Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die transatlantische Wertegemeinschaft im 21. Jahrhundert | Westliche Wertegemeinschaft? | bpb.de

Westliche Wertegemeinschaft? Editorial Die transatlantische Wertegemeinschaft im 21. Jahrhundert Die Bedeutung von Freiheit und Sicherheit in Europa und in den USA Ludwig Erhard und die Amerikanisierung der westdeutschen Industrie Westliche Wertegemeinschaft? Zur Sprengkraft religiöser Werte Wie europäisch ist die kulturelle Amerikanisierung? Europäischer Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert

Die transatlantische Wertegemeinschaft im 21. Jahrhundert

Stefan Immerfall Hermann Kurthen Hermann Stefan Immerfall / Kurthen

/ 16 Minuten zu lesen

Trotz Kritik am Irakkrieg ist keine dauerhafte Schädigung der transatlantischen Beziehungen eingetreten. Der Beitrag widerspricht der Behauptung, Antiamerikanismus sei in Deutschland weit verbreitet.

Einleitung

Eine Vielzahl von Kommentatoren, Journalisten und Autoren haben die Auswirkungen auf die europäisch- und deutsch-amerikanischen Beziehungen im Vorfeld des Irakkrieges und unmittelbar danach analysiert. Es ist jetzt schon offensichtlich, dass sich viele davon als kurzsichtig erwiesen haben. Das gilt beispielsweise für neokonservative Strategien, welche eine schnelle und nachdrückliche Demokratisierung des Nahen Osten voraussahen und damit ein "Neues Amerikanisches Jahrhundert" einläuten wollten. Stattdessen hat Amerikas Politik seinen Einfluss und sein Ansehen in einem Maße geschwächt, das seine Verbündeten ernsthaft besorgt machen sollte. Auch eine irreparable Schädigung transatlantischer Bande hat nicht stattgefunden, trotz der tiefen Risse, die zwischen der US-Regierung und vielen ihrer europäischen Verbündeten zu Tage getreten sind. Gerade die nach der Ausrufung des "War on Terror" ins Amt gekommenen europäischen Politiker Angela Merkel und Nicolas Sarkozy bemühen sich um die transatlantischen Beziehungen, während die schwache US-Regierung von George W. Bush am Ende ihrer Amtszeit für jede Unterstützung dankbar sein muss.





Welche langfristigen Auswirkungen und Schäden von der Bush-Regierung verursacht wurden, ist noch nicht absehbar. Trotz - aber vielleicht auch wegen - des Irakkriegs ist die islamistische Bedrohung eher größer als kleiner geworden. Selbst eine Supermacht tut sich schwer, die immensen Kriegskosten zu schultern, finanziell wie psychologisch. Welche Lehren lassen sich aus den jüngsten transatlantischen Auseinandersetzungen für die Zukunft speziell der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA ziehen?

Warum kam es zur transatlantischen Entfremdung?

Bevor Aussagen über mögliche Entwicklungen gemacht werden, müssen die Ursachen bekannt sein, die zu ihnen geführt haben. Was waren die wichtigsten Triebfedern für die deutsch-amerikanische Entfremdung im Gefolge des Irakkrieges? Sehr vereinfacht wurden insbesondere drei Ursachen benannt: subjektive, strukturelle und politisch-kulturelle.

Die subjektive Erklärung konzentriert sich auf Unterschiede in den Persönlichkeiten der beteiligten Akteure und auf kurzfristige Ereignisse, die Meinungsverschiedenheiten und Missverständnisse begünstigen. So offenbarten George W. Bush, Dick Cheney und Ronald Rumsfeld nicht nur einen für Gerhard Schröder oder Jacques Chirac kaum akzeptablen Führungsanspruch - nach dem Motto: wer nicht mit uns ist, ist gegen uns -, sondern befleißigten sich von vornherein eines Führungsstils, der die europäischen Verbündeten befremden musste. Dazu gehörte etwa die in religiöse Beschwörungsformeln gekleidete Sicherheitsstrategie. Umgekehrt war Bundeskanzler Schröders Beharren auf Deutschland als "normale Nation" und seine Rede vom neuen deutschen Patriotismus für amerikanische Führungseliten ungewohnt. Gerade für Bush war es ein Zeichen von Führungsschwäche und Opportunismus, als Schröder seinen Wahlkampf mit dem Slogan bestritt, unter seiner Führung würden sich keine Deutschen an einem Irakkrieg beteiligen. Damit wurde aus seiner Sicht kurzfristiger Popularität wegen die transatlantische Solidarität aufs Spiel gesetzt.

