vgl. Robert Gerwarth, The Past in Weimar History, in: Contemporary European History, 15 (2006), S. 1 - 22.

  12. Siehe etwa Berliner Tageblatt vom 10.11. 1918, Morgenausgabe; Max Weber, Deutschlands künftige Staatsform, in: ders., Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 19885, S. 453.

  13. Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Stenographische Berichte und Anlagen (NV), 24.2. 1919, Bd. 326, S. 292.

  14. Wilhelm Heile, Der deutsche Neubau, in: Die Hilfe, (1918) 24, S. 559.

  15. Siehe Eberts Rede anlässlich der Eröffnung der Nationalversammlung in Weimar, NV, 6.2. 1919, Bd. 326, S. 2.

  16. Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, in: NV, 14.2. 1919, Bd. 326, S. 69.

  17. Vgl. Fritz Klein, Between Compiegne and Versailles. The Germans on the Way from a Misunderstood Defeat to an Unwanted Peace, in: Manfred Boemeke/Gerald Felman/Elisabeth Glaser (Hrsg.), The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge 1998, S. 203 - 220.

  18. Vorwärts vom 18.3. 1919.

  19. Die Tradition, (1919) 1, S. 19f.

  20. Neue Preußische Zeitung vom 7.9. 1919, abgedruckt in: Kuno Graf Westarp, Konservative Politik im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, hrsg. von Friedrich Freiherr von Gaertringen, Düsseldorf 2001, S. 272.

  21. Eiserne Blätter, (1927) 9, S. 581.

  22. Ludwig Ziehen, Bismarck. Geleitbuch zum Bismarck-Film, Berlin 1926.

  23. Berliner Tageblatt vom 8.1. 1927, Abendausgabe.

  24. Vgl. An alle Sozialisten, Gewerkschafter und Republikaner Berlins, Landesarchiv Berlin, Acc. 1788/007.

  25. Vorwärts vom 22.10. 1928, Morgenausgabe.

  26. Adolf Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen, 1905 - 1924, hrsg. von Eberhard Jäckel, Stuttgart 1980, S. 599.

  27. Rede in Coburg am 18.1. 1931, in: Adolf Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. 4.1, München 1996, S. 176.

  28. Carl von Ossietzky, Zur Reichsgründungsfeier, in: Die Weltbühne, (1931) 27, S. 79ff.

  29. Richard Kaden, In der alten Armee. Lebenserinnerungen aus Frieden und Krieg, Groitzsch 1933, S. 311.

DPhil (Oxon), geb. 1976; Leiter des Centre for War Studies und Lecturer am College of Arts & Celtic Studies, School of History, University of Dublin, Dublin4/Irland.
E-Mail: E-Mail Link: robert.gerwarth@ucd.ie