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Europäische Solidaritäten | Internationale Solidarität | bpb.de

Internationale Solidarität Editorial Demokratische Solidarität in der Weltgesellschaft Europäische Solidaritäten Solidarität und internationale Gemeinschaftsbildung Soziale Globalisierung? Die Entstehung globaler Sozialpolitik Die Entgrenzung der Solidarität. Hilfe in einer globalisierten Welt Ein schillerndes Verhältnis - Moral in der französischen Afrikapolitik

Europäische Solidaritäten

Steffen Mau

/ 16 Minuten zu lesen

Es wird vorgeschlagen, unterschiedliche Solidaritätstypen zu unterscheiden. Darauf aufbauend lässt sicher genauer untersuchen, inwieweit Europa durch einen Mangel an Solidarität charakterisiert ist.

Einleitung

Solidarität bezeichnet einen Zusammenhang zwischen Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen, der sich durch eine besondere Form von Verbundenheit und wechselseitiger Verpflichtung auszeichnet. Er steht für spezifische Formen sozialer Kooperation, die auf Bindungen innerhalb eines kollektiven Zusammenhangs und daraus hervorgehenden Gemeinwohldefinitionen zurückgehen. Als wichtige Merkmale eines Solidaritätszusammenhanges gelten, dass gegenseitige Hilfe gegeben wird, dass es eine spezifische Legitimität der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer spezifischen Ziele gibt und dass der Solidaritätszusammenhang nicht einfach objektiv gegeben, sondern von den solidarisch Verbundenen auch wahrgenommen und für bedeutsam gehalten wird. Solidarität wird in vielen Kontexten geübt, so in der Familie, in Freundeskreisen, sozialen Klassen oder auch dem Nationalstaat. Der Nationalstaat gilt gemeinhin als der Ort, in welchem sich besonders umfassende Solidaritätszusammenhänge entwickeln konnten, so beispielsweise durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungssysteme. In der Literatur ist deshalb von der "Nationalisierung der Solidaritätspraktiken" gesprochen worden.



In der Diskussion um die Perspektiven der Europäisierung ist häufig von der Notwendigkeit europäischer Solidarität die Rede. Politische und wirtschaftliche Integrationsbestrebungen, also Formen der "kalten Integration", reichen in den Augen vieler Beobachter nicht aus, um der Europäischen Gemeinschaft Sinn und Legitimität zu verleihen. Wenn Zugehörigkeit, Kollektivität und solidarische Verpflichtung nationalstaatlich organisiert sind, ist supranationale Solidarität aber keine Selbstverständlichkeit. So unterschiedliche Autoren wie Lepsius, Offe, Streeck und Münch bescheinigen Europa einen Mangel an Solidarität und empfehlen daher Zurückhaltung bei der Aneignung von weitergehenden Solidaritätspflichten jenseits des Nationalstaates. Da das europäische Gebilde nicht die gleichen Binnenstrukturen hinsichtlich Gemeinsamkeit und normativ-politischer Verfassung aufweist wie die Nationalstaaten, gilt es ihnen als unwahrscheinlich, dass sich die EU als Solidaritätszusammenhang etablieren kann.

Welche Solidarität?

Bevor man die Frage nach den Integrationsperspektiven im Lichte dieser skeptischen Sicht auf die europäischen Solidaritätsressourcen abschließend beantwortet, lohnt es sich, das Konzept der Solidarität weiter zu differenzieren und über die aufs Gemeinschaftliche reduzierte Fassung zu erweitern. Wir möchten daher verschiedene Solidaritätstypen unterscheiden, nämlich Eigennutzsolidarität, Verbundenheitssolidarität, Bürgersolidarität, Bewegungssolidarität und Mitgefühlssolidarität. In den folgenden Abschnitten werden diese unterschiedlichen Solidaritätstypen genauer beschrieben und es wird gefragt, inwiefern sich Solidarität des jeweiligen Typus auf der europäischen Ebene verorten lässt.

