Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht | UN und Menschenrechte | bpb.de

UN und Menschenrechte Editorial Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht Gibt es eine "Responsibility to Protect"? Der UN-Menschenrechtsrat: Neue Kraft für den Menschenrechtsschutz? Migration und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 Menschenrechts-NGOs im UN-System Die Vereinten Nationen und Menschenrechtsbildung

Idee und Anspruch der Menschenrechte im Völkerrecht

Bardo Fassbender

/ 15 Minuten zu lesen

1948 nahm die UN-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Aber die Zeit, in der "der Westen" die Geltung der Menschenrechtsidee in anderen Ländern erzwingen konnte, ist vorbei.

Einleitung

Für die Geltung der Menschenrechte im Völkerrecht bildet der 26. Juni 1945 die entscheidende Zäsur, der Tag, an dem in San Francisco die 51 Gründungsmitglieder der Vereinten Nationen (UN) die Charta der Weltorganisation annahmen. Im zweiten Absatz der Präambel der Charta bekräftigten die "Völker der Vereinten Nationen" ihren "Glauben an die grundlegenden Menschenrechte, an Würde und Wert der menschlichen Person, an die gleichen Rechte von Männern und Frauen". Gemäß Artikel 1 Nr. 3 der Charta ist es eines ihrer Ziele, "die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen". Seit dieser Zäsur ist der einzelne Staat nicht mehr der einzige Garant der Grund- und Menschenrechte seiner Angehörigen. Vielmehr wurde die völkerrechtliche Ordnung zum Anwalt des Individuums gegenüber den Staaten (und insbesondere dem jeweiligen Heimatstaat des Einzelnen) erhoben - an erster Stelle in den Interessen, die allen Menschen kraft ihres Menschseins gemeinsam sind: Leben, Gesundheit, Freiheit.Noch der Satzung des Völkerbundes von 1919 war ein solches Bekenntnis zu universalen Menschenrechten fremd gewesen. Die im Völkerrecht des 19. Jahrhunderts fest etablierte Ansicht, die Grund- und Menschenrechte seien eine rein innerstaatliche Angelegenheit, hatte den Ersten Weltkrieg unbeschadet überstanden.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Am 10. Dezember 1948 nahm die UN-Generalversammlung in Paris mit 48 Ja-Stimmen bei acht Enthaltungen (der kommunistischen Staaten sowie Saudi-Arabiens und Südafrikas) die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte an. Die Anerkennung der menschlichen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte eines jeden bilde die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt, heißt es am Anfang der Erklärung, worauf Art. 1 Satz 1 bestimmt: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Der italienische Philosoph Norberto Bobbio nannte die Erklärung "etwas völlig Neues in der Geschichte der Menschheit", denn mit ihr sei zum ersten Mal ein System grundlegender Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens in freier Entscheidung angenommen worden - von der Mehrheit der auf der Erde lebenden Menschen, vertreten durch ihre Regierungen. "Mit dieser Erklärung wird ein Wertesystem universal, und zwar nicht nur im Prinzip, sondern faktisch, denn es wurde als Regelung für das Zusammenleben der künftigen Gemeinschaft aller Menschen und Staaten formuliert."

Den historischen Grund der Allgemeinen Erklärung benennt ihre Präambel schon im zweiten Absatz: Die Nichtbeachtung und Verachtung der Menschenrechte habe zu Akten der Barbarei geführt, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllten. Mit diesen barbarous acts waren in erster Linie die Verbrechen der nationalsozialistischen Führung Deutschlands gemeint. Die Formulierung vermittelt aber auch eine ganz grundsätzliche Erkenntnis, fußend auf historischer Erfahrung, die zu der Allgemeinen Erklärung und der durch sie eingeleiteten und bis heute andauernden Entwicklung des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes geführt hat - die Erkenntnis nämlich, dass es nicht ausreicht, die Grund- und Menschenrechte eines Volkes allein der betreffenden nationalen öffentlichen Gewalt anzuvertrauen. "Die Regierung ist eingesetzt, um dem Menschen die Nutzung seiner natürlichen und unabdingbaren Rechte zu verbürgen", hieß es etwa im Artikel 1 der französischen Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1793. Was aber, wenn die Regierung eine systematische Unterdrückung dieser Rechte betreibt, die auch durch ein verfassungsrechtlich garantiertes Widerstandsrecht nicht verhindert werden kann? Für diesen Fall, so die Erkenntnis von 1948, bedarf es einer übernationalen Garantie und möglichst auch institutionellen Sicherung der Menschenrechte. Zugleich wurde den Staaten mit einer International Bill of Rights ein Standard gesetzt, ein Ausdruck des weltzivilisatorisch erreichten Erwartungshorizonts, an dem sich ihre Rechtsetzung und -praxis orientieren und messen lassen sollten. Dieser sei heute allgemein anerkannt, so der Zürcher Staats- und Völkerrechtslehrer Daniel Thürer. Es sei keine Verfassung mehr denkbar, die nicht zumindest einen Kerngehalt der internationalen Menschenrechte verwirkliche. "Das Völkerrecht beinhaltet insofern eine substanzielle Legitimationsgrundlage des staatlichen Verfassungsrechts."

