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Parlamentarismus Editorial Kiesinger und Merkel in der Großen Koalition Informelles Regieren - Koalitionsmanagement der Regierung Merkel Große Koalition - schwacher Bundestag? Der Bundesrat in Zeiten Großer Koalitionen Das Amt des Bundespräsidenten und sein Prüfungsrecht

Große Koalition - schwacher Bundestag?

Henrik Gast Uwe Kranenpohl Uwe Henrik Gast / Kranenpohl

/ 14 Minuten zu lesen

Große Koalitionen gelten allgemein als Phasen geringen parlamentarischen Einflusses auf das Regierungshandeln. Zwar wandelt sich der Stil des gegenseitigen Umgangs der Koalitionspartner in einem solchen Format, doch können die Fraktionen weiterhin effizient auf die von ihnen gestellte Regierung einwirken.

Einleitung

Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland sind Parlament und Regierung nicht strikt voneinander getrennt, sondern die Regierung ist "Blut vom Blute und Fleisch vom Fleische" des Parlaments (Hugo Preuß) - damit rücken Parlamentsmehrheit und Regierung eng zusammen und erscheinen sogar als Funktionseinheit gegenüber der parlamentarischen Opposition. In Umsetzung dieses Prinzips hat sich ein enges Interaktionsgeflecht zwischen der Bundesregierung, den Mehrheitsfraktionen des Bundestages und den jeweiligen Koalitionsparteien herausgebildet, in welchem den Fraktionen eine wichtige Rolle zukommt. Gestaltet sich das Verhältnis der Mehrheitsfraktionen zur Regierung in Zeiten einer Koalition von Union und Sozialdemokraten in gleicher Weise? Oder verlieren die Fraktionen an Einfluss?




Für eine Beurteilung des Einflusses der Mehrheitsfraktionen ist erstens die Phase der Koalitionsbildung von jener des Koalitionsmanagements zu unterscheiden, in der das Bündnis sein Programm umzusetzen sucht. Je schwieriger und komplexer Koalitionsverhandlungen ausfallen, desto notwendiger ist es, Verhandlungen in kleinen Runden zu führen, um effektive Entscheidungen herbeizuführen. Allgemein liegt die Vermutung nahe, dass diese Verhandlungen stärker durch die Parteiführungen und Akteure der Exekutive als durch die Fraktionen geprägt werden. Mancher Beobachter gewinnt dabei den Eindruck, dass das Parlament in der Phase der Koalitionsbildung kaum eine Rolle spielt. Diese These ist allerdings zu relativieren:

  • Allen Verhandlungsteilnehmern ist bewusst, dass der Koalitionsvertrag der Zustimmung von Fraktion und Partei bedarf, um als tragfähige Grundlage der künftigen Zusammenarbeit zu wirken. Die Verhandlungsergebnisse müssen zumindest ungefähr die Interessen der Fraktionen wiedergeben, wenn sie Verbindlichkeit erzielen wollen.

  • Daher sind in den Verhandlungen "Schnittstellenakteure" von besonderer Bedeutung, die Funktionen in Fraktion, Partei und ggf. auch Regierung wahrnehmen, weshalb auch Vertreter der Fraktionen stets am Abschluss der Regierungsbündnisse beteiligt sind.

    Bezüglich des Koalitionsmanagements ist zweitens festzuhalten, dass die Koalitionsfraktionen in den laufenden Regierungsprozess eingebunden und damit auch organisatorisch integriert werden. Allerdings ist der Einfluss "der Fraktion" hier differenziert zu betrachten:

  • Relativ groß wird der Einfluss jener Personen sein, die der (engeren) Fraktionsführung angehören und schon aus organisatorischen Gründen von der Regierung zu berücksichtigen sind, da sie die parlamentarische Umsetzung der Koalitionspolitik verantworten. Im Gegenzug ist es aber auch ihre Aufgabe, bei Unwillen aus Reihen der Fraktion zu vermitteln und auf mögliche Widerstände frühzeitig hinzuweisen.