Eigennutzsolidarität

Der Begriff der Eigennutzsolidarität erscheint zunächst als ein Paradox, bricht er doch mit der zuvor angedeuteten Verbindung von Solidarität und Gemeinwohl. Ein Teil der Literatur zur sozialen Solidarität schlägt in der Tat vor, Solidarität als besondere Form sozialer Kooperation zu verstehen, die aus der Interdependenz von Interessen entsteht. Wenn rationale Akteure bestimmte soziale Güter produzieren wollen, dann müssen sie miteinander kooperieren. Gruppensolidarität entsteht, wenn diese Güter außerhalb des Kooperationsarrangements nicht verfügbar sind und wenn der Zugang zu ihnen effektiv kontrolliert werden kann. Je abhängiger die einzelnen Kooperationsteilnehmer von den Resultaten der Kooperation und je schwieriger es ist, die Ziele außerhalb der Gruppe zu erreichen, desto größer ist die Bereitschaft, eigene Ressourcen einzubringen und auch Umverteilungen zu tolerieren.

Übertragen auf die Europäische Union bedeutet dies, dass ein größerer Grad an Verflechtung und die Verdichtung von Austauschbeziehungen die Interdependenz von Interessen erhöht und damit auch Formen von eigeninteressierter Solidarität möglich machen. So kann die Interdependenz zwischen den wohlhabenden und den ärmeren Mitgliedsstaaten dergestalt sein, dass die reicheren Teilnehmer befürchten müssen, dass die relative Armut anderer Mitglieder negative Externalitäten freisetzt, die auch sie betreffen. Wenn beispielsweise starke Wohlstandsgefälle Probleme für die wohlhabende Seite mit sich bringen, ist es im Sinne 'eigennütziger Hilfe' durchaus rational, durch Transfers und Investitionen für Prosperität und Wohlstand in den ärmeren Regionen zu sorgen.

Innerhalb der EU gibt es umfangreiche Umverteilungen zwischen armen und reichen Ländern und Regionen im Rahmen der Struktur- und Regionalpolitik, die genau auf solche interessenpolitische Argumente zurückgeführt werden können. Diese machen immerhin ein Drittel des EU-Haushalts und rund 308 Milliarden Euro für die Finanzperiode 2007 - 2013 aus. In der Literatur ist hervorgehoben worden, dass sich die Kohäsionspolitik als ausgefeiltes System von side-payments verstehen lässt, die von reicheren Ländern an ärmere Länder gezahlt werden, um ihnen die Zustimmung zu intensivierter ökonomischer Integration abzuringen und weniger, um spezifische Bedürfnisse zu befriedigen. Da die wohlhabenden Länder starke Präferenzen hinsichtlich Marktbildung haben und die ökonomisch schwächeren Länder über eine relativ gute politische Vetoposition verfügen, konnten die ärmeren Länder Strukturhilfen einfordern. Zugleich können große Wohlstandsgefälle Probleme für die reicheren Länder hervorrufen, zum Beispiel wenn Inflationsdruck ausgelöst wird oder wenn große Unterschiede im Arbeitslosigkeitsniveau und Wohlstand Wanderungsanreize setzen, die die Zielländer dieser Wanderungen als problematisch wahrnehmen. Die reichen EU-Mitglieder mögen auch aus diesem Grund bereit sein, die Kosten der Regionalpolitik zu tragen.

Verbundenheitssolidarität

Die zweite Konzeption von Solidarität betont die Zusammengehörigkeitsgefühle zwischen den Mitgliedern sozialer Gruppen, die Solidarität nach sich ziehen können. Gefühle sozialer und emotionaler Nähe und Sympathie bilden hier "die entscheidenden Grundlagen für das solidarische Verhalten der einzelnen Mitglieder untereinander und für den Zusammenhalt der Gruppe". Große solidarische Dichte entsteht typischerweise in kleinräumigen sozialen Gemeinschaften. Wir haben aber eingangs schon ausgeführt, dass solidarische Verbundenheit auch in sozialen Großkollektiven entstehen kann. Insbesondere der nationale Wohlfahrtsstaat ist eine solche Form der Großgruppensolidarität, stabilisiert und zusammengehalten durch gemeinsame Wurzeln, eine gemeinsame Erfahrungsgeschichte und darauf aufbauende Identitätsbestände.