In 30 Artikeln proklamierte die Generalversammlung klassische Freiheitsrechte (wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, die Gewissens- und Religionsfreiheit, die Meinungs- und Informationsfreiheit) auf der einen Seite und wirtschaftliche und soziale Rechte (wie das Recht auf soziale Sicherheit, das Recht auf Arbeit und das Recht auf Bildung) auf der anderen. Der Katalog ist umfangreich, spezifische Schrankenregelungen fehlen. Die Generalversammlung konnte sich diese Großzügigkeit leisten, weil Einvernehmen darüber bestand, dass die Erklärung selbst noch keine rechtsverbindlichen Menschenrechte hervorbringen sollte, sondern vielmehr ein von allen Völkern und Nationen zu erreichender common standard of achievement war, wie es die Präambel der Erklärung selbst sagte. Die erste nationale Verfassung, die diesen Rechtsstandard berücksichtigte, war übrigens das deutsche Grundgesetz von 1949. Heute werden viele Artikel der Erklärung als Ausdruck des Völkergewohnheitsrechts anerkannt.

Von der Allgemeinen Erklärung zu verbindlichen Verträgen

Unter ausdrücklicher Berufung auf die Allgemeine Erklärung entschlossen sich die Mitglieder des Europarates im Jahre 1950, mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) "die ersten Schritte auf dem Weg zu einer kollektiven Garantie bestimmter in der Allgemeinen Erklärung aufgeführter Rechte zu unternehmen" (Präambel). Auf der übereuropäischen, universellen Ebene dauerte der Prozess der Einigung auf verbindliche Verträge zum Schutz der Menschenrechte sehr viel länger. Hier mussten die westlichen Staaten vor allem Kompromisse finden mit den kommunistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion sowie den Entwicklungsländern, die nach und nach ihre Unabhängigkeit erlangten. Erst 1966 wurden die beiden UN-Menschenrechtspakte angenommen: der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Zehn weitere Jahre vergingen, bis die nötige Anzahl von Ratifikationen erreicht war und die Pakte in Kraft treten konnten. Der erste Pakt machte die überwiegende Anzahl der Freiheitsrechte der Allgemeinen Erklärung von 1948 verbindlich, während der zweite die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte der Erklärung aufgriff, sie aber grundsätzlich nicht als einklagbare Individualrechte ausgestaltete, sondern den Vertragsstaaten nur entsprechende "Bemühensverpflichtungen" auferlegte. Während es in Art. 2 Abs. 1 des ersten Paktes heißt, jeder Vertragsstaat verpflichte sich, die in diesem Pakt anerkannten Rechte zu achten und sie allen seiner Herrschaftsgewalt unterstehenden Personen unterschiedslos zu gewährleisten, enthält der entsprechende Artikel des zweiten Paktes nur die Verpflichtung jedes Vertragsstaats, "unter Ausschöpfung aller seiner Möglichkeiten Maßnahmen zu treffen, um nach und nach mit allen geeigneten Mitteln (...) die volle Verwirklichung der in diesem Pakt anerkannten Rechte zu erreichen". Damit wurden die Zusagen unter den Generalvorbehalt des jeweils finanziell und organisatorisch Möglichen gestellt, was durchaus einem Gebot der Aufrichtigkeit entspricht. Denn "nicht alles, was erstrebenswert ist, kann man auch realisieren".

