Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Versailles und Weimar | 1918/19 | bpb.de

1918/19 Editorial Deutschland und der Große Krieg - Essay Die paradoxe Revolution 1918/19 Weltkrieg und Verfassung als Gründungserzählungen der Republik Bismarck und die Weimarer Republik Die neue Staatenwelt nach 1918 Versailles und Weimar

Versailles und Weimar

Wolfgang Elz

/ 19 Minuten zu lesen

Von Anfang an hatten die Außenpolitik und deren Grundlage, die Friedensordnung des Versailler Vertrags, ihren gewichtigen Anteil am Scheitern der Republik.

Einleitung

Am 28. Juni 1919 unterschrieb Deutschland unter ultimativem Druck der Sieger den Versailler Vertrag. Etwa 13 Prozent seines Territoriums musste das Deutsche Reich abtreten; die größten Verluste betrafen im Westen Elsass-Lothringen und im Osten Posen und Teile Westpreußens, die an das neu entstandene Polen gingen. Das Saargebiet fiel unter die Verwaltung durch den Völkerbund, der es Frankreich für 15 Jahre zur Ausbeutung der Kohlegruben überließ. Eine Territorialklausel stellte indirekt auch das im Vertrag verankerte "Anschlussverbot" für das aus dem zerfallenen Habsburgerreich hervorgegangene "Deutsch-Österreich" dar. Und zumindest vorübergehend verlor Deutschland die Souveränität über weiteres Reichsgebiet: Links des Rheins und mit Brückenköpfen auf dem rechtem Ufer wurden drei alliierte Besatzungszonen errichtet, die - von Nord nach Süd - in frühestens fünf, zehn und fünfzehn Jahren geräumt werden sollten - vorausgesetzt, Deutschland erfüllte alle übrigen Verpflichtungen des Versailler Vertrags.



Das Rheinland und ein 50 Kilometer breiter Streifen rechts des Rheins wurden entmilitarisiert; das Heer durfte lediglich 100 000 länger dienende Soldaten umfassen. Die Flotte wurde auf einige wenige und in der Tonnage begrenzte Schiffe beschränkt, eine Luftwaffe ganz untersagt. Alle neuen und militärisch wichtigen Kriegsgeräte des Weltkriegs - Panzer, Flugzeuge, U-Boote - waren verboten: Diese Reichswehr war "nur für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebietes und zur Grenzpolizei" gedacht.

Als besonders belastend erwies sich die Reparationsfrage. Sie war juristisch an Artikel 231, dem "Kriegsschuldartikel", aufgehängt: Deutschland war schuld am Kriegsausbruch - folglich war Deutschland haftbar für alle "Verluste und Schäden", die den Kriegsgegnern entstanden waren. Immerhin erkannten die Gegner an, dass Deutschland diese Summe, die der Theorie nach selbst die Kosten jeder Gewehrkugel und die Rente jeder Kriegshalbwaisen umfasst hätte, nicht zahlen konnte. Aber die Höhe der Reparationen wurde im Versailler Vertrag nicht festgelegt, sondern späterer Festsetzung durch die Sieger übertragen.

Revisionisten

Der französische Ministerpräsident Clemenceau hatte bei der Übergabe der Vertragsbedingungen als Präsident der Friedenskonferenz betont, "daß dieser zweite Versailler Friede (...) von den hier vertretenen Völkern zu teuer erkauft worden ist, als daß wir nicht einmütig entschlossen sein sollten, sämtliche uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um jede uns geschuldete berechtigte Genugtuung zu erlangen". Tatsächlich war Frankreich mit dem Vertrag aber keinesfalls zufrieden: In den Verhandlungen der Sieger hatten sich ganz unterschiedliche Vorstellungen gezeigt, und insbesondere zwischen den "großen Drei", neben Clemenceau der britische Premier David Lloyd George und der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, war bis an den Rand des Abbruchs verhandelt worden. Frankreich hatte Maximalforderungen durchsetzen wollen, mit der Rheingrenze geliebäugelt, vielleicht gar mit der Auflösung des Reichs und der Rückführung auf den Stand von 1866. Den angelsächsischen Vertretern ging dies entschieden zu weit: Lloyd George wollte die halbhegemoniale Vorkriegsstellung Deutschlands nicht durch eine Kontinentalvormacht Frankreich ersetzt sehen; für Wilson waren die französischen Pläne unvereinbar mit seinen Vorstellungen von der friedlichen und für den amerikanischen Handel vorteilhaften Nachkriegsordnung in Europa, wie sie in seinem Vierzehn-Punkte-Programm vom Januar 1918 festgelegt war.