Auch hier lässt sich wieder fragen, ob die Europäische Union für diese Art der Solidarität in Frage kommt. In den meisten kritischen Stellungnahmen zum Mangel der Solidaritätsressourcen wird vor allem auf diese Gemeinschaftssolidarität abgehoben. Für weitergehende Solidaritätsbestrebungen bedürfte es einer vorgängig vorhandenen Basis der Gemeinsamkeit, die hilft, die nationalen Egoismen zu überwinden. Der sehr plastische Begriff der "umverteilungsfesten Identität" unterstreicht, dass erst das Vorhandensein einer europäischen Identität das Maß an Zustimmung bringt, die erforderlich ist (Voraussetzung dafür ist), um eine bestimmte Opferbereitschaft auch im Hinblick auf die Kosten der Einigung zu erzeugen.

Ganz zentral für die EU-Unterstützung ist deshalb, dass die Menschen sich kognitiv und emotional mit Europa verbunden fühlen. Es gibt allerdings eine große Skepsis, was das Vorhandensein einer kollektiven Identität der Europäer angeht. Dies vor allem deshalb, weil die Nationalstaaten in der Vergangenheit eine große normative Integrationsdichte entwickelt haben und im Laufe der Jahrhunderte ein exklusives Bindungsverhältnis mit "ihren" Bürgern aufbauen konnten. Deshalb ist es schwierig, sich eine europäische Identität vorzustellen, welche die nationale Identität einfach ablöst. Daten des Eurobarometers zur europäischen Identität weisen darauf hin, dass für eine Mehrheit der in den Mitgliedsländern Befragten der europäische Bezug eine Rolle spielt, sich aber nur eine Minderheit ausschließlich mit Europa identifiziert. In der Regel tritt Europa als zusätzliche Identifikationsebene hinzu und ersetzt die nationale nicht. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, dass auch europäische Verbundenheitssolidarität entstehen kann, allerdings ist diese weitaus weniger belastbar als die nationale Solidarität. Dass das Glas eher halb voll als halb leer ist, zeigt sich aber daran, dass die europäische Identität mit der Dauer der Mitgliedschaft ansteigt und dass das transnationale Vertrauen über die Zeit wächst.

Auch bei der zwischenstaatlichen politischen Kooperation spielen Identitätsfragen oder Fragen der Verbundenheit eine Rolle. Die konstruktivistische Theorie internationaler Beziehungen stellt heraus, dass Ideen, Werte und Zugehörigkeiten einen eigenständigen Einfluss auf das Verhalten von Staaten in internationalen Kooperationsbeziehungen haben. Dabei wird davon ausgegangen, dass auch kooperierende Staaten und deren Repräsentanten sich an intersubjektiv geteilten Normen orientieren, die durch den Austausch und die Entstehung sozialer Beziehungen hervorgebracht werden. Für die Europäische Union können sich solche Argumente durchaus als tragfähig erweisen, weil durch den Grad an Interdependenz und die Etablierung von supranationalen Institutionen das Kriterium eines gemeinschaftlichen Zusammenhangs doch recht weitgehend erfüllt ist. Greifen wir noch einmal auf das Beispiel der EU-Regionalpolitik zurück, dann wird klar, dass die Legitimation der Forderungen nach transnationalen Umverteilungen auch dadurch erhöht wurde, dass die rückständigen Regionen sich auf Normen der Gemeinschaft berufen konnten, und dass die wohlhabenden Länder diese Argumente anerkannten. So unterstreicht schon der Erste Kohäsionsbericht, dass "große Disparitäten in einer Gemeinschaft nicht toleriert werden können, wenn der Begriff der Gemeinschaft einen Sinn haben soll". Mit dem politischen Instrument der Strukturfonds werden die "Bedürfnisse der Verlierer des Gemeinsamen Marktes" aufgegriffen und ihnen wird zu verstehen gegeben, dass sie bei der europäischen Integration nicht in dauerhafte Nachteilspositionen zurückfallen.