Im Sprachgebrauch der Vereinten Nationen, der das anglo-amerikanische Leitbild des Menschenrechtsschutzes widerspiegelt, bilden die Allgemeine Erklärung von 1948 und die beiden Pakte von 1966 gemeinsam die International Bill of Human Rights. In der Tat sind diese Dokumente die Grundlage zahlreicher späterer universaler Verträge über Einzelfragen des Menschenrechtsschutzes, wie die Diskriminierungsverhütung, die Rechte der Frauen, den Schutz von Kindern und Jugendlichen, Menschenrechte im Justizwesen, die Rechte behinderter Menschen, die Vereinigungsfreiheit der Arbeitnehmer und die Rechte von Staatenlosen, Asylbewerbern und Flüchtlingen. Zu den Menschenrechtsverträgen im weiteren Sinne zählt auch das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, denn der Gerichtshof soll besonders schwere Verletzungen der Menschenrechte (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen) bestrafen und damit auch verhüten.

Die beiden Internationalen Pakte von 1966 sind von fast allen Staaten der Erde angenommen worden. So besteht vom Standpunkt des völkerrechtlichen Vertragsrechtes an der universellen Geltung der Menschenrechte kein Zweifel. Allerdings hat die Volksrepublik China den Pakt über bürgerliche und politische Rechte bis heute nicht ratifiziert. Die USA wiederum konnten sich bislang nicht entschließen, dem Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte beizutreten. Deutliche Lücken weist die Liste der Ratifikationen der beiden Fakultativprotokolle zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte - über die Prüfung von Individualbeschwerden (1966) sowie über die Abschaffung der Todesstrafe (1989) - auf. Beide Pakte kennen keine Kündigungsklausel, sondern nur Regeln über ihre Änderung. Gleichwohl kann ein Staat sie nach den Regeln des allgemeinen völkerrechtlichen Vertragsrechts kündigen, wozu es bisher aber noch nie gekommen ist.

Menschenrechte der "zweiten" und "dritten Generation"

Der völkerrechtliche Menschenrechtsschutz ist zeitlich dem innerstaatlichen (der "westlichen" Staaten) gefolgt. Erst in jüngster Zeit wirkt das Völkerrecht mit eigenen Neuschöpfungen auf das nationale Recht zurück. Die klassischen Freiheitsrechte, die sich schon in den europäischen und nordamerikanischen Verfassungen des 18. und 19. Jahrhunderts finden, werden als "Rechte der ersten Generation" bezeichnet (first generation rights). Diese standen auch noch im Mittelpunkt der EMRK (Recht auf Leben, Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit).

Der wichtigste universale Vertrag, der die im 20. Jahrhundert in das nationale Verfassungsrecht verschiedener Länder eingeführten sozialen und wirtschaftlichen Rechte völkerrechtlich kodifizierte, war der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Hier finden sich als so genannte "Rechte der zweiten Generation" insbesondere: das Recht auf Arbeit, das Recht auf gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, die Gewerkschaftsfreiheit, der Schutz von Familien, Müttern, Kindern und Jugendlichen, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, das Recht "eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit", das Recht auf Bildung sowie das Recht auf Teilnahme am kulturellen und wissenschaftlichen Leben. Einen ähnlichen Inhalt hat die Europäische Sozialcharta von 1961.

Der Begriff der "Rechte der dritten Generation" schließlich ist eine Sammelbezeichnung verschiedener neu proklamierter Menschenrechte, die inhaltlich keine Verbindung aufweisen. Das politisch vielleicht bedeutendste solche Recht ist das "Recht auf Entwicklung", das die Staaten der "Dritten Welt" seit den 1970er Jahren propagiert und in der Form von Resolutionen der UN-Generalversammlung verkündet haben. Eine genaue Definition dieses Rechts, das nicht nur Individuen, sondern auch Völkern zustehen soll, ist bisher nicht gelungen. Im Kern ging es um einen gegen die Industriestaaten gerichteten Anspruch auf Entwicklungshilfe in Form von Geld, Technik und Know-how. Ähnlich gering ausgeprägte Konturen besitzen das früher besonders von den kommunistischen Staaten Ost- und Mitteleuropas (einschließlich der DDR) propagierte "Recht auf Frieden" sowie das "Recht auf eine saubere (oder gesunde) Umwelt", das zum ersten Mal in der Abschlusserklärung der UN-Konferenz von Stockholm von 1972 formuliert wurde. Im Zeichen des weltweit stark gewachsenen Umweltbewusstseins hat dieses Recht an Bedeutung gewonnen und ist in die unmittelbare Nähe des (unumstrittenen) Rechts auf Leben sowie des Rechts auf Gesundheit gerückt. Neuerdings werden einzelne Aspekte des Rechts auf eine saubere Umwelt zu besonderen Rechten verdichtet, zum Beispiel zu einem "Recht auf Wasser".