Die französischen Motive waren aber nicht rein imperialistisch oder expansiv: Man fürchtete den deutschen Nachbarn, der in fünf Jahrzehnten zweimal Krieg in Frankreich geführt und unermessliche Schäden hinterlassen hatte, den man in demographischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht als strukturell überlegen ansah und dessen Angriffspotential daher nachhaltig geschwächt werden musste. Das Ergebnis hinterließ in Frankreich den schalen Beigeschmack, das eigentliche Kriegsziel, nämlich Sicherheit vor Deutschland, nicht erreicht zu haben. Frankreich blieb vorerst eine revisionistische Macht, die in den Folgejahren versuchte, die Möglichkeiten des Friedensvertrags zu nutzen, um die durch den Wortlaut nicht erreichte Sicherheit nachträglich doch noch zu erlangen.

Philipp Scheidemanns Worte am 12. Mai 1919 in der Nationalversammlung waren exemplarisch für die deutsche Reaktion auf die Vertragsbedingungen: "Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?" Nach seiner Warnung: "Dreimal wehe über die, die heute einen wahrhaften Frieden auch nur um einen Tag verzögern", erhielt er nach Aufzeichnung des Stenographen "minutenlangen brausenden Beifall im Hause und auf den Tribünen"; die darin zum Ausdruck gebrachte Haltung wurde von der ganz überwiegenden Mehrheit in Deutschland geteilt. Und mit Scheidemann hatte ja nicht etwa ein Ewiggestriger von der monarchistischen Rechten dieses harsche Urteil über den Vertrag abgegeben; er hatte sich im letzten Kriegsjahr Schmähungen im Reichstag anhören müssen wegen des "Scheidemann-Friedens", für den er vehement eingetreten war, einen Frieden "ohne Kontributionen und Annexionen".

In Deutschland war für die Mehrheit der Parteien (im Grunde gilt dies für alle Regierungen der Weimarer Republik) von Anfang an klar, dass dieser Vertrag keinen Bestand haben dürfe. Die deutsche Außenpolitik zielte auf Revision der zentralen Vertragsteile. Folglich standen sich mit Frankreich und Deutschland zwei Hauptakteure der europäischen Politik als Revisionisten gegenüber. Revisionismus von Staaten nach einem großen Krieg ist in der Geschichte der Neuzeit keine Ausnahme: Frankreich nach 1815 und vor allem unter Napoleon III. sowie nach 1871, Russland nach dem verlorenen Krimkrieg und erneut - als Sowjetrussland bzw. ab 1922 als Sowjetunion - nach den Territorialverlusten an den Rändern des Russischen Reiches infolge von Weltkrieg und Revolution sind Beispiele dafür, wie Nachkriegsordnungen revidiert werden sollten. Letztlich gilt dies - wenn auch nicht mehr als Großmacht und unter völlig veränderten Bedingungen - selbst für die Bemühungen der Bonner Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die "Deutsche Frage" offenzuhalten und sich nicht mit der Teilung abzufinden. Die Beispiele weisen indes darauf hin, dass der Begriff Revisionismus nicht präzise genug für eine Beurteilung ist: Es kommt auf Methoden, Instrumentarien und Ziele an.

Belastung der Republik

Der Versailler Vertrag war nicht nur eine der großen Belastungen der Außenpolitik, sondern eines der zentralen Probleme der Weimarer Republik von allem Anfang und bis zu ihrem Ende. Sicher wird man keine direkte Linie ziehen können zwischen der Unterzeichnung in Versailles und dem Untergang der Republik und der Auslieferung des Staates an ein verbrecherisches Regime, wie überhaupt in der Geschichte monokausale Erklärungen meist nichts taugen. Sicherlich war der Versailler Vertrag nur einer unter anderen Faktoren, der Aufstieg und schließlich "Machtergreifung" der Nationalsozialisten ermöglichte. Schließlich ist die Feststellung einer Belastung der Republik durch den Vertrag auch noch lange nicht identisch damit, den Siegern des Weltkriegs Schuld zuzuweisen, denn es fragt sich, welcher andere Frieden unter den Bedingungen von 1918/19 wohl möglich gewesen wäre: nach dem ersten totalen Krieg der Geschichte, der nicht nur die Armeen, sondern die beteiligten Gesellschaften bis zum Äußersten mobilisiert hatte und der nur mit intensivster Propaganda bei allen Kriegsparteien über vier Jahre hinweg durchzuhalten war. Wenn der Feind über Jahre als Teufel dämonisiert worden war, konnte man sich kaum - wie Regierungen und Diplomaten früherer Jahrhunderte - an den Verhandlungstisch setzen, eine Amnesieklausel formulieren und das Prinzip anwenden, dass der Verlierer - unabhängig von jeder moralischen Frage - zu zahlen habe, wie es noch 1871 der Fall war.