Bürgersolidarität

Ein dritter Typus lässt sich als (Staats)Bürgersolidarität kennzeichnen. Ihm liegt zugrunde, dass moderne Solidarität sich nicht nur auf spezifische Formen der Verbundenheit und Kooperation zurückführen lässt, sondern auf ein republikanisches Modell, welches eine Staatsbürgerrolle begründet. Für moderne Gesellschaften gilt generell, dass die in ihnen vorherrschenden Solidaritätsbeziehungen weitgehend verrechtlicht und entpersonalisiert sind. Statt unmittelbare Interessen und Gefühle sind es über die Staatsbürgerrolle institutionell vermittelte Rechte und Pflichten, die das Handeln anleiten. Parsons verstand den gemeinsamen Status als Grundlage für eine neue Form von Solidarität, die durch wechselseitige Anerkennung geprägt ist.

Auf der EU-Ebene hat sich mit der Unionsbürgerschaft eine neue Form sozialer und politischer Inkorporation herausgebildet, die durch den herkömmlichen Begriff der nationalen Bürgerschaft nicht mehr gedeckt ist. Die damit verbundenen Rechte sind Freizügigkeitsrechte, die den Aufenthalt und die freie Mobilität in den EU-Mitgliedsstaaten zusichern, politische Rechte wie das Recht, bei Kommunal- und Europawahlen zu wählen und gewählt zu werden, und das Recht auf diplomatischen und konsularischen Beistand. Die Unionsbürgerschaft verstärkt die Dissoziation von Nationalstaatlichkeit und Bürgerschaft, ersetzt aber die nationale Staatsbürgerschaft nicht, so dass man von einer Koexistenz nationaler und supranationaler Bürgerschaft ausgehen muss. Soweit die Rechte und Pflichten des Individuums von seiner Nationalität unabhängig definiert werden, wird auch der Grundgedanke transnationaler Solidarität gestärkt. Es kann deshalb angenommen werden, dass eine Erweiterung der Unionsbürgerrechte auch dazu beträgt, dass sich "die Europäische Gemeinschaft zu einem supranationalen Gemeinwesen und damit zu einer Sphäre supranationaler Solidarität entwickelt".

Für unser spezifisches Thema der europäischen Solidarität sind natürlich die sozialen Rechte von besonderer Bedeutung. In vielen Bereichen wie z.B. bei Antidiskriminierung, Gleichstellungsfragen und im Arbeitsrecht hat die europäische Rechtssprechung dafür gesorgt, dass einheitliche Standards europaweit gelten und einklagbar sind. Die Organisation und Finanzierung der kollektiven Sicherungssysteme ist aber immer noch die Domäne des Nationalstaates. Unter den Bedingungen ungehinderter Mobilität und des Nicht-Diskriminierungsgebotes zwischen EU-Bürgern gilt aber, dass die Leistungsanrechte des Wohlfahrtsstaates allen EU-Mitbürgern, sofern sie auf dem Territorium leben oder sich dort aufhalten, offen stehen. Damit wird das Solidaritätskollektiv weniger über nationale Zugehörigkeiten bestimmt als vielmehr über den Aufenthalt innerhalb eines bestimmten Territoriums. Selbst wenn diese Veränderungen quantitativ noch unbedeutsam bleiben, so implizieren sie doch eine im Sinne zunehmender Europäisierung zu interpretierende Öffnung des Solidaritätshorizontes.

Bewegungssolidarität

Der Begriff der Solidarität ist weiterhin mit Formen der sozialen Mobilisierung und des Protests verbunden. Die von Marx hervorgehobene Unterscheidung von Klasse an sich und Klasse für sich hebt darauf ab, dass sich ein solidarischer Zusammenschluss zwischen Angehörigen einer Klasse nicht automatisch ergibt, sondern dieser erst konstituiert werden muss. Klassensolidarität ist eine spezifische Form des kollektiven Handelns, bei der Formen der Verbundenheit und des Zusammenstehens aus dem Erkennen gleicher Interessenlagen heraus entstehen. Schon früh ist auch in diesem Kontext die Frage aufgekommen, ob diese Art der Solidarität nicht eine internationale sein und nationale Grenzen überwinden müsse, besonders eindringlich ausgedrückt im "Proletarier aller Länder vereinigt Euch" des Kommunistischen Manifests.