Bisher konnte für keines dieser "Rechte der dritten Generation" eine völkerrechtlich verbindliche Einigung über die Berechtigten, die Verpflichteten und den genauen Inhalt erzielt werden. Dies zeigt, dass es sich gegenwärtig nicht um individuelle Rechtspositionen handelt, sondern um einen Ausdruck von allgemeinen Zielen der internationalen Gemeinschaft. Es ist aber charakteristisch, dass diese Ziele in der Form von Individualrechten proklamiert werden. Denn seit der Französischen und der Amerikanischen Revolution wird mit den Menschenrechten nicht nur die Verbesserung des Loses des Einzelnen beabsichtigt, sondern die Gestaltung und Umgestaltung der Gesellschaft.

Das Problem der Universalität der Menschenrechte

Ungeachtet der förmlichen Bindung fast aller Staaten der Erde an die wichtigsten universalen Menschenrechtsverträge und wiederholter Bekenntnisse der Regierungen zur Universalität, Unteilbarkeit und Interdependenz aller Menschenrechte ist das Spannungsverhältnis zwischen universalen Menschenrechten und der Autonomie nationaler, regionaler oder religiös bestimmter (Rechts-)Kulturen bis heute ungelöst. Von Zeit zu Zeit wird erklärt, die Menschenrechte seien eine kulturell und geschichtlich bedingte westliche Idee, die sich nicht auf andere Regionen übertragen lasse und die auch keineswegs "zeitlos" gültig sei. Im positiven Völkerrecht findet diese Distanzierung ihren Niederschlag in zahlreichen Vorbehalten zu den Menschenrechtsverträgen, die sich insbesondere auf die Religions- und Glaubensfreiheit sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau beziehen. So konnten sich die asiatischen und die islamisch-arabischen Staaten bis heute nicht entschließen, den universell verbürgten Menschenrechten durch regionale Verträge zu einer größeren Wirksamkeit zu verhelfen und diese damit auch politisch nachdrücklicher anzuerkennen, als es mit der Hinterlegung einer Ratifikationsurkunde im fernen New York oder Genf der Fall ist.

Dennoch ist weltweit unumstritten, dass es einen schützenswerten, universalen menschenrechtlichen Kernbereich (wie das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit, auf Freiheit von willkürlicher Inhaftierung) gibt. Je mehr aber die abwehrrechtliche Grundlage der Menschenrechte verlassen und ihnen eine objektive, gesellschaftsgestaltende Funktion beigemessen wird, desto größer wird das Potential eines Widerspruchs zu dem ebenfalls völkerrechtlich verbürgten Selbstbestimmungsrecht der Völker. "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung", heißt es in dem gemeinsamen Art. 1 Abs. 1 der beiden UN-Menschenrechtspakte. "Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." Das Selbstbestimmungsrecht wurde einer Forderung der "Dritten Welt" gemäß in die Pakte aufgenommen, die damit den Anspruch der Völker unter kolonialer Herrschaft auf Unabhängigkeit verankern wollte. Es war nicht daran gedacht, das Selbstbestimmungsrecht als ein Gegengewicht zu den Menschenrechten aufzubauen. Aus heutiger Sicht aber kann Artikel 1 der Pakte auch als die Markierung einer äußersten Grenze des internationalen Menschenrechtsschutzes verstanden werden: Die Menschenrechte dürfen nicht so ausgelegt werden, als geböten sie eine völlige oder beinahe völlige Angleichung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse eines Landes an den Standard der "real existierenden" Demokratien Europas und Nordamerikas.