Wie sehr dieser Frieden - genauer gesagt: seine Aufnahme in Deutschland - zur Belastung für die Republik wurde, lässt sich leicht zeigen. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung verband den Friedensvertrag sehr schnell mit der Revolution von 1918 und deren Ergebnis: dem neuen Staat, der Republik und der Demokratie. Und wer zusätzlich an die Legende vom "Dolchstoß" glaubte - und das waren nicht wenige derer, die mit der Novemberrevolution ihr Weltbild zerstört sahen -, wähnte die Republik mit dem doppelten Geburtsfehler des Umsturzes und des schmählichen Friedens auf die Welt gekommen. Der Unmut darüber richtete sich bald gegen die Republik selbst. Dabei wurde übersehen bzw. man konnte es gar nicht wissen, dass Deutschland - gemessen an den französischen Maximalforderungen - eher glimpflich davongekommen war.

Selbst wenn die handelnden Politiker anderes gewollt hätten, war die öffentliche Einschätzung des Friedensvertrags keine gute Ausgangsposition für eine Außenpolitik, die sich an den Realitäten eines geschlagenen Staates zu orientieren hatte. Alle zögerlichen Versuche, die Außenpolitik neu zu orientieren, wie sie bei einzelnen Parteien und Politikern unmittelbar nach dem Waffenstillstand vom November 1918 zu sehen sind, wurden schnell verworfen; von Beginn an wurde die Revision in der Konfrontation mit den Siegern und vor allem mit Frankreich gesucht. Allerdings war dies kaum vermeidbar: Jede Regierung, die davon Abstand genommen hätte, wäre angesichts der Stimmung in der Bevölkerung hinweggefegt worden.

Dieser konfrontativen Politik setzten die Sieger und vor allem Frankreich den von Clemenceau formulierten Willen entgegen, den Friedensvertrag bis zum letzten Iota erfüllt zu sehen. Besondere Bedeutung kam der Reparationsfrage zu. Offener deutscher Widerstand oder der Versuch dilatorischer Politik, verschiedene Konferenzen und Verhandlungsrunden gipfelten 1921 in der ultimativen Forderung von 132 Milliarden Goldmark. Nach dem Scheitern der von der Regierung Joseph Wirth (Zentrum) betriebenen "Erfüllungspolitik", die eigentlich hatte nachweisen sollen, dass die Forderung der Sieger nicht zu erfüllen war, führte die Reparationsfrage unmittelbar ins Krisenjahr 1923.

Krisenjahr 1923

Rapallo blieb nur ein Intermezzo. Dem Inhalt nach handelte es sich bei dem Vertrag mit der Sowjetunion von 1922 formal um einen Normalisierungsvertrag: um die Wiederaufnahme voller diplomatischer und wirtschaftlicher Beziehungen und den gegenseitigen Verzicht auf finanzielle Forderungen. Die dahinterstehende Absicht war allerdings eine andere. Die Sowjetunion, der zweite Paria der Nachkriegsordnung von 1919, war zum einen der Feind des Feindes, nämlich des zwischen beiden Staaten wiedererstandenen Polen, zum anderen hoffte man, sich durch die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten dem Block der Gegner widersetzen und revisionistische Schritte gehen zu können. Aber die wirtschaftlichen und auch politischen Hoffnungen wurden nie eingelöst. So blieb als längerfristiges Aktivum allein die bereits vor Rapallo eingeleitete und selbst mancher Reichsregierung nicht im Detail bekannte Zusammenarbeit der Reichswehr mit der Roten Armee, mit der Abrüstungsbestimmungen umgangen werden konnten. Als unmittelbares Passivum war dagegen eine Verhärtung der Siegermächte zu verbuchen, die sich in ihren Hoffnungen auf eine gemeinsame Politik gegenüber der Sowjetunion getäuscht sahen und hinter dem Vertrag mehr, nämlich eine explizit antiwestliche militärische Allianz, befürchteten.