Mit Blick auf traditionelle Kollektivakteure wie Gewerkschaften zeigt sich, dass diese sich schwer tun, einen gemeinsamen europäischen Ansatz zu entwickeln, weil unterschiedliche Politiken sehr unterschiedliche Auswirkungen auf ihr spezifisches nationales Klientel haben können. Allerdings formiert sich auch sichtbarer übergreifender Protest in Europa, und dies vor allem in Reaktion auf Prozesse der Liberalisierung und Deregulierung und oft als Gegenentwurf zur EU des Gemeinsamen Marktes. Die Euromärsche oder die Euro Maydays gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung und Ausgrenzung sind Beispiele dafür, dass sich mit der Europäisierung neue Formen der politischen Mobilisierung herausbilden. Dies sind zivilgesellschaftliche bottom-up Bewegungen für ein soziales Europa. Auch die nationalen Gewerkschaften und der europäische Gewerkschaftsverband ETUC (European Trade Union Confederation) haben inzwischen Anstrengungen unternommen, um auf der europäischen Ebene ihren Einfluss geltend zu machen und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Wir sehen erste Anzeichen dafür, dass im Zuge der europäischen Organisation von gewerkschaftlichen Kollektivakteuren auch nationale Interessen überformt und umdefiniert werden. Ein Beispiel ist die gewerkschaftliche Mobilisierung gegen die Dienstleistungsrichtlinie (Bolkestein-Richtlinie). Die polnischen Gewerkschaften beispielsweise übernahmen die Position des europäischen Dachverbandes und forderten eine Harmonisierung der Sozialstandards, um Sozialdumping in den westlichen Mitgliedsländern zu verhindern. Hier waren es die organisatorische und kommunikative Vernetzung der nationalen Gewerkschaften miteinander, die es möglich machten, dass sie sich auf längerfristige und gemeinsame Ziele verpflichteten.

Mitgefühlssolidarität

Wir haben bisher Solidaritätsformen diskutiert, die aus einem realen oder unterstellten sozialen Zusammenhang resultieren. Analytisch davon zu trennen ist die "Solidarität unter Fremden", bei der weder eine gemeinschaftliche Bindung noch ein gemeinsamer Lebens- bzw. Kooperationszusammenhang unterstellt werden kann. Die Solidarität des Mitgefühls basiert auf einer humanitären Haltung gegenüber Menschen in Not, relativ unabhängig von spezifischen Bindungen, und steht für "Verbundenheit trotz Differenzen, trotz Ungleichheit".

Diese Art von Solidarität kann ausgelöst werden, wenn man sich beispielsweise in die Notlage von anderen Personen oder Gruppen hineinversetzt. Im Unterschied zu den sozialen Nahverhältnissen mit ihren naturwüchsigen Solidarverhältnissen bedarf es im Falle des solidarischen Engagements für soziale und räumlich distanzierte Gruppen einer freien Entscheidung, die sich auf Gründe beruft.

Für diese Art der Solidarität lässt sich nicht so ohne weiteres eine europäische Spezifik ableiten. Trotz großer Disparitäten zwischen den Mitgliedsländern gehört Europa immer noch zu den Wohlstandsinseln in einer globalisierten Welt. Die großen humanitären Katastrophen spielen sich jenseits der Grenzen der Europäischen Union ab. Sobald es aber Notsituationen innerhalb Europas gibt, wird auch Hilfe und Unterstützung gegeben - privat, durch Hilfsorganisationen, durch die Regierungen oder die EU selbst. Oft kommen Argumente der humanitär und der gemeinschaftlich motivierten Solidarität gleichzeitig in Anwendung, so bei der EU-Hilfe für Griechenland bei der Bekämpfung der verheerenden Waldbrände im Sommer 2007.