In der Tat zeigen Momentaufnahmen der damaligen Zeit, bis hin zum Bush-Besuch in Mainz, eine nur mühsam verborgene persönliche Verstimmung. Aber solche persönlichen Unterschiede existierten auch schon früher, etwa zwischen Jimmy Carter und Helmut Schmidt, ohne dass daraus weiterreichende Verstimmungen erwachsen wären. Auch in Vietnam, Nicaragua oder im Iran (um den Schah auf den Thron zu setzen) wurde das Recht der USA betont und durchgesetzt, aufgrund seiner Einzigartigkeit unilateral handeln zu dürfen.

Das veränderte Verhalten der Führungspersonen wird möglicherweise besser durch gewandelte Umstände verständlich. Dies beansprucht die strukturelle Erklärung. In der Tat änderte das Ende des Kalten Krieges die Beweggründe für das transatlantische, politische und militärische Bündnis auf beiden Seiten. Für viele Beobachter ist offensichtlich, dass Europa/Deutschland und die Vereinigten Staaten nun weniger aufeinander angewiesen sind als vorher. Unterschiedliche Einschätzungen nationaler, regionaler und globaler Interessen und Ziele kristallisierten sich daher nicht erst in der angemessenen Antwort auf den 11. September 2001, sondern bereits seit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 heraus.

Weitere neue Bedingungen kommen hinzu, etwa die strukturelle Hegemonie der konservativen Partei im Süden und Mittleren Westen der USA, eine Verlagerung der Handelsströme weg von Europa-USA hin zu Europa-Asien und USA-Asien. In Europa erwies sich die Europäische Union als attraktiver Schwerpunkt, während in den USA der militärisch-(öl)industrielle Komplex an Einfluss gewann. Gesellschaftliche Unterschiede wie in der demographischen Entwicklung kommen hinzu. Deshalb sind die beiderseitigen innerstaatlichen Prioritäten, wirtschaftlichen Belastungen, innen- und außenpolitischen Interessen, militärischen Mittel und politischen Maßnahmen mehr noch als früher in Einklang zu bringen.

Aber nicht alle diese Wandlungsprozesse weisen auf einen größeren Abstand zwischen den USA und Europa hin. Beispielsweise führt der gestiegene Handel mit China auch zu gemeinsamen Interesse diesseits und jenseits des Atlantiks, China zum stärkeren Schutz von Eigentums- und Patentrechten zu bewegen. Allgemeiner gesprochen: Wandlungsprozesse bedürfen ihrer Interpretation, bevor sie politisch wirksam werden.

Der politisch-kulturelle Ansatz untersucht solche Interpretationsmuster. Er analysiert den Einfluss von Weltsichten und Hintergrundannahmen auf die gewählte Entscheidung. Denn es zeigt sich immer wieder, dass ähnliche Probleme unter auch sonst vergleichbaren Umständen unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Man betrachte nur die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, welche Bush Senior und Bush Junior aus der Tatsache gezogen haben, dass die USA den Kalten Krieg "gewonnen" haben.

Allerdings weist auch dieser Ansatz einige Schwächen auf. So sind Gesellschaften in ihren Wertemustern weder homogen noch statisch. Sie sind Veränderungen unterworfen und können widersprüchlich sein. Es ist daher meist willkürlich, aus der kulturellen Gemengelage bestimmte Aspekte als besonders folgenreich hervorzuheben. Auch können sich unterschiedliche Bevölkerungsgruppen untereinander unterscheiden. Gleiches gilt für die Eliten. Zudem müssen auch in demokratischen Systemen die politischen Eliten keineswegs immer der breiten öffentlichen Meinung folgen. So beteiligten sich Spanien, Italien und auch Großbritannien und Dänemark trotz seiner überdeutlichen Unpopularität am Irakkrieg, was aber unmittelbar - nach den Bombenanschlägen von Madrid - nur zur Abwahl der Aznar-Regierung in Spanien führte.

