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Die Illusion des freien Willens - Essay | Hirnforschung | bpb.de

Hirnforschung Editorial Die Illusion des freien Willens - Essay Homo neurobiologicus - ein neues Menschenbild? Eine sehr kurze Geschichte der modernen Hirnforschung Neuromarketing und Neuroökonomie Plastizität und Regeneration des Gehirns Demokratie und die Macht der Gefühle

Die Illusion des freien Willens - Essay

Franz M. Wuketits

/ 9 Minuten zu lesen

Wie lebt es sich mit dem Bewusstsein, dass Willensfreiheit nur eine Illusion ist? Wir können so tun, als ob wir uns frei entscheiden, und im Alltag spielt das Problem keine Rolle.

Einleitung

Vor einigen Jahren vergaß ein junger Amerikaner seine kleine Tochter im Auto. Statt sie, wie täglich auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz, im Kinderhort abzuliefern, hatte er sie mitgenommen und im Auto gelassen. Der Säugling erstickte im geschlossenen Wagen, der den ganzen Tag bei gleißender Hitze auf einem Parkplatz stand. Das ist eine schreckliche Begebenheit. Natürlich wird man den Mann als verantwortungslosen Vater verachten, aber er hat auch Mitleid verdient. Nehmen wir an, dass er kein schlechter Mensch ist und seinem Kind die übliche väterliche Zuneigung entgegenbrachte, dann ist er durch dieses furchtbare Ereignis für den Rest seines Lebens bestraft.



Was war geschehen? Aus irgendwelchen Gründen muss der Mann an jenem Tag geistesabwesend, mit etwas gedanklich so stark beschäftigt gewesen sein, dass alles andere - selbst sein kleines Kind - vorübergehend aus seinem Kopf verschwand. Er hatte gewiss nicht die Absicht, seine Tochter zu gefährden, war aber auch nicht im Stande, so zu handeln, dass das Kind unversehrt blieb. Von freiem Willen wird man dabei jedenfalls nicht reden können. Möglicherweise wäre es dem Mann ein - sehr schwacher - Trost, zu wissen, dass er nicht "frei" gehandelt hat.

Wohl jeder kennt andere, viel harmlosere Beispiele, die ebenfalls Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Mensch kraft seines freien Willens handelt. Freilich, die meisten bekamen schon in der Schule zu hören, dass der Mensch mit Verstand und einem freien Willen ausgestattet sei, was ihn unter allen Lebewesen auszeichne. Und im Allgemeinen glauben wir auch, dass wir uns frei entscheiden, zwischen Alternativen frei wählen können. Aber können wir das wirklich? Viele Hirnforscher verneinen das. Jeder Mensch sei, meint zum Beispiel Wolf Singer, wie er eben ist, und kann nicht anders sein. Das Gehirn gebe den Ton an, der Mensch führe nur aus, was sein Hirn ihm sagt. Aus Sicht der Evolutionsbiologie sieht die Sache ähnlich aus. Natürlich ist das Gehirn nicht eine vom Rest unserer physischen Existenz losgelöste Instanz, aber es ist das Steuerungszentrum unserer Wahrnehmungen, unseres Denkens, Handelns und Wollens.

Wir sind doppelt bebürdet

Wir Menschen sind wie alle anderen Organismen Resultate der Evolution durch natürliche Auslese oder Selektion und in erster Linie auf das Überleben programmiert. Unser Gehirn wurde nicht dazu konstruiert, die "objektive Wahrheit" über die Welt zu erkennen, sondern bloß dafür, es seinem "Träger" zu ermöglichen, sich halbwegs in ihr zurechtzufinden und erfolgreich durchzumanövrieren. Es ist anfällig für Täuschungen und Illusionen, die aber nicht weiter schlimm sind, solange sie nicht im Widerspruch stehen zum grundlegenden biologischen Imperativ: "Bleibe möglichst lange am Leben und sorge für deine Fortpflanzung!" Ob es uns passt oder nicht, diesem Imperativ können wir uns nicht entziehen. Wir sind durch unsere Stammesgeschichte als Gattung bebürdet; wir tragen unsere stammesgeschichtliche Vergangenheit mit uns herum. Anders gesagt: Unsere "äffische" Natur ist nicht zu beschwindeln.