Solidarität, die sich auf konkrete Notlagen bezieht, wird in Europa aber nicht nur spontan organisiert, sondern ist auch Basis institutioneller Hilfesysteme. Im Dezember 2006 hat die EU mit dem Globalisierungsfonds, der immerhin mit 500 Millionen Euro ausgestattet ist, ein neues Instrument geschaffen, welches "Opfern der Globalisierung" in den Mitgliedsländern helfen soll. Dieser beinhaltet eine einmalige und spezifische Unterstützung für Maßnahmen der Wiedereingliederung bei über 1000 Entlassungen innerhalb eines kürzeren Zeitraums. Aufgelegt wurde er vor allem, um demonstrieren zu können, dass die EU nicht nur die wirtschaftliche Integration vorantreibt, sondern auch bei sichtbaren negativen Folgen der Globalisierung solidarische Hilfe gewährt. Hier wird auf Notsituationen ausgerichtete Solidarität vor allem dafür eingesetzt, um Legitimität zu gewinnen und das Image der EU zu verbessern.

Man kann die Sicht auf humanitär orientierte Solidarität aber noch erweitern, wenn man nicht nur auf interne Solidarität zwischen den Mitgliedsländern und Bürgern der EU abhebt, sondern auch auf europäische Solidarität "mit dem Rest der Welt". In diesem Kontext ist behauptet worden, dass es einen unauflösbaren Zusammenhang zwischen "interner" und "externer" Solidarität gibt: Da es in Europa eine Kultur der Solidarität gibt, sind die Europäer in besonderer Weise bereit, sich auch im internationalen Kontext zu engagieren. So argumentiert auch das Büro der EU für humanitäre Hilfe (ECHO): "Humanity and solidarity are among the core values of the European Union, which is why the bloc is one of the largest humanitarian donors in the world." Zwar ist nur ein Teil der aus den europäischen Ländern fließenden Hilfe vergemeinschaftet, aber nach Angaben von ECHO stellt die Europäische Kommission fast 30 Prozent aller weltweit für humanitäre Hilfe aufgebrachten Mittel, während die Summe der Einzelaufkommen der Mitgliedsländer weitere 25 Prozent beträgt. Die Kehrseite dieser "Hilfe nach außen" ist die soziale Schließung Europas, durch die vielen Menschen der Zugang zu Europa, und damit die Aufnahme in die solidarische Gemeinschaft, verwehrt wird.

Potentiale und Grenzen der paneuropäischen Solidarität

Diese Differenzierung des Konzepts der Solidarität war ein Versuch, die so häufig geführte Klage über einen Mangel an europäischer Solidarität gegen den Strich zu lesen. Unrecht haben diejenigen, die europäische Solidarität für ausgeschlossen und unwahrscheinlich halten, aber ebenso diejenigen, die einfach von einer am nationalstaatlichen Vorbild ausgerichteten Herausbildung europäischer Solidarität ausgehen. In jeder Hinsicht, in sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller, aber eben auch im Hinblick auf Solidarität ist und bleibt Europa ein Gebilde sui generis. Was die zukünftige Entwicklung von Solidarität angeht, so ist es nicht einfach, eine empirisch gesättigte Prognose abzugeben. Generell gilt, dass Institutionen und politische Praktiken Motivationen transformieren und identitätsstiftend wirken können, aber auch, dass die Möglichkeiten der politischen Erzeugung und Manipulation von Solidaritätsorientierungen begrenzt sind, da diese in recht langfristigen und komplexen Prozessen generiert werden. Der politische Vorgriff auf zu erwartende Solidaritätszuwächse ist ein Balanceakt, bei dem immer das Risiko der Überforderung der Solidaritätsbereitschaft besteht. Aber ohne diesen Vorgriff ist eine Selbstbindung an den politischen Status quo vorprogrammiert.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es eine grundlegende Spannung zwischen nationaler Solidarität und europäischer Solidarität dergestalt geben kann, dass die dichte Form nationaler Vergemeinschaftung die Erweiterung des Solidaritätshorizontes auf Europa erschwert. Claus Offe hat davor gewarnt, dass die Entgrenzung von Solidaritätspflichten dazu führen kann, dass sich die Teilnehmer der Integration überfordert fühlen und sich größere Akzeptanzprobleme ergeben. Zugleich können dann neue Fragmentierungen entstehen, wenn die Eliten und die Bevölkerungen unterschiedlich weite Solidaritätshorizonte aufweisen, mit den Eliten als paneuropäisch verbunden und Bevölkerungen, die sich immer noch national orientieren. Schließlich besteht die Gefahr, dass die EU, soweit sie sich als "solidarischer Akteur" in Szene setzt, die hervorgerufenen Erwartungen und Ansprüche nicht wirklich befriedigen kann und damit Enttäuschungen hervorruft. Diese Aspekte zwingen dazu, Solidaritätshorizonte nur mit Augenmaß zu erweitern, im Korridor zwischen den Erfordernissen der vertieften Integration und den vorhandenen Solidaritätsbereitschaften der Europäer.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich danke Sebastian Büttner und Monika Eigmüller für hilfreiche Kommentare.