Nun führt zwar kein direkter Weg von Rapallo zur französisch-belgischen Ruhrbesetzung vom Januar 1923 und damit in das große Krisenjahr der Republik. Aber die durch den Vertrag verhärtete Beziehung zwischen Deutschland und den Siegern erleichterte dem französischen Premierminister Raymond Poincaré die Argumentation: Für einen geringfügigen deutschen Rückstand bei den Lieferungen von Kohle und Grubenholz schickte er eine Armee von 60 000 Soldaten, schlecht getarnt als Schutztruppe für eine kleine Ingenieursgruppe, ins Ruhrgebiet und damit ins Herz der deutschen Schwerindustrie. Der von der Reichsregierung ausgerufene passive Widerstand und der daraus entspringende "Ruhrkampf" entwickelten sich schnell zum Abnutzungskampf und gewissermaßen zur nachgeholten letzten Schlacht des Weltkriegs. Frankreich griff drakonisch durch; Deutschland setzte seine Hoffnungen darauf, dass Frankreich sein Ziel nicht erreichen werde und man Großbritannien, welches das französische Ausgreifen mit Skepsis verfolgte, auf seine Seite ziehen könne, vielleicht auch die USA, die ebenfalls an einer weiteren wirtschaftlichen Schwächung Deutschlands kein Interesse haben konnten. Doch die übergeordneten Interessen der Briten verhinderten einen offenen Bruch mit Frankreich. Und die USA waren nach ihrem Rückzug aus Europa wirtschaftlich, aber kaum politisch am alten Kontinent interessiert.

Bald entstanden für Deutschland neue Probleme, und die alten verschärften sich drastisch: Die Nachschublieferungen in die besetzten Gebiete waren schwierig, weil Frankreich eine Grenze zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet zog. Die durch den Widerstand arbeitslos Gewordenen hingen von der finanziellen Versorgung aus Berlin ebenso ab wie die in großer Zahl ausgewiesenen Beamten, die sich Anweisungen der Besatzer widersetzt hatten. So entwickelte sich aus der Inflation, die ihre Wurzeln bereits im Weltkrieg hatte, die Hyperinflation, auf deren Höhepunkt im Herbst das morgens ausgezahlte Geld am Abend nichts mehr wert war.

Die im August gebildete Große Koalition unter Reichskanzler Gustav Stresemann (Deutsche Volkspartei) musste bald einsehen, dass der Kampf gegen Frankreich nicht zu gewinnen war, und schließlich führte kein Weg mehr an der bedingungslosen Kapitulation, also der Aufhebung des passiven Widerstands, vorbei. Damit brach ein Sturm los, der die Einheit des Reichs gefährdete: Links- und rechtsradikaler Putschpläne in Sachsen, wo die KPD den "deutschen Oktober" vorbereitete, und in Bayern, die im dilettantischen Hitlerputsch kulminierten, konnte die Reichsregierung nur mit Glück Herr werden. Das nach der Kapitulation im Ruhrkampf faktisch isolierte und nicht weiter von der Notenpresse alimentierte Rheinland drohte verloren zu gehen: Der Separatismus rührte sich, und das kam der französischen Besatzungsmacht nicht ungelegen, die auf dem Umweg der Ablösung des Rheinlands vom Reich ihre Pläne von 1918/19 nachträglich realisieren wollte. Für einige Wochen hielten Separatisten das linksrheinische Gebiet unter Kontrolle, ehe ihnen aus der Mehrheit der Bevölkerung heraus - und mit geheimer Unterstützung von Reichsstellen - die Macht entrissen wurde.

Großbritannien signalisierte Paris nun deutlich, dass die Unterstützung des Separatismus und eine Abtrennung des Rheinlands den Bogen überspannen würden. Als ab November der Hyperinflation durch die vorübergehende Einführung der "Rentenmark" wirksam begegnet werden konnte, war die große Krise bewältigt. Die erfolgreiche Behauptung der Republik führte in innen- und außenpolitisch ruhigere Zeiten hinüber. Dennoch hatte das Jahr 1923 längerfristig desaströse Folgen: Vielen Kleinsparern hatte die Inflation ihr Erspartes entrissen. Damit verloren weitere Teile der Mittelschicht ihr Vertrauen in die Republik, so sie es denn zuvor überhaupt gehegt hatten. Und in der Wahrnehmung der Bevölkerung galt Frankreich nun mehr denn je zuvor, vor allem in den besetzten Gebieten, als Erzfeind.

Stresemanns Außenpolitik

Stresemann, nach dem Ende der Kanzlerschaft Ende November 1923 bis zu seinem Tod Außenminister in allen nachfolgenden Reichsregierungen, hatte die Lektion aus dem Krisenjahr 1923 gelernt: Die Konfrontation mit Frankreich hatte keine Erfolgsaussicht. Der ehemalige Annexionist des Weltkriegs, der sich nur zögernd mit der Realität der Republik abgefunden hatte, entwickelte ein Programm, das von seiner beruflichen Herkunft aus der Wirtschaft geprägt war. Deutschlands Wiederaufstieg in den Kreis der Großmächte und daraus folgend zu Revisionsschritten war an sein wirtschaftliches Potential gebunden und an das Interesse der Amerikaner und in zweiter Linie der Briten an einem ökonomisch gesunden und weltwirtschaftlich integrierten Deutschland. Voraussetzung für Gesundung und Prosperität waren politisch ruhige Verhältnisse in Europa. Die Bedingung war ein Ausgleich zwischen Deutschland und Frankreich. Dieser konnte nur gelingen, wenn man sich in die Lage Frankreichs versetzte und das Pariser Bedürfnis nach Sicherheit als Realität akzeptierte. Eine offene Konfrontation dagegen verhinderte nicht nur die wirtschaftliche Gesundung, sondern auch jeden Erfolg in der Revisionsfrage.