  • Allerdings gehen in einer Großen Koalition die Einflussoptionen einzelner Parlamentarier und zahlenmäßig schwacher Gruppen deutlich zurück, da sich ihr Verhinderungspotential angesichts der breiten parlamentarischen Mehrheit vermindert. Wenn Regierung und Fraktionsführung bei knappen Mehrheitsverhältnissen um jede Stimme kämpfen müssen, sind die Chancen dissentierender Abgeordneter größer, zumindest eine teilweise Berücksichtigung ihrer Position erreichen zu können. In einer Großen Koalition kommt es zumindest unter Mehrheitsgesichtspunkten nicht so sehr auf sie an - insofern vereinfacht sich die Führungsaufgabe. Augenfällig wird diese Tendenz in einer Großen Koalition anhand der Tatsache, dass die Regierungschefs bei ihrer Wahl deutlich weniger Stimmen erhalten, als es der Stärke der Koalition entspricht (vgl. Tabelle 1 der PDF-Version), und in einer deutlichen Abnahme des einheitlichen Stimmverhaltens (vgl. Tabelle 2 der PDF-Version).

    Der Einfluss der Fraktionen bei der Regierungsbildung 1966



    Anders als 2005 bildete sich die erste Große Koalition im Herbst 1966 nicht im Anschluss an eine Bundestagswahl, nach der keine andere Regierungsbildung möglich erschien, sondern in Folge des schleichenden Legitimationsverlustes des Bundeskanzlers. Zwar war die Union noch 1965 mit Ludwig Erhard als "Wahlkampflokomotive" angetreten, doch verlor dieser über das ganze folgende Jahr an Rückhalt. Der Vertrauensverlust wurde offenkundig, als es Erhard im September nicht gelang, einen Nachfolger für den zurückgetretenen Chef des Bundeskanzleramtes, Ludger Westrick, zu finden. Zugleich konnten sich die Koalitionspartner CDU, CSU und FDP nicht auf ein gemeinsames Vorgehen zum Ausgleich des Haushalts 1967 einigen, weshalb die FDP-Fraktion ihre Minister zwang, die Regierung zu verlassen. Auch schien sich ein politisches Zusammengehen von SPD und FDP anzubahnen.

    In dieser Situation suchte die Unionsfraktion ihr Heil in der Flucht nach vorn. Sie drängte den Kanzler zum Rücktritt und strebte ihrerseits eine Regierungsbildung mit den Sozialdemokraten an, zu denen sich das Verhältnis seit Beginn der 1960er Jahre deutlich verbessert hatte. Auch die Auswahl des Nachfolgekandidaten Kurt Georg Kiesinger erfolgte allein durch die Parlamentarier: "Während der ganzen Regierungskrise wachte die Fraktion eifersüchtig darüber, ihre Entscheidungsgewalt von niemandem beeinträchtigen zu lassen." In ähnlicher Weise entschied auch auf Seiten der Sozialdemokraten die Fraktion, die in der Nachkriegszeit ohnehin an Gewicht gegenüber der Parteiorganisation gewonnen hatte, über die Regierungsbeteiligung.

    Angesichts der überragenden Rolle der Fraktionen bei den Ereignissen um den Sturz Erhards und die Wahl Kiesingers überrascht es nicht, dass auch in beiden Verhandlungsdelegationen die Parlamentarier dominierten. So gehörten der zunächst benannten elfköpfigen Verhandlungskommission der Union fünf Vertreter der Fraktion um ihren Vorsitzenden Rainer Barzel an, dazu kamen noch die drei von der CSU benannten MdBs sowie Familienminister Bruno Heck. Später erzwangen die Abgeordneten gegen den Willen der eigenen Führung, die Stärke der Verhandlungskommission auf 14 Mitglieder zu erhöhen, um alle internen Gruppierungen berücksichtigen zu können. Deutlich schlanker war die Organisation der Sozialdemokraten: Die Kommission der SPD bestand aus dem Parteivorsitzenden und Regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, sowie den vier stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, Alex Möller, Helmut Schmidt und Karl Schiller, die ihre Fraktion vor der Beschlussfassung über die Zusammensetzung der künftigen Regierung angemessen ins Bild setzten und auch die Parteigremien laufend informierten. Schließlich wurde der Abschluss des Regierungsbündnisses auch von den beiden Fraktionen durch förmlichen Beschluss besiegelt.

    Die starke Position der Fraktionen in den Verhandlungen spiegelt sich auch in der Regierungsmannschaft wider, in der klar die MdBs überwogen. Lediglich drei Mitglieder der Regierung - darunter bemerkenswerterweise der Kanzler, der sich selbst allerdings als "bescheidener Treuhänder der Fraktion" einschätzte, und sein Vize Brandt - gehörten 1966 nicht dem Bundestag an. Sieben Regierungsmitglieder der Union und drei SPD-Minister hatten zudem zumindest zeitweise dem engeren Fraktionsvorstand angehört, immerhin drei Minister (Franz Josef Strauß, Schiller und Wehner) wechselten direkt von dort in die Regierung.