Somit lassen sich zu einem beobachtbaren Trend in den Wertemustern stets vermeintliche Gegenbeispiele finden. Dennoch erscheint ein politisch-kultureller Zugang im Fall der deutsch-amerikanischen "Krise" zwischen 2002/2005 als lehrreich. Mehrere Indizien sprechen dafür, nach den kulturellen Untertönen der diplomatischen Ereignisse zu fragen: Die deutsche Reaktion auf die amerikanischen Kriegsvorbereitungen waren - gemessen an Deutschlands Vergangenheit als treuer Verbündeter - nicht nur ungewöhnlich deutlich. Ungewöhnlich auch war die breite Übereinstimmung zwischen der politischen Führung und der Bevölkerung. Sie ging soweit, dass kritische Intellektuelle vom Schlag eines Jürgen Habermas oder Günter Grass plötzlich bekannten, "stolz" auf die internationale Haltung Deutschlands zu sein.

Politisch-kulturelle Unterströmungen

Im Fall der deutsch-amerikanischen Entfremdung bietet sich als eine einfache politisch-kulturelle Erklärung diejenige an, die Öffentlichkeit Europas, seine Eliten und Medien seien tendenziell pazifistisch gestrickt, während die USA den 11. September als militärische Herausforderung verstanden habe, auf die es ebenso reagieren müsse. Ein Beispiel dafür ist die bekannt gewordene Unterscheidung von Robert Kagan die Amerikaner stammten "vom Mars" und die Europäer "von der Venus". Die Europäer, klug aber auch zynisch geworden durch ihre Geschichte, stünden militärischen Interventionen grundsätzlich ablehnend gegenüber, während die USA als Pioniernation nicht nur Gewalt als mögliches Mittel betrachteten, Konflikte zu lösen, sondern auch als ein geeignetes Mittel der Politik.

Bereits ein kurzer Blick auf die Geschichte der französischen Afrikapolitik oder Großbritanniens Entschlossenheit im Falklandkrieg lässt diese Sichtweise fragwürdig erscheinen. Auch die deutsche Öffentlichkeit ließ sich im Fall der NATO-Bombardierung Serbiens durchaus zur Unterstützung eines -im Übrigen formal völkerrechtswidrigen - Militäreinsatzes bewegen. Über 7 000 deutsche Soldaten sind derzeit ständig im Auslandseinsatz. Schließlich werde, so der damalige Verteidigungsminister Peter Struck, "Deutschland am Hindukusch verteidigt".

Eine andere, politisch-kulturelle These geht von einem untergründig stets vorhandenen Antiamerikanismus aus, der sich anlässlich des Irakkriegs Bahn gebrochen habe. Hinzu komme eine Neubewertung der deutschen Vergangenheit. Deutsche würden sich nicht mehr nur als Täter, sondern auch als Opfer - zum Beispiel von Vertreibungen oder von alliierten Flächenbombardements - sehen. Da komme es gelegen, gegenüber dem einstigen Beschützer die moralische Überlegenheit zu beanspruchen.

Zunächst einmal: Was ist und wie misst man Antiamerikanismus? Wenn man bereits einzelne Einstellungen gegenüber diesem oder jenem Attribut des amerikanischen politischen, kulturellen oder sozio-ökonomischen Systems oder gar gegenüber der politischen Führung als Antiamerikanismus definiert, wird man überall Antiamerikanismus erblicken. Von Antiamerikanismus sollte man nur dann sprechen, wenn eine grundsätzliche Tendenz vorliegt, Amerika und "die" Amerikaner unterschiedslos negativ zu beschreiben.