Bilanz in Thesen und Fragen

1. Die Menschenrechtsidee hat im Völkerrecht nach dem Zweiten Weltkrieg einen ungeahnten Siegeszug erlebt. Mit dem Potsdamer Völkerrechtler Eckart Klein halte ich es "für schwerlich denkbar, dass die Menschheit hinter diesen Entwicklungsstand wieder generell zurücktreten wird". Es ist nicht zu hoch gegriffen, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen. Diente das klassische Völkerrecht des 19. und 20. Jahrhunderts vornehmlich dem Interesse der Staaten, wurde im Zeitalter der UN das Interesse des Individuums zum höchsten Zweck des Völkerrechts erhoben. Vielleicht lag hierin aber eine Überforderung des Völkerrechts - sind doch insbesondere die tatsächlichen Möglichkeiten des Individuums, seine Rechte völkerrechtlich durchzusetzen, noch immer sehr begrenzt. Ein unmittelbarer Zugang zu einem überstaatlichen Gericht (dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) besteht nur in Europa.

2. Zum großen Teil müssen die Menschenrechtsverträge als ein Ausdruck symbolischer Politik angesehen werden. Politiker feiern jeden Beitritt eines weiteren Landes zu einem Vertrag als großen Fortschritt - als habe dieser förmliche Schritt auf die tatsächliche Lage in dem Land maßgeblichen Einfluss. Wer die zahlreichen Vertragsdokumente in der Annahme liest, die Wirklichkeit entspreche ihren Verbürgungen auch nur ungefähr, fühlt sich als ein Bewohner der besten aller denkbaren Welten. Der Schutz der Menschenrechte ist aber weithin nur semantischer Natur. Der hohe Ratifikationsstand der universalen Menschenrechtsverträge ist nicht für bare Münze zu nehmen. Wenn in einem Land rechtsstaatliche Kultur und entsprechende Institutionen fehlen, wenn in der Ausbildung der Polizisten und Soldaten die Menschenrechte nicht vorkommen, wenn die Bürger nicht einmal von den ihnen zustehenden Rechten wissen, bleibt die Bindung an einen Vertrag wirkungslos.

3. Die normative Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes ist heute von einer gewissen Erschöpfung gekennzeichnet. Mit großem Eifer und sicherlich bestem Willen ist auf universaler und regionaler Ebene ein Vertrag nach dem anderen entworfen und in Kraft gesetzt worden. Bereits bekannte Rechte wurden sowohl im Hinblick auf ihren Inhalt wie ihren Träger differenziert und spezifiziert, neue Rechte hervorgebracht. Selbst die Regierungen haben den Überblick über die sich vielfach überschneidenden und teilweise auch widersprüchlichen Verpflichtungen verloren. Weniger wäre mehr gewesen. Die Klarheit des Programms der Allgemeinen Erklärung von 1948 ist einer eher diffusen normativen Gemengelage gewichen. Die internationale Gemeinschaft sollte sich auf die effektive Durchsetzung eines Kernbereichs der Menschenrechte konzentrieren, anstatt immer neue Rechte zu proklamieren.

4. Diese normative ist zugleich auch eine programmatische Erschöpfung. Es kommt einem das Bild eines Wanderers in den Sinn, der nach einem langen wie beschwerlichen Weg in die Richtung eines ihm verheißenen Gipfels nun nicht mehr so recht weiter weiß, zumal sich seine Erwartung, die Welt um ihn werde immer schöner, nicht bewahrheitet hat. Norberto Bobbio hat die Geschichte der Menschenrechte einmal so beschrieben: "Die Menschenrechte entstehen als universale Naturrechte, sie entwickeln sich weiter zu spezifischen (nationalen) positiven Rechten und realisieren sich schließlich als universale positive Rechte." Demnach hat die Wanderung im 18. Jahrhundert begonnen; sie dauert nun mit einer gewissen Finalität schon 250 Jahre an. Die universalen positiven Rechte sind da und ausgefeilt, doch nun wohin sich wenden? Der Ausbau der völkerrechtlichen Institutionen und Verfahren zum Schutz der Menschenrechte (wie die Gründung eines internationalen Menschenrechtsgerichtshofs mit einer Zuständigkeit für die Entscheidung über Individualbeschwerden) erscheint vielen als die nächste konsequente Etappe. Andere zweifeln: Ist es noch derselbe, vor so langer Zeit eingeschlagene Weg? Stimmen die Ausgangskoordinaten noch? Müsste womöglich, um das angestrebte Ziel zu erreichen, ein ganz anderer Weg gefunden und beschritten werden?