    Gerade die Fraktionsversammlung der Union wollte sich nach der De-Nominierung Erhards weder die Entscheidung über den neuen Regierungschef noch über das Regierungsbündnis von Parteigremien oder der Fraktionsführung aus der Hand nehmen lassen. Festzuhalten bleibt allerdings auch, dass sich die Regierungsriege der Union fast vollständig aus den Reihen des amtierenden Kabinetts unter Erhard rekrutierte. Die Gelegenheit, die Regierungsbildung für eine personelle "Auffrischung" zu nutzen, ließ die Fraktion ungenutzt verstreichen. Auch bei den fünf bis 1969 erforderlichen Neubesetzungen der Kabinettssessel dominierten die Fraktionen als Rekrutierungsreservoir. Vier neu ernannte Minister waren MdBs, davon gehörten zwei in der 5. Wahlperiode dem engeren Fraktionsvorstand an.

    Bemerkenswert und für das weitere Koalitionsmanagement von beträchtlicher Brisanz war allerdings die Entscheidung der Regierungspartner, kein formelles Koalitionsabkommen abzuschließen, wie dies bereits seit 1961 praktiziert wurde, und auch keinen Koalitionsausschuss einzusetzen. Anders als in der Großen Koalition in Österreich etablierte man auch kein "Kreuzstichverfahren", bei dem die Amtsführung eines Ministers durch einen dem Koalitionspartner angehörenden Staatssekretär hausintern "überwacht" wird. Allerdings kamen die SPD-Minister überein, dass jedes "ihrer" Ministerien ein von der Union geführtes beobachten sollte.

    Die Fraktionen unter Kanzler Kiesinger



    Obwohl auch zeitgenössische Beobachter die Einrichtung eines Koalitionsausschusses für verzichtbar hielten, da (fast) alle einflussreichen Politiker des Regierungslagers im Kabinett versammelt waren, erwies sich dies in zweierlei Hinsicht als schwerer Fehler: Einerseits zeigte sich bald, dass der Kanzler und sein Vize Brandt offenkundig "überhaupt nicht miteinander konnten", und dies auch durch das gute Verhältnis von Wehner und Carlo Schmid zu Kiesinger nicht kompensiert werden konnte. Andererseits wurde den Fraktionsführungen primär die Funktion zugeschrieben, für die Umsetzung der Regierungsbeschlüsse im parlamentarischen Raum zu sorgen. In diese Rolle wollten sich auf Dauer aber weder die Fraktionen noch die Fraktionsführungen und schon gar nicht die beiden machtbewussten und - schon aufgrund ihres Alters - karriereorientierten Fraktionsvorsitzenden Barzel und Schmidt fügen. Der Konflikt kulminierte bereits im Sommer 1967, woraufhin der "Kreßbronner Kreis" etabliert wurde.

    Ausgangspunkt war ein Gespräch von Kiesinger, Brandt, Wehner und Heck im Ferienhaus des Kanzlers in Kreßbronn am Bodensee, bei dem man beschloss, zur Lösung der anstehenden Probleme regelmäßig - im Ergebnis dann wöchentlich - gemeinsam mit Barzel, Schmidt und dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe Richard Stücklen zu tagen. Schnell aber wuchs der Personenkreis an, so dass das Gremium Ende 1968 faktisch entscheidungsunfähig war und wieder drastisch verkleinert wurde: Es setzte sich jetzt je zur Hälfte aus Mitgliedern der Regierung (Kiesinger, Brandt, Strauß, Wehner) und der Fraktionen zusammen (Barzel, Schmidt, Stücklen und der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion Alex Möller). Zudem wurden auch die Fraktionsversammlungen laufend von Kabinettsmitgliedern über das Regierungshandeln informiert. Dies hielt die Parlamentarier allerdings nicht davon ab, die Initiativen der Regierung im Zuge der Gesetzesberatungen mitunter grundlegend zu überarbeiten. Klaus Hildebrand konstatiert, in dieser Zeit hätten die Fraktionen von Union und SPD eine Bedeutung gehabt wie nie seit Gründung der Bundesrepublik.