Zumindest nach den Ergebnissen der Meinungsforschung vermag die These, dass Antiamerikanismus im Zentrum der deutschen Haltung zum Irakkrieg gestanden habe, nicht zu überzeugen. Richtig ist, dass die Europäer - zumal die Deutschen - der Politik von Präsident Bush ausgesprochen kritisch gegenüber stehen. Diese Kritik hat zweifellos auch zu einem deutlichen Ansehensverlust der USA insgesamt geführt. Dennoch unterscheiden die Deutschen weiterhin zwischen dem Präsidenten und den amerikanischen Bürgern: Nur 30 Prozent schätzen gegenwärtig das Image der Vereinigten Staaten als positiv ein, gleichzeitig beurteilen jedoch 63 Prozent die Amerikaner als positiv. Wenn die überwältigende Mehrheit der Deutschen mit der Außenpolitik Bushs nicht einverstanden ist, muss naturgemäß auch die Zahl derer sinken, die eine weltweite Führungsrolle der USA befürworten. Dennoch ist letztere Zahl weiterhin deutlich höher als erstere.

Nach den Gründen für die verschlechterten Beziehungen gefragt, gaben die Deutschen an, dass dies in erster Linie am Krieg im Irak (37 Prozent) und an der Person des Präsidenten (41 Prozent) liege. 39 Prozent glauben denn auch, dass das Ergebnis der US-Wahlen 2008, bei denen Bush nicht mehr antritt, das transatlantische Verhältnis verbessern werde. Zwar solle die EU nach 87 Prozent der Befragten mehr Verantwortung für den Umgang mit internationalen Bedrohungen übernehmen, aber 58 Prozent der Deutschen geben an, dies solle sie in enger Kooperation mit den USA tun. In der Summe legen die Meinungsumfragen nicht nur nahe, dass sich Deutsche und Amerikaner weiterhin mit Sympathie begegnen und dass sie viele Gemeinsamkeiten haben, sondern, dass sie sich auch im Allgemeinen als vertrauenswürdig einschätzen. Diese positive Einschätzung wiegt umso mehr, als große Länder unter sonst gleichen Umständen als weniger vertrauenswürdig beurteilt werden als kleine.

Es sei keineswegs behauptet, dass es Antiamerikanismus überhaupt nicht (mehr) gibt. In den vergangenen 40 Jahren gaben zirka zehn Prozent der Deutschen, Briten, Franzosen und Italiener an, eine schlechte oder sehr schlechte Meinung von "den" Amerikanern zu haben. Der Anteil schwankt, aber die Fluktuation über die Zeit ist in allen vier Ländern die gleiche. Einen ersten Einbruch gab es 1954, insbesondere in Frankreich im Gefolge der franko-amerikanischen Krise, dann in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre im Gefolge der Suez-Krise. Einen dritten Höhepunkt erlebte der "Antiamerikanismus" zwischen 1971 und 1976 als Konsequenz des Vietnamkriegs und der Währungskrise und schließlich in den frühen 1980er Jahren in Zusammenhang mit der Raketenstationierung. 2003 brachte der zweite Irakkrieg in allen vier Ländern den höchsten Anstieg. Allerdings kommt - wie schon in der Vergangenheit - die grundsätzliche Sympathie der großen Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Amerikanern schnell wieder zum Vorschein.

Es sei auch zugestanden, dass Meinungsumfragen nicht die einzige oder beste Methode sind, Stereotypen und Vorurteilen auf die Spur zu kommen. Meinungen sind flüchtig, und Meinungsumfragen können daher nur ein ungenaues Messinstrument für politische Kulturen sein. Doch auch andere Erhebungsmethoden und komplexere Verfahren weisen in die gleiche Richtung. Pierangelo Isernia kann mittels multipler Regressionsanalyse zeigen, dass zwischen 2002 und 2004 die Einstellung der Befragten zum Irakkrieg sehr viel weniger von antiamerikanischen Gefühlen als von Einstellungen gegenüber der Bush-Regierung und von außenpolitischen Einstellungen abhängig war. Die Kritik der europäischen Bürger ist also weniger von einer generellen, gefühlsbetonten Orientierung gegenüber den USA als vielmehr von der konkreten Einstellung gegenüber einzelnen Politikfeldern bestimmt. Nachhaltiger Antiamerikanismus bleibt eine Einstellung von Minderheiten.

Transatlantisches Wertefundament in Gefahr?