5. Es stellt sich die Frage, wie sich der Aufstieg neuer, "nicht-westlicher" Mächte im internationalen System auswirken wird. Mit anderen Worten: Hat sich die Menschenrechtsidee in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich in der Weise universalisiert, dass sie durch eine relative weltpolitische Schwächung ihrer Ursprungsländer nicht beschädigt wird? Ist es dem Westen gelungen, andere Regionen (China, Indien, Afrika, nicht zuletzt auch das heutige Russland) von der Idee so zu überzeugen, dass diese "selbsttragend" geworden ist, oder wird sie als ein octroi empfunden, dessen man sich, sobald man es nur kann, wieder entledigt? Jedenfalls dürfte die Zeit, in der der Westen die Geltung der Menschenrechtsidee in anderen Erdteilen erzwingen konnte, zu Ende gehen. Es wird in der Zukunft viel mehr Überzeugungsarbeit zu leisten sein - die Menschenrechte müssen erneut erklärt und begründet werden, nicht bloß als eine feststehende Wahrheit verkündet. In einem ernsthaften Dialog der Weltkulturen (das heißt auch: der Weltreligionen) müssen gemeinsame menschenrechtliche Überzeugungen als ein universeller Kern herausgearbeitet werden. Doch dieser Dialog wird nur gelingen, wenn der Westen glaubwürdig versichern kann, dass es ihm nicht darum geht, mit den Menschenrechten sein eigenes politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches System auf den Rest der Welt zu übertragen.

6. Für die Wirklichkeit des Menschenrechtsschutzes dürfte heute die Rolle nichtstaatlicher Organisationen, der international verbreiteten Massenmedien und zunehmend des Internet bedeutender sein als die der völkerrechtlichen Regelwerke. Diese bieten den Organisationen und Journalisten freilich einen wesentlichen Bezugspunkt. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki und die nachfolgenden Dokumente waren zum Beispiel für die Bürgerrechtsgruppen der damaligen Ostblockstaaten eine wichtige Argumentationshilfe. Doch im Alltag des Kampfes um die Menschenrechte verlieren die feinen, in den Rechtsabteilungen der Außenministerien ersonnenen vertraglichen Distinktionen ihre Bedeutung, und der ursprüngliche, programmatische Charakter der Menschenrechte tritt wieder hervor, der so undifferenzierte, doch machtvolle Postulate wie das des Artikels 3 der Allgemeinen Erklärung von 1948 ermöglichte: "Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person."

7. Die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Individuum. Wird die Rolle des Staates begrenzt (zum Beispiel durch Privatisierung öffentlicher Aufgaben) verringert sich auch der Anwendungsbereich der Menschenrechte. Je mehr sich der Staat zurückzieht, umso weniger kann er eine direkte Schutzfunktion für die Menschenrechte ausüben. "Die Wirtschaft ist unser Schicksal", formulierte Walther Rathenau 1921; das Wort gilt heute im globalen Maßstab, und eben auch für die Frage des tatsächlichen Genusses der Menschenrechte. Bemühungen im Rahmen der UN, international tätige Unternehmen unmittelbar an die Normen der Menschenrechtsverträge zu binden oder eine völkerrechtliche Haftung der Unternehmen für von ihnen begangene Menschenrechtsverletzungen zu begründen, sind bisher erfolglos geblieben. Das ist nicht erstaunlich, weil eine solche Bindung wesentliche strukturelle Änderungen des Völkerrechts voraussetzt - im Kern die Erhebung der Unternehmen zu eigenen Völkerrechtssubjekten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Norberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte, Berlin 1998, S. 17f.

  2. Am Vortag, dem 9. Dezember 1948, hatte die Generalversammlung die "Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" angenommen. Vgl. Bardo Fassbender, Die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, in: Die Politische Meinung, 51 (2006) 434, S. 57 - 63.