    Für eine ausführliche Diskussion des Themas vgl. Steffen Mau, Europäische Solidarität. Erkundung eines schwierigen Geländes, in: Hanns W. Maull/Sebastian Harnisch/Siegfried Schieder (Hrsg.), Solidarität und Gemeinschaftsbildung in der internationalen Politik. Beiträge zur Soziologie der internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2008 (i.E.).

  2. Vgl. Steffen Mau, Solidarität und Gerechtigkeit. Zur Erkundung eines Verhältnisses, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld (Hrsg.), Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung. Zur Verknüpfung normativer und empirischer Perspektiven, Frankfurt/M.-New York 2002, S. 129 - 154.

  3. Vgl. Kurt Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Hrsg.), Solidarität. Begriff und Problem, Frankfurt/M. 1998, S. 11 - 53.

  4. Peter Wagner/Benedicte Zimmermann, Nation: Die Konstitution einer politischen Ordnung als Verantwortungsgemeinschaft, in: Stephan Lessenich (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurse, Frankfurt/M.-New York: 2003, S. 243 - 266.

  5. Vgl. Rainer M. Lepsius, Die Europäische Union als Herrschaftsverband eigener Prägung, in: Christian Joerges/Yves Meny/Josef H. Weiler (Eds.), What Kind of Constitution for What Kind of Polity? Responses to Joschka Fischer, Florence 2000, S. 202 - 212.

  6. Vgl. Claus Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat: Eine europäische Regimeform unter dem Streß der europäischen Integration, in: Wolfgang Streeck (Hrsg.), Internationale Wirtschaft, nationale Demokratie. Herausforderungen für die Demokratietheorie, Frankfurt/M. 1998, S. 98 - 136.

  7. Vgl. Wolfgang Streeck, Competitive Solidarity: Rethinking the "European Social Model", in: Karl Hinrichs/Herbert Kitschelt/Helmut Wiesenthal (Hrsg.), Kontingenz und Krise: Institutionenpolitik in kapitalistischen und postsozialistischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2000, S. 245 - 261.

  8. Vgl. Richard Münch, Offene Räume. Soziale Integration diesseits und jenseits des Nationalstaates, Frankfurt/M. 2001.

  9. Vgl. Michael Hechter, Principles of Group Solidarity, Berkeley 1987.

  10. Vgl. Abram DeSwaan, The receding prospects for transnational social policy, in: Theory and Society, 26 (1997) 4, S. 567 - 575; Georg Vobruba, Integration + Erweiterung. Europa im Globalisierungsdilemma, Wien 2001.

  11. Vgl. Steffen Mau/Sebastian Büttner, Regionalisierung sozialer Ungleichheit im Europäischen Integrationsprozess, in: Anton Sterbling/Maurizio Bach (Hrsg.), Soziale Ungleichheit in der erweiterten Europäischen Union, Hamburg 2008, S.205-300.