In den Meinungsumfragen und in den anderen Erhebungsmethoden treten aber auch aktuelle Differenzen in den Einstellungen diesseits und jenseits des Atlantiks zu Tage. Sie beziehen sich eher auf die Wahl der Mittel als auf die angestrebten Ziele. So wollen Europäer und Deutsche dem Iran weniger häufig mit Gewalt drohen, sollte er an seinem Atomprogramm festhalten. Generell finden militärische Optionen weniger oft Zustimmung, wie zum Beispiel Kampfeinsätze gegen die Taliban.

Unterschiede zwischen Europa und Amerika im Verständnis nationalstaatlicher Souveränität oder in den Einstellungen gegenüber dem Sozialstaat und der Religion sind nicht neu. Seymour Lipset hat zahlreiche solcher Differenzen zusammengetragen, wobei er die amerikanischen Wertemuster als "besonders" und "einzigartig" ansieht. Darüber müssen wir hier nicht entscheiden - die Frage, ob der europäische Säkularismus oder die amerikanische Religiosität eher in die Zukunft weist, ist mehr denn je strittig. Jedenfalls sind im Durchschnitt Amerikaner eher religiös, optimistisch, patriotisch und individualistisch. Sie plädieren eher für eine Regierung, die sich in sozialen Dingen zurückhält, und sie stimmen eher der Auffassung zu, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied ist. Der Anteil der Personen, die einen moralischen Rigorismus vertreten, die also der These zustimmen, man könne unter allen Umständen sagen, was gut ist und was böse, schwankt in Deutschland wie in den USA. Aber immer ist ihr Anteil in den USA beträchtlich höher.

Wie aber sind diese Unterschiede zu deuten? Bildet sich nach dem amerikanischen Glauben an die eigene Ausnahmeerscheinung ein eigenständiges europäisches Wertefundament der Harmonie und der sozialen Verträglichkeit im Kontrast zum amerikanischen Hegemonialkapitalismus heraus? Eine solche europäische Selbstgefälligkeit entbehrt jeder Grundlage. Erinnert sei nur an den demokratisch zweifelhaften Charakter der Europäischen Union, die ihren Bürgern den verfassungsbildenden "Reformvertrag" nicht zur Abstimmung vorlegt und an die Menschenrechtspolitik ihrer Mitgliedsstaaten, die der der Vereinigten Staaten nur wenig "nachsteht". Hingewiesen werden muss auch auf die fundamentalen innereuropäischen Unterschiede. In der Regel sind diese -sei es in der Politik oder in der Wirtschaft - größer als die zwischen der Europäischen Union als Ganzem und den Vereinigten Staaten. Und schließlich übersieht die Gegenüberstellung der USA als nationalistisch und Kontinentaleuropa als post-nationalistisch nicht nur die anhaltende Bedeutsamkeit des Nationalstaats auch in Europa. Sie übersieht auch, dass bedeutsame Teile der amerikanischen Öffentlichkeit eine stärkere EU befürworten und in Europa wiederum die Mehrheit gerade nicht bereit ist, einer EU als militärische Macht die nötigen finanziellen Mittel zu geben.

Oder aber ist das Wort vom atlantischen Wertefundament nur Schall und Rauch, gut allenfalls für politische Sonntagsreden? Egon Bahr führte kürzlich aus, zwischen den USA und Europa gebe es keine gemeinsamen Werte, sondern "nur eine gemeinsame Vorstellung von Demokratie, Pluralismus und Marktwirtschaft". Dieser Unterschied der Werte sei während des Kalten Kriegs vom gemeinsamen Sicherheitsinteresse verdeckt worden. Abgesehen davon, dass sich der Unterschied zwischen gemeinsamen Vorstellungen und gemeinsamen Werten nicht recht erschließen will, spricht doch vieles für eine gemeinsame "Atlantische Zivilisation".

Dafür spricht schon ein Blick auf die Größenverhältnisse der Differenzen. Unterschiede zwischen Werten sind nicht absolut, sondern erschließen sich erst im vergleichenden Bezug. Es ist aber offensichtlich, dass die Unterschiede zwischen Europa und den USA im Vergleich zur grundsätzlichen Geisteshaltung Chinas, Russlands oder Saudi-Arabiens eine untergeordnete Rolle spielen. Auch in den Einstellungen der Bürger zum Irakkrieg haben sich keine Risse im transatlantischen Wertefundament gespiegelt.