  3. Vgl. Christian Tomuschat, Das Recht des Widerstands nach staatlichem Recht und Völkerrecht, in: Horst Albach (Hrsg.), Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, Göttingen 2007, S. 60 - 95.

  4. Vgl. Daniel Thürer, Kosmopolitisches Staatsrecht, Zürich-Berlin 2005, S. 6.

  5. Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Erklärung vgl. Karl Josef Partsch, Hoffen auf Menschenrechte: Rückbesinnung auf eine internationale Entwicklung, Zürich-Osnabrück 1994, S. 30 - 80.

  6. Vgl. Bardo Fassbender, Der Gesetzesvorbehalt in internationalen Menschenrechtsverträgen, in: Eckart Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, Berlin 2006, S. 73 - 114.

  7. N. Bobbio (Anm. 1), S. 37.

  8. Zusammenstellung der Verträge und Erklärungen in: Christian Tomuschat (Hrsg.), Menschenrechte, Bonn 20022, sowie in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Menschenrechte, Bonn 20044. Vgl. Eckart Klein, Die Vereinten Nationen und die Entwicklung des Völkerrechts, in: Helmut Volger (Hrsg.), Grundlagen und Strukturen der Vereinten Nationen, München-Wien 2007, S. 21 - 66.

  9. Vgl. Bardo Fassbender, Der Internationale Strafgerichtshof: Auf dem Weg zu einem "Weltinnenrecht"?, in: APuZ, (2002) 27 - 28, S. 32 - 38.

  10. Vgl. die Angaben auf der Homepage des Büros des Hohen Kommissars der UN für Menschenrechte: www.ohchr.org.

  11. Vgl. Brigitte Hamm/Alexander Kocks, 40 Jahre UN-Sozialpakt: Bilanz und Perspektiven, Friedens-Warte, 81 (2006), S. 87 - 106.

  12. Vgl. Eibe H. Riedel, Menschenrechte der dritten Dimension, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ), 16 (1989), S. 9 - 21.

  13. Vgl. insbes. die Resolution 41/128 vom 4. 12. 1986.

  14. Vgl. die Resolutionen 33/73 vom 15. 12. 1978 und 39/11 vom 12. 11. 1984.

  15. So Christian Tomuschat, Human Rights: Between Idealism and Realism, Oxford 2008(2), S. 59.

  16. Vgl. Sibylle Tönnies, Der westliche Universalismus. Die Denkwelt der Menschenrechte, Wiesbaden 20013; Angelika Siehr, Die Deutschenrechte des Grundgesetzes. Bürgerrechte im Spannungsfeld von Menschenrechtsidee und Staatsmitgliedschaft, Berlin 2001, insbes.S. 93ff., 302ff.

  17. Mit der Erklärung eines Vorbehalts kann ein Staat die Rechtswirkung einer bestimmten Vertragsbestimmung für sich ausschließen.

  18. Vgl. Anne-Laure Chaumette, Les droits de l'homme en Asie, in: Jean-Marc Thouvenin/Christian Tomuschat (éds.), Droit international et diversité des cultures juridiques, Paris 2008, S. 433 - 444; zu den islamischen Vorstellungen: Wolfgang Graf Vitzthum, Begriff, Geschichte und Rechtsquellen des Völkerrechts, in: ders. (Hrsg.), Völkerrecht, Berlin 20074, S. 1 - 79.

  19. Eckart Klein, Universeller Menschenrechtsschutz: Realität oder Utopie?, in: EuGRZ, 26 (1999), S. 109 - 115, S. 115.

  20. Vgl. Anja Jetschke, Weltkultur versus Partikularismus: Die Universalität der Menschenrechte im Lichte der Ratifikation von Menschenrechtsverträgen, Friedens-Warte, 81 (2006), S. 25 - 49.

  21. N. Bobbio (Anm. 1), S. 21.

  22. Vgl. John Gerard Ruggie, Business and Human Rights: The Evolving International Agenda, American Journal of International Law, 101 (2007), S. 819 - 840.;

LL. M., Dr. jur., geb. 1963; Professor für Internationales Recht an der Universität der Bundeswehr München, 85577 Neubiberg.
E-Mail: E-Mail Link: fassbender@unibw.de