  12. Vgl. Clifford J. Carrubba, Net Financial Transfers in the European Union: Who Gets What and Why, in: Journal of Politics, 59 (1997) 2, S. 469 - 496; Mark A. Pollack, Regional Actors in an Intergovernmental Play: The Making and Implementation of EU Structural Policy, in: Sonia Mazey/Carolyn Rhodes (Eds.), The State of the European Union III., Boulder, CO 1995, S. 361 - 390.

  13. Helmut Thome, Soziologie und Solidarität: Perspektiven für die empirische Forschung, in: K. Bayertz (Anm. 3), S. 217 - 262.

  14. Vgl. Amitai Etzioni, The Community Deficit, in: Journal of Common Market Studies, 84 (2007) 81, S. 23 - 42.

  15. G. Vobruba (Anm. 10).

  16. Vgl. Sylke Nissen, Europäische Identität und die Zukunft Europas, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), (2004) 38, S. 21 - 29; Jan Delhey, Transnationales Vertrauen in der erweiterten Union, in: APuZ, (2004) 38, S. 6 - 13.

  17. Vgl. Thomas Risse/Stephen Ropp/Kathrin Sikkink (Hrsg.), The Power of Norms. International Human Rights and Domestic Change, Cambridge 1999.

  18. Vgl. Vittorio Bufacchi/Shari Garmise, Social Justice in Europe: An Evaluation of European Regional Policy, in: Government and Opposition, 30 (1995) 1, S. 179 - 197.

  19. Europäische Kommission, Erster Kohäsionsbericht, Brüssel 1996.

  20. Benedict Andersen, Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M.-New York 1988.

  21. Vgl. Talcott Parsons, Das System moderner Gesellschaften, Weinheim-München 1985.

  22. Vgl. Theresa Wobbe, Die Koexistenz nationaler und supranationaler Bürgerschaft. Neue Formen politischer Inkorporation, in: Maurizio Bach (Hrsg.), Die Europäisierung nationaler Gesellschaften, Opladen 2000, S. 251 - 274.

  23. Ulrich K. Preuß, Nationale, supranationale und internationale Solidarität, in: K. Bayertz (Anm. 3), S. 399 - 410.

  24. Vgl. Bernhard Ebbinghaus/Jelle Visser, Barrieren und Wege "grenzenloser" Solidarität: Gewerkschaften und Europäische Integration, in: Wolfgang Streeck (Hrsg.), Staat und Verbände, Opladen 1994, S. 223 - 255.

  25. Vgl. Douglas R. Imig/Sydney G. Tarrow, Political Contention in a Europeanizing Polity, in: West European Politics, 23 (2000) 4, S. 73 - 93.

  26. Vgl. Katarzyna Gajewska, Common Market - Common Labour Interests?, in: Lars Magnusson/ Bo Stråth (Eds.), European Solidarities. Tensions and Contentions of a Concept, Brüssel 2007, S. 217 - 233.

  27. Hauke Brunkhorst, Solidarität unter Fremden, Frankfurt/M. 1997.

  28. Karl-Otto Hondrich/Claudia Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1992.

  29. Nathalie Karagiannis, Avoiding Responsibility, The Politics and Discourse of the European Development Policy, London 2004.

  30. Vgl. Iris M. Young, Europe and the global south: towards a circle of equality, www.opendemocracy.net (2003).

  31. ECHO (European Commission's Humanitarian Aid Office), European Humanitarian Aid: Values and Principles, Brüssel 2005.

  32. Vgl. C. Offe (Anm. 6).

  33. Vgl. Steffen Mau, Transnationale Vergesellschaftung. Die Entgrenzung sozialer Lebenswelten, Frankfurt/M.-New York 2007.

Ph. D., geb. 1968; Professor für politische Soziologie an der Universität Bremen und Dean der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS) der Universität Bremen und der Jacobs University in Bremen.
E-Mail: E-Mail Link: smau@gsss.uni-bremen.de
Internet: Externer Link: www.smau.gsss.uni-bremen.de