    Angesichts der Aktivitäten der beiden Fraktionsvorsitzenden fragten sich Eingeweihte allerdings mitunter, ob tatsächlich Kabinett oder "Kreßbronner Kreis" die Entscheidungszentren der Koalition bildeten - und nicht etwa Barzel und Schmidt die "heimliche Nebenregierung": "Beide hatten sich im täglichen Koalitionsgeschäft perfekt arrangiert. (...) Beide waren praktisch zu jeder Zeit füreinander erreichbar. (...) Vor dem Zusammentritt der Führungsgremien ihrer Fraktionen hatten sich die Fraktionsvorsitzenden gewöhnlich schon verständigt. Die gegenseitige Abstimmung geschah rasch und reibungslos und unbelastet von Prestigerücksichten, die zwischen ihnen keine Rolle spielten." Dabei zielten die Gespräche nicht nur auf ein möglichst reibungsfreies Management der parlamentarischen Gesetzgebungsarbeit, sondern insbesondere auch auf die Pflege des Koalitionsklimas. Zudem verstanden sich beide - bei allem Bewusstsein der Bedeutung der eigenen Person - als dezidierte Vertreter der Fraktionsinteressen gegenüber den Regierungsmitgliedern und sahen ihre Aufgabe darin, "der Regierung aufzuzeigen, was innerhalb der eigenen Fraktion möglich, machbar und realisierbar war". Probleme warf etwa die Verabschiedung der so genannten "Notstandsverfassung" auf, bei der eine Gruppe von knapp 100 SPD-Abgeordneten grundlegende Änderungen erzwang. Ebenso setzte die Unionsfraktion gegen den Kanzler die Kandidatur von Gerhard Schröder bei der Bundespräsidentenwahl 1969 durch.

    Die Neuauflage der Großen Koalition 2005



    Im Unterschied zum Bündnis der 1960er Jahre entsprach die Neuauflage der Großen Koalition 2005 weitaus weniger den Präferenzen von CDU/CSU und SPD. Da jedoch andere Koalitionsoptionen ("Ampel" bzw. "Jamaika") von mehreren Spitzenakteuren ausgeschlossen wurden, blieb zuletzt nur die Große Koalition als Option. Die ersten Sondierungen wurden von Gerhard Schröder und Franz Müntefering sowie Edmund Stoiber und Angela Merkel unternommen und mündeten in einen Vorvertrag mit dem Titel "Grundlagen für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und SPD". Der Einfluss der Fraktionen wird in diesem Stadium durch die Vertretung der beiden vormaligen Fraktionsvorsitzenden (Merkel, Müntefering) sichtbar.

    Diese Verhandlungen stellten allerdings erst den Auftakt dar. Im späteren Verlauf bildete sich eine zentrale "Große Verhandlungskommission" aus jeweils 15 Mitgliedern der CDU/CSU und der SPD, die abwechselnd in beiden Parteizentralen tagten. Die Mehrheit von ihnen (19 Personen) hatte zum Zeitpunkt der Verhandlungen ein Bundestagsmandat inne. Angesichts der starken personellen Einbindung der Fraktionen in die Koalitionsverhandlungen ist davon auszugehen, dass die Fraktionen in beträchtlichem Maße Einfluss auf die Vereinbarungen nehmen konnten.

    Ebenso stellten die Fraktionen auch diesmal ein wichtiges Rekrutierungsreservoir für das Regierungspersonal. Ein erheblicher Teil der Bundesminister hat eine - allerdings unterschiedlich lange - Sozialisierung im Bundestag erfahren. In der 16. Wahlperiode verfügten nur fünf von ihnen (Wolfgang Tiefensee, Peer Steinbrück, Ursula von der Leyen, Frank-Walter Steinmeier und Thomas de Maizière) über kein eigenes Bundestagsmandat - allerdings zogen vier weitere erst 2005 in den Bundestag ein. Wie die CDU 1966 nutzte auch die SPD 2005 die Regierungsneubildung nur bedingt, um das Regierungspersonal zu wechseln.