Frankreichs Erfolg im Ruhrkampf erwies sich schnell als Pyrrhussieg. Der Franc war stark geschwächt, und Großbritannien und die USA hatten großes Interesse daran, Paris die Reparationsfrage als politischen Hebel zu entwinden und sie zu einer finanztechnischen Angelegenheit zu machen. Frankreich musste sich dem beugen, und eine internationale Sachverständigenkommission legte im Frühjahr 1924 den Dawes-Plan vor, der Deutschland zunächst Vorteile brachte. Was schließlich auf der Londoner Konferenz im August 1924 verabschiedet wurde, reduzierte zum einen vorläufig die jährlich zu zahlenden Raten, und zum anderen war Deutschland künftig nur in dem Umfang leistungspflichtig, wie es ohne Gefährdung seiner Währung zahlen könne. Damit war französischem Selbstbedienungsverhalten ein Riegel vorgeschoben. Aber auch auf anderer Ebene war die Londoner Konferenz ein Novum: Deutschland war erstmals seit dem Krieg zu Verhandlungen zugelassen. Stresemann und Reichskanzler Hans Luther hatten die Gelegenheit, am Rande der Konferenz mit den Franzosen über die Räumung des Ruhrgebiets zu verhandeln, die schließlich für 1925 zugesagt wurde.

Spätestens hier muss Stresemann die Tragfähigkeit seines Konzepts - Revisionismus durch Verhandlungen - über die Reparationsfrage hinaus klar geworden sein. Als sich Anfang 1925 wieder dunkle Wolken zeigten, als Frankreich, Großbritannien und Belgien über einen dreiseitigen (und in der Wirkung antideutschen) Garantievertrag verhandelten, als schließlich durchsickerte, dass die Kölner Zone nicht zum 20. Januar 1925 geräumt werden würde, weil die Siegermächte die Entwaffnungsbestimmungen als nicht erfüllt ansahen, ging das Auswärtige Amt, vom britischen Botschafter Viscount D'Abernon wiederholt diskret auf diese Möglichkeit hingewiesen, in die diplomatische Offensive: Es schlug Frankreich und Großbritannien einen Vertrag vor, der die deutsche Westgrenze gegen gewaltsame Veränderungen sicherte, zudem die neutrale Zone links und rechts des Rheins für dauerhaft erklärte und Großbritannien (und später auch Italien) als Garanten gegen jede gewaltsame Änderung vorsah.

Nach monatelangen Verhandlungen wurden die entsprechenden Verträge im Oktober 1925 in Locarno paraphiert. Anfängliche französische Einwände waren ausgeräumt worden: Warum die deutsche Ostgrenze zu Polen und zur Tschechoslowakei nicht in gleicher Weise garantiert würde? Ob Deutschland denn bereit sei, als Vorbedingung für einen solchen Vertrag in den Völkerbund (der ihm 1919 verschlossen geblieben war) einzutreten? Stresemann machte deutlich, dass eine vergleichbare Anerkennung der Ostgrenze für einen deutschen Politiker nicht machbar sei; der Völkerbundsbeitritt wurde von Stresemann zugestanden, als London und Paris versicherten, bei einer antisowjetischen Aktion des Völkerbunds Deutschland nicht zur Teilnahme zu zwingen, somit keine Gefahr bestünde, dass die Berliner Beziehungen zu Moskau durch den Beitritt unmittelbar leiden würden.

Voraussetzung für das Zustandekommen der Locarno-Verträge, die im Dezember nach innerdeutschen Komplikationen - Austritt der rechtsgerichteten DNVP aus der Mitte-Rechts-Regierung - in London unterzeichnet wurden, war eine besondere personelle Konstellation gewesen: Stresemann hatte mit dem französischen Außenminister Aristide Briand einen kongenialen Verhandlungspartner gefunden, nachdem Poincaré vorübergehend in den Hintergrund gedrängt war. Austen Chamberlain als britischer Außenminister erkannte die Vorteile eines deutsch-französischen Ausgleichs auch für London, sodass der Preis einer Garantie ihm nicht zu hoch erschien.