Von der Evolution wurden wir mit Dispositionen ausgestattet, gegen die wir uns im Sinne des Überlebens nicht entscheiden können, die aber umgekehrt sehr wohl unsere Entscheidungen beeinflussen und unser Handeln steuern - oft in stärkerem Maße als uns angenehm ist. So können wir uns beispielsweise nicht gegen den Schlaf entscheiden. Zwar können wir vorübergehend gegen Schläfrigkeit ankämpfen, aber irgendwann fallen wir buchstäblich um.

Entscheidungen zu treffen ist immer eine Frage der Rahmenbedingungen. Äußere Faktoren spielen eine große Rolle, vor allem, wenn es um die Sicherung von Nahrungsressourcen geht. In der Not frisst der Teufel auch Fliegen, weiß der Volksmund; und in der Tat haben wir bei knappen Ressourcen keinen Entscheidungs- beziehungsweise Handlungsspielraum, sondern nehmen, was wir zwischen die Zähne kriegen. Sitzen wir an einer mit Köstlichkeiten gedeckten Tafel, ist es anders - aber ob wir uns lieber am Kalbsbraten, am gedünsteten Lachs oder an gebackenem Gemüse delektieren, hängt wiederum von einer Reihe "Vorentscheidungen" ab, die unser Gehirn trifft und die uns nicht bewusst sind.

Wir sind nämlich nicht nur als Gattung - evolutionär - bebürdet, sondern auch von unserer jeweils eigenen Biografie. Jede und jeder von uns ist beladen mit einer Fülle an Wahrnehmungen, Erlebnissen, Eindrücken und Erinnerungen, die mit zunehmendem Alter naturgemäß immer mehr werden, die wir zum Teil verdrängen - sonst wäre es nicht auszuhalten -, aber nicht auslöschen können. In einer entsprechenden Situation dringt, ob wir wollen oder nicht, gar manches wieder an die Oberfläche. Frühe Prägungen beeinflussen unsere Entscheidungen und unser Handeln erheblich. Warum jemand das gebackene Gemüse dem Kalbsbraten vorzieht, kann Ausdruck sehr früher Erlebnisse und Assoziationen sein, die sich einer rationalen Reflexion weitgehend entziehen. Die Vorliebe für bestimmte Speisen, die Angst vor Schlangen, die Abneigung gegen rote Socken (unabhängig von der jeweiligen Mode), die Lust am Kartenspiel - nichts kommt von ungefähr, doch alles, was wir je erlebt und gelernt haben, beeinflusst unser Denken, unser Handeln und unsere Entscheidungen. So, wie wir als Spezies den Affen in uns nicht abstreifen können, können wir auch die uns individuell prägenden Erfahrungen und Erlebnisse nicht "vergessen". Sie sind unsere ständigen Begleiter; manchmal halten sie sich im Verborgenen, manchmal aber treten sie in geradezu unangenehmer Manier hervor und können uns in gesellschaftliche Kalamitäten bringen.

Willensfreiheit - eine Illusion?