    CDU/CSU und die SPD haben sich darauf geeinigt, dass mindestens einmal im Monat Gespräche zwischen der Kanzlerin, dem Vizekanzler, den Fraktionsvorsitzenden, dem Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe und zusätzlich den Parteivorsitzenden stattfinden ("Siebener-Runde"). Durch die Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, Volker Kauder und Peter Ramsauer sind die Abgeordneten der Mehrheitsfraktionen damit dauerhaft in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Von besonderer Bedeutung ist die Koalitionsklausel, die der CSU ein gesondertes Vetorecht zubilligt, da angeführt wird, dass alle drei Parteien - CDU, CSU und SPD - im Konsens entscheiden sollen.

    Die Fraktionen unter Kanzlerin Merkel



    Wie schon bei der Großen Koalition der 1960er Jahre erweiterte sich der Koalitionsausschuss auch nach 2005 sukzessive über die ursprünglich geplante Runde von sieben Personen hinaus. Zunächst wurden die drei Generalsekretäre Ronald Pofalla, Hubertus Heil (beide MdB) und Markus Söder fallweise hinzugezogen, dann erklärte sich auch Peer Steinbrück in seiner Funktion als Finanzminister zum Mitglied des Koalitionsausschusses. Als Gegenreaktion entschlossen sich Merkel, Stoiber, Kurt Beck und Müntefering im Juli 2006 sich zusätzlich in einer Vierer-Runde zu treffen. Dieses Gremium wiederum stieß auf heftigen Widerstand der Fraktionschefs. Ramsauer interpretierte es als einen "wohlerwogene(n) Schritt, die Fraktionen auszuschließen" und appellierte an Struck und Kauder, nun selbst enger zusammenzurücken: "Um so mehr kommt es künftig auf eine engere Zusammenarbeit der Dreier-Gruppe an." In der Folge wurde die "Viererbande" wieder durch die Fraktionschefs zu einer Siebener-Runde ergänzt.

    Insgesamt zeigt sich auch seit 2005, dass die Zusammenarbeit auf der Fraktionsführungsebene relativ harmonisch abläuft, Struck und Kauder über hohe fraktionsinterne Akzeptanz verfügen und sie sich ihre gegenseitige Wertschätzung immer wieder auch öffentlich versichern - geradezu medial inszenieren. Viele Probleme, die sich zwischen den Koalitionspartnern ergeben, werden offenkundig durch die Fraktionschefs geregelt. Sie koordinieren sich durch tägliche Telefongespräche - "meistens ruft Kauder an, weil bei ihm die Anregungen der Kanzlerin auflaufen" -, durch persönliche Gespräche und durch regelmäßige Treffen jeden Dienstagmorgen mit Ramsauer. Dabei erleichtert es insgesamt die Regierungskoordination, dass Struck und Kauder nicht nach höheren Ämtern streben und sich daher kooperativ verhalten.

    Eher der Normalität des deutschen parlamentarischen Regierungssystems entspricht es, dass die Fraktionsvorsitzenden ein durchaus selbstbewusstes Rollenverständnis zeigen: "Die Fraktionen müssen ein eigenes Selbstbewusstsein bewahren, einen eigenen Gestaltungswillen, und sich nicht nur als Abnickverein verstehen" (Kauder). Die Fraktionsführungen haben ein Frühwarnsystem entwickelt, mit dem sie sich gegenseitig und der Regierung signalisieren, wenn es in der eigenen Fraktion brenzlig wird. Im Gegenzug wird der Koalitionsvertrag gegenüber widerwilligen Abgeordneten auch strategisch eingesetzt: "Für mich gilt der Koalitionsvertrag rund um die Uhr und überall in Deutschland" (Kauder).

    Auch wenn die Mehrheit der Großen Koalition nicht ganz so komfortabel wie in den 1960er Jahren ist, bleibt es prinzipiell unbedeutend, wenn einzelne Abgeordnete ihre Zustimmung verweigern. Größere parteiinterne Gruppierungen verlieren jedoch keineswegs an Einfluss, wenn sie wirksam damit drohen können, dass eine Vorlage scheitern könne. Bei der Föderalismusreform mussten die Koalitionsspitzen beispielsweise "nachverhandeln", weil der "Seeheimer Kreis", die "Parlamentarische Linke" und die "Netzwerker" in der SPD-Fraktion ihre Unzufriedenheit deutlich kommunizierten. Wie in den 1960er Jahren konnte sich der Arbeitnehmerflügel in der CDU/CSU gegenüber dem wirtschaftsliberalen Flügel besser positionieren, da viele ihrer Forderungen mit der SPD kompatibel waren und deswegen verstärkt wurden.