Stresemanns Kalkül ging weiter: Er hoffte zeitweilig darauf, Belgien das Gebiet Eupen-Malmédy wieder abzukaufen; in vagen Träumen hing er wohl auch der Idee an, die wirtschaftliche Schwäche Polens zu nutzen und ihm zumindest einen Teil der abgetretenen Gebiete abhandeln zu können. Beides sollte nie Realität werden, aber näherliegend war ohnehin die Rückgewinnung der Souveränität im eigenen Land, und das hieß in erster Linie: die Beendigung der Rheinlandbesatzung. Mit diesen "Rückwirkungen" hatte er gegenüber einer skeptischen Öffentlichkeit für die Verträge von Locarno geworben. Ein deutsches Zugeständnis wie der freiwillige Verzicht auf Elsass-Lothringen würde Frankreich zu Gegenleistungen ermutigen. Mühsam rang er um solche Gegenleistungen, aber abgesehen von der Räumung der 1. Zone Ende 1925 sollte es bis 1929 dauern, bis die Räumung des gesamten Rheinlands für den Sommer 1930 von Frankreich zugestanden wurde.

Dabei hatte im Herbst 1926, als Deutschland in den Völkerbund aufgenommen worden war, bei einem geheimen Treffen zwischen Briand und Stresemann im Dorf Thoiry am Genfer See ein Plan zur Gesamtbereinigung aller zwischen Deutschland und Frankreich strittigen Punkte auf dem Tisch gelegen: Deutschland würde Frankreich bei seinen Finanzschwierigkeiten helfen; dafür würde Frankreich das Rheinland räumen, das Saargebiet frühzeitig zurückgeben und nichts gegen eine deutsche Einigung mit Belgien über Eupen-Malmédy unternehmen. Es zeigt die begrenzten Möglichkeiten der beiden Hauptpersonen und somit die Grenzen deutsch-französischer Zusammenarbeit auf, dass diese bilaterale Verständigung bereits nach wenigen Wochen wieder vom Tisch war: In Paris, vor allem aber in London und Washington hatte man ablehnend auf diese aus angelsächsischer Sicht allzu enge deutsch-französische Kooperation reagiert und das Projekt mit finanziellen Fesseln zu Fall gebracht.

Dennoch waren die folgenden Jahre bis zu Stresemanns Tod die friedlichsten Zwischenkriegsjahre in Mitteleuropa. Hauptgrund war die vertrauensvolle Zusammenarbeit der drei Außenminister Stresemann, Briand und Chamberlain, die fast an das Europäische Konzert des 19. Jahrhunderts erinnerte. Zudem war mit der Entpolitisierung der Reparationsfrage der Weg frei geworden für das Einfließen ausländischen, vor allem amerikanischen Kapitals nach Deutschlands und damit für einen gewissen Aufschwung. Auch dies war ein Teil von Stresemanns Kalkül, denn er zielte mit seiner auf Verhandlungen setzenden Außenpolitik auch auf die Innenpolitik: Sein Ideal war es, über die Wiedergewinnung einer deutschen Großmachtstellung mit friedlichen Methoden und den sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Aufschwung auch die "Volksgemeinschaft" - ein später von den Nationalsozialisten pervertierter Begriff, der in der Weimarer Republik selbst von gemäßigten Sozialdemokraten verwandt wurde - zu fördern, eine auch politisch-gesellschaftliche Versöhnung der dafür erreichbaren Gruppen auf der linken und rechten Seite des politischen Spektrums. Hier - und wohl nur mit dieser Konzeption - hätte die Chance gelegen, eine Mehrheit der Bevölkerung mit dem revidierten Vertrag zu versöhnen und der Republik ein stabileres Fundament zu geben. Schnelle Erfolge hätten diese Außenpolitik und die erhoffte, innenpolitisch heilsame Wirkung gestützt, aber sie blieben weitgehend aus. Für seinen Weg musste Stresemann gegen vielfache Gegnerschaft im eigenen Land und selbst in der eigenen Partei bis zur Erschöpfung der ohnehin fragilen Gesundheit werbend arbeiten.

Weltwirtschaftskrise

Schon Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten im April 1925 hatte offenbart, dass sich eine - wenn auch nur relative - Mehrheit der Bevölkerung lieber vom Heroen des Weltkriegs repräsentiert sah als von seinem nüchternen Gegenkandidaten Wilhelm Marx (Zentrum). Auch wenn Hindenburg als Reichspräsident gegenüber Stresemanns Außenpolitik allenfalls Vorbehalte geltend machte, aber doch letztlich stets nachgab, war diese Wahl kein gutes Zeichen für die Republik. Dabei gewann Deutschland mit seiner Außenpolitik in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre durchaus Ansehen: Es war an internationalen Verhandlungen nun gleichberechtigt beteiligt und spielte gelegentlich eine wichtige Rolle, etwa beim Zustandekommen des Kriegsächtungspakts ("Briand-Kellogg-Pakt") vom August 1928.