Wohl jeder kennt die folgende - oder eine ähnliche - Situation. Ich bin unterwegs zu einer Buchhandlung, in der Absicht, ein bestimmtes Buch zu erwerben. Kurz vor dem Buchladen kommt mir plötzlich, unerwartet, ein guter Freund entgegen. Natürlich bleibe ich zur Begrüßung stehen, freue mich über die Begegnung und lade den Freund spontan zu einem Kaffee ein (oder lasse mich von ihm dazu "verführen"). Damit habe ich meine ursprüngliche Absicht kurzfristig zurückgedrängt, den Besuch der Buchhandlung auf später verschoben. Selbstverständlich hätte ich einfach weitergehen können, dem Freund keine Beachtung schenken müssen (ich hatte ja ein klares Ziel vor Augen), aber kaum einer würde sich so verhalten (weil wir uns nicht ins soziale Abseits stellen wollen). Da die Begegnung eine angenehme war, bereue ich die Änderung meines Vorhabens überhaupt nicht. War es aber meine freie Willensentscheidung, mit dem Freund ein Café aufzusuchen? Im Nachhinein kann ich sagen: "Ja, natürlich, niemand hat mich dazu gezwungen."

Ähnlich verhält es sich mit diesem Artikel. Niemand hat mich gezwungen, ihn zu schreiben, ich wurde vielmehr freundlich dazu eingeladen. Was Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, gerade - hoffentlich mit Genuss, oder zumindest nicht verärgert - aufnehmen, ist das Ergebnis dieser Einladung. Ich hätte zahlreiche Gründe finden können, diesen Essay nicht zu schreiben. Tatsache aber ist, dass ich nach solchen Gründen erst gar nicht gesucht, sondern gleich meine Zusage gegeben habe. Allerdings bin ich nicht in rationale Reflexionen darüber versunken, ob ich die Zeit dafür finden und in der Lage sein würde, das Manuskript rechtzeitig abzuliefern. Nun, ich habe es - wie so oft, im letzten Augenblick - geschafft (dabei hatte ich viele Monate dafür Zeit). Eine Reihe von "Attraktoren" muss mich dazu veranlasst haben, diesen Essay zu schreiben, so wie meine Lust am Schreiben insgesamt von verschiedenen, bereits in frühen Phasen meiner Biografie verankerten Antrieben determiniert wird.

Um nicht zu sehr ins (Auto-)Biografische abzugleiten: Ich möchte festhalten, dass der freie Wille in der Tat bloß eine Illusion ist, wenn auch eine nützliche. Sicher, niemand kann leugnen, dass wir einen Willen haben (den wir im Übrigen ebenso auch anderen Primaten, sowie Hunden, Katzen und noch verschiedenen Tieren einräumen dürfen), doch ist dieser Wille nicht frei, sondern eingebunden in einen Komplex psychischer Phänomene, die ihre ebenso komplexe Geschichte haben. Warum aber soll die Illusion des freien Willens nützlich sein? Die Vorstellung, etwas sozusagen aus sich heraus, allein und autonom bewirkt zu haben, vermittelt uns im Allgemeinen positive Gefühle. Schon ein prähistorischer Mensch, der mit einem einfachen Steinwerkzeug einen Ziegenbock erschlug - und damit sich und den Seinen eine Mahlzeit sicherte -, wird von dem befriedigenden Gefühl "Das war ich!" ergriffen worden sein.

"Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg", sagt man gemeinhin. Das ist sicher nicht ganz falsch, denn der Wille kann vieles bewirken. Fragt man aber, warum jemand dieses oder jenes will, dann kommt man wiederum zu jenem Komplex unbewusst wirkender Faktoren, die den Willen kontrollieren. Wie der Philosoph Peter Bieri bemerkt: "Unser Wille entsteht nicht im luftleeren Raum. Was wir wünschen und welche unserer Wünsche handlungswirksam werden, hängt von vielen Dingen ab, die nicht in unserer Verfügungsgewalt liegen." Und selbstverständlich wissen wir, dass manches, was wir wollen, nicht realisierbar ist. Gelegentlich aber staunen wir darüber, was uns so alles gelingt.