    Schlussbemerkungen



    Zunächst einmal ist auffällig, wie wenig sich Große Koalitionen in ihrer Funktionsweise von Kleinen Koalitionen unterscheiden. Auch in einem Bündnis von Union und SPD bildet der Koalitionsvertrag die Grundlage des politischen Handelns, das durch einen Koalitionsausschuss koordiniert wird, in dem selbstverständlich die Fraktionen prominent und einflussreich vertreten sind. Vor diesem Hintergrund ist allerdings einzuräumen, dass der einzelne Abgeordnete in einer Großen Koalition weniger Einfluss ausüben kann - erträglicher wird dies möglicherweise dadurch, dass er größere Freiheit genießt, eventuelles Missfallen öffentlich kund zu tun. Um daraus resultierende Spannungen zu kompensieren, haben die Fraktionsvorsitzenden gegenüber der Regierung die angemessene Berücksichtigung solcher Positionen einzufordern, weshalb den Vorsitzenden im Koalitionsmanagement eine stärkere Bedeutung zukommt. Daher scheiterten sowohl 1967 als auch 2006 Versuche, die Koalition ohne Einbeziehung der Fraktionsführungen zu steuern. In beiden Fällen kam es zu einer personellen Ausweitung des "exklusiven" Koalitionsausschusses über ein entscheidungsfähiges Maß hinaus, auf die mit einer abermaligen Reduzierung auf einen kleinen Teilnehmerkreis reagiert wurde, um die Arbeitsfähigkeit der Runde zu sichern. Ebenso rekrutierte die schon zuvor regierende Partei ihre Minister zu einem Gutteil aus der bisherigen Regierungsmannschaft.

    Insbesondere bei der Besetzung der Ministerämter zeigt sich allerdings, dass die Machtposition der Fraktionen bei einer Regierungsbildung in der laufenden Wahlperiode noch größer ist als zu deren Beginn. Unvorstellbar erscheint heute, ein Bündnis ohne formellen und elaborierten Koalitionsvertrag zu schließen. Trotz ihrer beträchtlichen Koordinationsleistungen und der demonstrativ bekundeten gegenseitigen Wertschätzung der Fraktionsführer bleibt zu beachten, dass heute "alte parlamentarische Fahrensmänner" ohne weitgehende persönliche Ambitionen die Fraktionen führen, während dies in den 1960er Jahren zwei Männer taten, die noch in höhere Positionen kommen konnten - und vor allem auch wollten.

    Angesichts der aktuellen Ernüchterung über die Bilanz der Großen Koalition, der ein viel zu geringer Reformwille attestiert wird, sei auf mögliche Parallelen zu den 1960er Jahren hingewiesen. Klaus Hildebrand beurteilt das damalige Bündnis folgendermaßen: "Handlungsbereit und handlungsfähig war diese Regierung, wenn es darauf ankam, eine Vielzahl erforderlicher, nicht mehr länger aufschiebbarer Entscheidungen zu treffen, die für Alltag und Existenz, für Handel und Wandel der Bürger maßgeblich waren. Nicht handlungsbereit und handlungsfähig aber war diese Regierung, wenn es darum ging, im Großen, im Grundsätzlichen, im säkularen Zusammenhang der Weltgeschichte gar zu einem Durchbruch zu gelangen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Manfred Schwarzmeier, Parlamentarische Mitsteuerung, Wiesbaden 2001; Suzanne S. Schüttemeyer, Fraktionen im Deutschen Bundestag 1949 - 1997, Opladen 1998.

  2. Die ebenfalls interessante Frage nach den Einflussmöglichkeiten der Opposition kann in diesem Rahmen leider nicht behandelt werden.

  3. Vgl. Suzanne S. Schüttemeyer, Koalitionsbildung im Bund: Sache der Parteien?, in: Roland Sturm/Sabine Kropp (Hrsg.), Hinter den Kulissen von Regierungsbündnissen, Baden-Baden 1999, S. 81 - 95.

  4. Im Gegenzug müssen in einer Großen Koalition die Reihen aber auch nicht mehr dicht geschlossen werden, was es den Koalitionsabgeordneten erlaubt, die Regierung offener zu kritisieren. Vgl. Martin Hirsch, Diktatur des Establishments?, in: Emil Hübner u.a. (Hrsg.), Der Bundestag von innen gesehen, München 1969, S. 84.