Selbst Stresemanns wiederholte Auftritte vor dem Völkerbund zugunsten deutscher Minderheiten in den nach dem Krieg neu entstandenen Staaten wurden ihm nicht negativ ausgelegt, vor allem nicht in Großbritannien, wo man an der Weisheit der territorialen Neuordnung von 1919 ohnehin zu zweifeln begonnen hatte. Sicher standen auch nach Osten gerichtete territoriale Revisionsvorstellungen Stresemanns dahinter. Aber das Entscheidende waren die Methoden: Ein Bruch der Verständigungspolitik gegenüber den Großmächten hin zu brachialer Revision, die letztlich auch Gewalt einschloss, war für ihn nicht nur von der deutschen militärischen Schwäche her auf längere Sicht ausgeschlossen, sondern von der Konzeption seiner Außenpolitik. Die deutsche Großmachtrolle beruhte auf wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit den anderen wichtigen Wirtschaftsnationen und insbesondere den USA - und diese Zusammenarbeit gab es nur in einem friedlichen Mitteleuropa.

Wie sehr man Deutschland entgegenzukommen bereit war, zeigte sich, als 1929 die Reparationsfrage erneut akut wurde. Allen Beteiligten war klar, dass der Dawes-Plan nicht durchzuhalten war, und wieder aufgrund von Expertenvorarbeiten wurde der Young-Plan aufgestellt, der Deutschland zwar auf lange Sicht - nämlich bis 1988 - zu Reparationen verpflichtete, aber doch vorübergehend Erleichterung brachte. In innenpolitischer Hinsicht wichtiger war jedoch ein Vorgang im Umfeld des Young-Plans. Die NSDAP, bei der Reichstagswahl von 1928 noch eine Splitterpartei, tat sich mit der nach rechts driftenden DNVP zusammen und setzte einen Volksentscheid gegen den Young-Plan in Gang, der auf das Zerreißen des Versailler Vertrags hinauslief. Dass am Ende nur 13,8 Prozent der Wahlberechtigten zustimmten, verdeckt die Bedeutung: Der NSDAP gelang es mit dieser Aktion, sich in den rechten Rand des bürgerlichen Lagers vorzuarbeiten und als Vorhut des "nationalen Lagers" zu präsentieren. Radikale Agitation gegen den Versailler Vertrag war salonfähig geworden.

Am Rande der Unterzeichung des Young-Plans hatte Stresemann im August 1929 erreicht, dass für 1930 die endgültige Räumung des Rheinlands zugesichert wurde. Der Außenminister erlebte diesen ersten großen Erfolg seiner Revisionspolitik nicht mehr: Im Oktober 1929 starb der 51-Jährige. Unter seinem Parteifreund und Nachfolger Julius Curtius wurde seine Außenpolitik zwar nicht sofort über Bord geworfen, aber schon die Umstände erschwerten die Weiterverfolgung einer auf Verständigung setzenden Politik. Das innenpolitische Klima wurde rauer in Zeiten der Weltwirtschaftskrise, die im Herbst 1929 in den USA ihren Anfang nahm und sehr schnell nach Europa und insbesondere nach Deutschland hinüberschwappte, wo sich die Abhängigkeit von amerikanischem Kapital nun als fatal erwies. Die Arbeitslosenzahl stieg rasch, und der wirtschaftliche Niedergang war ein idealer Nährboden für jene, die den Versailler Vertrag und die vermeintliche Knechtung Deutschlands dafür verantwortlich machten. Der große Wahlerfolg der NSDAP bei der Reichstagswahl vom September 1930, als sie mit 18,2 Prozent zweitstärkste Partei wurde, signalisierte vor allem Frankreich, das zuvor schon nur zögerlich zu revisionistischen Konzessionen bereit gewesen war, wie sehr sich der Wind binnen kurzem gedreht hatte. Das erste Präsidialkabinett unter Heinrich Brüning (Zentrum) tat sein Übriges, um die internationale und die innere Anspannung zu verschärfen.