Umgang mit dem unfreien Willen

Wie lebt es sich mit dem Bewusstsein, dass Willensfreiheit nur eine Illusion sei? Eigentlich ganz gut, denn erstens können wir ja immer noch so tun, als ob wir uns frei entscheiden, und zweitens spielt das Problem bei vielen Alltagshandlungen ohnehin keine Rolle. Was eine Person dazu bewegt, statt Kalbsbraten gebackenes Gemüse zu essen (oder umgekehrt), braucht ihr nicht wichtig zu sein - Hauptsache, es schmeckt. Es wäre geradezu unerträglich, und wir hätten kaum Freude am Leben, würden wir bei allem, was wir tun, (selbst-)kritisch nach den Motiven fragen. Außerdem empfinden wir bei vielen - wahrscheinlich den meisten - Entscheidungen in unserem Alltag keinen Zwang, sodass sich gleichsam automatisch ein Gefühl von Freiheit einstellt.

Was einen Menschen als Person definiert, hängt von seinem Gehirn ab. Sein Selbstbewusstsein, seine Wünsche, Hoffnungen, Freuden, Befürchtungen, Ängste und Träume gehen von jenem Organ aus, das schließlich unsere Gattung zu dem gemacht hat, was sie heute ist - ein Wesen mit der Fähigkeit, über sich selbst, seine Vergangenheit und mögliche Zukunft nachzudenken und sich sogar autonom und frei zu wähnen. Diese Erkenntnis braucht uns nicht zu kränken, ist doch unser Gehirn ein Teil von uns und nicht etwa irgendeine Kraft, die uns von außen beeinflusst. Wenn man entgegen der früheren - und nach wie vor beliebten - Auffassung, wonach der Mensch ein "Geistwesen" sei, nun sagen muss, er sei ein "Gehirnwesen", dann ändert das in unserem "praktischen" Leben kaum etwas.

Problematisch wird es allerdings bei Verbrechen. Sein Gehirn erlaubt dem Menschen bekanntlich nicht nur, Essays zu schreiben, Opern zu komponieren und landwirtschaftliche Geräte zu bauen, sondern auch, einen Mord zu planen und auszuführen. Daher hat das Problem der Willensfreiheit seine unbestreitbare Relevanz in der Ethik und im Strafrecht. Die These von der Unfreiheit des Willens sorgt für mitunter hitzig geführte Debatten im Hinblick auf die Schuldfähigkeit des Menschen. Wenn jeder Mensch sowohl von der Stammesgeschichte seiner Gattung als auch von seiner Individualgeschichte bebürdet ist, kann man ihn für sein Handeln - selbst, wenn dieses einen Mord einschließt - nicht zur Verantwortung ziehen. Oder etwa doch?

Nach allem, was uns die Ergebnisse der modernen Hirnforschung (aber auch anderer Disziplinen wie der Evolutionsbiologie oder der Verhaltensforschung) nahe legen, sollten wir uns von den althergebrachten Konzepten von Schuld und Strafe verabschieden. Aber das bedeutet keineswegs, dass wir jede Tat eines Menschen hinnehmen dürfen oder gar müssen. Einem Mörder, der sich auf die Unfreiheit seines Willens zurückzieht und meint, er sei gezwungen gewesen, einen anderen Menschen zu töten, kann man antworten: "Sicher, dich trifft keine Schuld im engeren Sinn, du konntest dich nicht anders entscheiden, aber da nun einmal andere Menschen nicht von dir getötet werden wollen, müssen wir dich - wir können ja auch nicht anders - aus dem Verkehr ziehen." Was "aus dem Verkehr ziehen" bedeuten kann und soll, ist freilich noch eine andere, strafrechtlich relevante Frage, die hier nicht behandelt werden kann.

Abgesehen von diesen gewiss schwer wiegenden Problemen brauchen wir den Umstand, dass wir mit dem freien Willen einer Illusion aufgesessen sind, nicht tragisch zu nehmen, denn, auf gut Österreichisch gesagt: "Wollen werd' ich ja noch dürfen."

Dr. phil., geb. 1955; Professor für Wissenschaftstheorie an der Universität Wien, Universitätsstraße 7, 1010 Wien/Österreich.
E-Mail: E-Mail Link: franz.wuketits@univie.ac.at