  5. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass zur Loyalitätssicherung die Berücksichtigung solcher Positionen für die Koalitionsführung langfristig unerlässlich ist.

  6. Vgl. zum Abstimmungsverhalten bei "Schlüsselentscheidungen" auch: Klaus von Beyme, Der Gesetzgeber, Opladen 1997, S. 287.

  7. Vgl. Heribert Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozess während der Großen Koalition 1966 bis 1969, Meisenheim 1975. Zur Regierungskrise 1966: Klaus Günther, Der Kanzlerwechsel in der Bundesrepublik, Hannover 1970; S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 146 - 159.

  8. H. Knorr, ebd. , S. 116.

  9. Vgl. ebd., S. 116, 280.

  10. Der Fraktionsvorsitzende Fritz Erler konnte wegen seiner schweren Erkrankung nicht teilnehmen.

  11. Vgl. S. Schüttemeyer (Anm. 1), S. 157f.; H. Knorr (Anm. 7), S. 97 - 100.

  12. S. Schüttemeyer, ebd., S. 150.

  13. Vgl. zur "befriedenden Wirkung von Koalitionsvereinbarungen": Sabine Kropp, Koalitionsverhandlungen nach Wahlen, in: Hans-Ulrich Derlien/Axel Murswieck (Hrsg.), Regieren nach Wahlen, Opladen 2001, S. 68 - 70.

  14. Vgl. Klaus Schönhoven, Wendejahre, Bonn 2004, S. 174f.

  15. Vgl. ebd., S. 172.

  16. Vgl. Philipp Gassert, Kurt Georg Kiesinger, München 2006, S. 564 - 579; Andrea H. Schneider, Die Kunst des Kompromisses, Paderborn 1999, S. 92 - 104; Wolfgang Rudzio, Die Regierung der informellen Gremien, in: Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, 3 (1972), S. 351 - 353.

  17. Vgl. W. Rudzio, ebd., S. 355f.

  18. Vgl. H. Knorr (Anm. 7), S. 169 - 174.

  19. Vgl. A. H. Schneider (Anm. 16), S. 228f.

  20. Vgl. Klaus Hildebrand, Die erste Große Koalition von 1966 bis 1969, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), 37 (2006), S. 615.

  21. H. Knorr (Anm. 7), S. 185f.

  22. A. H. Schneider (Anm. 16), S. 89.

  23. Vgl. Heinrich Oberreuter, Notstand und Demokratie, München 1978, S. 212 - 216; M. Hirsch (Anm. 4), S. 88 - 90; K. v. Beyme (Anm. 6), S. 133; A. H. Schneider (Anm. 16), S. 270f.

  24. Vgl. Peter März, Große Koalitionen, in: Einsichten und Perspektiven-Themenheft, (2007) 1, S. 44f.

  25. Vgl. Günter Bannas, Die Koordinationskanzlerin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. 10. 2005.

  26. Vgl. Uwe Thaysen, Regierungsbildung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZParl, 37 (2006), S. 470 - 480.

  27. Margaret Heckel, Fraktionschefs empört über neue Vierer-Runde um Angela Merkel, in: Die Welt vom 29.7. 2006; Stefan Reker, Murren über die "Viererbande", in: Rheinische Post vom 1.8. 2006.

  28. Günther Lachmann/Jan Rübel, Eine Männerfreundschaft, in: Welt am Sonntag vom 15. 10. 2006.

  29. Nico Fried/Christoph Schwennicke, "Wir fusionieren ja nicht", in: Süddeutsche Zeitung vom 10. 12. 2005.

  30. Elisabeth Niejahr/Patrik Schwarz, "Das ist eine Frage der Gerechtigkeit", in: Die Zeit vom 12. 1. 2006.

  31. Vgl. S. Reker (Anm. 27).

  32. Bei der CDU ist zudem in Rechnung zu stellen, dass die Führungsgremien der Partei 1966 von der Fraktion dominiert wurden.

  33. K. Hildebrand (Anm. 20), S. 618.

M.A., geb. 1979; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Regensburg, Universitätsstraße 31, 93040 Regensburg.
E-Mail: E-Mail Link: henrik.gast@politik.uni-regensburg.de

Dr. phil., geb. 1966; wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft I der Universität Passau, Innstraße 25, 94030 Passau.
E-Mail: E-Mail Link: kranenpohl@uni-passau.de