Der von Curtius ohne internationale Absicherung 1931 vorgelegte Vertrag einer deutsch-österreichischen Zollunion wurde von den Nachbarn als Vorstufe für den in Versailles verbotenen "Anschluss" betrachtet und folgerichtig vom Internationalen Gerichtshof abgelehnt. Brüning verschärfte die Krise, indem er die Aufhebung der Reparationen über alles setzte und dafür mit seiner Deflationspolitik, die den Reparationsgläubigern deutsche Zahlungsunfähigkeit beweisen sollte, den weiteren massenhaften Anstieg der Arbeitslosenzahlen in Kauf nahm. Zwar hatte der auf die Reparationen zielende Teil der Politik letztlich Erfolg: In Reparationsfragen entscheidend war stets das Entgegenkommen der USA, denn die Forderungen von Briten und Franzosen gegenüber Deutschland waren zum Großteil in der eigenen Zahlungsverpflichtung aus Kriegsschulden gegenüber Washington begründet. Daher war das einjährige Moratorium für alle Schuldenzahlungen, das Präsident Herbert Hoover im Juni 1931 verkündete, ein wichtiger Schritt, dem schließlich auf einer Konferenz in Lausanne 1932 die faktische Streichung der Reparationsverpflichtungen folgte. Aber innenpolitisch kam in Deutschland jede Wirkung zu spät, und die Folgen der Deflationspolitik waren katastrophal. Die antirepublikanischen Parteien am rechten und linken Rand, NSDAP und KPD, erhielten einen solchen Zulauf, dass parlamentarisches Regieren aussichtslos erschien.

Brüning erlebte das Ende der Reparationen nicht mehr im Amt. Sein Nachfolger Franz von Papen mit dem "Kabinett der Barone" verschärfte nun noch einmal die außenpolitische Strategie, die von Stresemann überwunden, aber schon unter Brüning wieder als Option entdeckt worden war, nämlich den Versuch, Großbritannien und Frankreich gegeneinander auszuspielen. In den Mittelpunkt war nun die Abrüstungsfrage getreten: Der Versailler Vertrag hatte die allgemeine Abrüstung zum Ziel erklärt und die deutschen militärischen Restriktionen nur als deren ersten Schritt definiert. Aber seit Jahren schleppten sich die Verhandlungen am Rande des Völkerbunds über die Umsetzung der Vertragsregelungen hin, und in Deutschland wurde nun - von der NSDAP geschürt - der Ruf nach "Gleichberechtigung" auch in der Rüstungsfrage immer lauter. Frankreich war angesichts der inneren Entwicklung beim Nachbarn nicht bereit, seinen letzten Trumpf, die militärische Überlegenheit, preiszugeben. Auch nach der Eröffnung der Abrüstungskonferenz im Februar 1932 gab es keine Annäherung, und die deutschen Drohszenarien wurden drastischer.

Fazit

In Anbetracht der krisenhaften Zuspitzung in Deutschland war die Außenpolitik kein unmittelbarer Auslöser für das Geschehen vom Januar 1933. Doch von Anfang an hatten die Außenpolitik und deren Grundlage, die Friedensordnung des Versailler Vertrags, ihren gewichtigen Anteil am Scheitern der Republik.

Stresemanns Versuch, über die Außenpolitik auch die Republik zu stabilisieren, war nicht gerade Episode geblieben, aber hatte sich nicht etablieren können. Dass der früheren Unzufriedenheit in Deutschland über die mangelhaften revisionistischen Erfolge noch für einige Jahre nach 1933 der Irrtum bei den Siegern des Weltkriegs folgte, Hitler würde mit seinem brachialen Vorgehen lediglich diese Revision betreiben, setzte die zerstörerische Wirkung des Vertrags fort. Hitlers schnelle Erfolge mit den vermeintlich auf Revision zielenden Schritten verliehen dem Regime in Deutschland Popularität wie kaum etwas anderes. Als er 1940 im Wald von Compiègne endlich die "Schmach von 1919" getilgt zu haben schien, wie man in weiten Kreisen glaubte, erwies sich dies kurze Zeit darauf als fatale Fehleinschätzung, als er nicht nur die europäische Friedensordnung von 1919 endgültig zerriss, sondern auch Deutschland in den Untergang führte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vollständiger Text: Der Vertrag von Versailles. Der Friedensvertrag (...). Amtlicher Text der Entente und amtliche deutsche Übertragung (...). Im Auftrage des Auswärtigen Amtes, Berlin 19242.

  2. Quellen zum Friedensschluß von Versailles. Hrsg. v. Klaus Schwabe, Darmstadt 1997 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 30), S. 242.

  3. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 327: 1919, Berlin 1920, S. 1082ff.

Dr. phil., geb. 1956; Akademischer Oberrat am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität, 55099 Mainz.
E-Mail: E-Mail Link: elz@uni-mainz.de