Eine andere Interpretation scheint daher naheliegender. Zwar ist die Wertegrundlage geteilt, aber über die geteilte Wertegrundlage wird oft übersehen, dass diese Werte unterschiedlich interpretiert werden. Daraus können "strukturierte Missverständnisse" in der wechselseitigen Wahrnehmung und Motivzuschreibung resultieren.

Warum aber ist die Möglichkeit von Missverständnissen und gegenseitiger Falschwahrnehmung im vergangenen Jahrzehnt gestiegen? Auf beiden Seiten gibt es weniger Politiker, die ein tieferes Verständnis für die Traditionen ihrer transatlantischen Amtskollegen haben. Dies lässt sich gut mit dem subjektiven und dem strukturellen Ansatz verbinden. Gewiss kam 2001 eine neue Generation von Diplomaten und Fachleuten mit weniger ausgeprägten europäischen Bindungen in Washington ins Amt und vielleicht vollzieht sich derselbe Prozess in Europa und Deutschland. Zugleich sinkt mit der wechselseitigen Wichtigkeit auch die Anzahl der Lehrstühle und Forschungseinrichtungen, die sich miteinander beschäftigen. Vor allem aber geht die Anzahl der Studierenden in den betreffenden Fächern zurück, da sie weniger hoffen dürfen, mit solcher Expertise Karriere zu machen.

Was ist zu tun?

Angesichts der bisherigen Erfahrungen sind wir der Überzeugung, dass starke transatlantische Bande und eine langfristige, strategische Partnerschaft aus Gründen der globalen Sicherheit, der politischen Stabilität und des wirtschaftlichen Erfolgs erstrebenswert bleiben. Die Sicherung deutsch-amerikanischer Beziehungen im neuen Jahrhundert sollte sich daher auf jenen Bereich der politischen Kultur konzentrieren, der oft übersehen wird, nämlich auf die unterschiedliche Interpretation fundamental ähnlicher Werte. Was kann getan werden, um eine aus solchen Interpretationsunterschieden resultierende langfristige Entfremdung zu vermeiden? Erstens gilt es, die Unvermeidlichkeit und vielleicht sogar die Erwünschtheit von Differenzen in den politischen Kulturen, gesellschaftlichen Prioritäten und nationalen Interessen anzuerkennen. Europäische Selbstgefälligkeit und amerikanisches Sendungsbewusstsein sind sowohl im wohlverstandenem Eigeninteresse als auch im gemeinsamen Interesse, das Gewicht der westlichen Wertegemeinschaft global zu stärken, kontraproduktiv. Dies umso mehr, als beide Seiten sich mit der konsequenten Umsetzung der von ihnen proklamierten Werte schwer tun. Zweitens ist es notwendig, zu verstehen, dass diese Unterschiede kein Hindernis für einen beständigen und gegenseitig förderlichen Austausch oder sogar für den Aufbau einer besonderen Beziehung sind, solange eine Atmosphäre von wechselseitigem Vertrauen, Respekt und Toleranz herrscht, in der Gemeinsamkeiten anerkannt werden. Allerdings setzt dieser Ansatz voraus, dass Amerikaner und Europäer und ihre jeweiligen Regierungen einen genaueren Blick auf ihre gemeinsamen humanistisch-universalistischen, normativen Orientierungen und Ziele werfen, welche in ihre politische Kultur eingebettet sind. Drittens sollte für einen lebhaften transatlantischen Austausch neben den üblichen Wegen der Diplomatie und der Politik auch von zwischenmenschlichen Freundschaften und Interaktionen Gebrauch gemacht werden, die sich in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, und außerdem vom dichten Beziehungsgeflecht und Austausch ziviler Organisationen, die sich von Familien über Hochschulen und Bildung hin zu den Unternehmen, Forschung, Journalismus, Kunst, Sport, Städtepartnerschaften und dem Tourismus erstrecken. Gerade weil die Anzahl derer abnimmt, die zwischen den unterschiedlichen Interpretationen des transatlantischen Wertefundaments vermitteln können, kommt den bürgerschaftlichen Beziehungen gegenüber der großen Politik eine besondere Bedeutung zu. Hier sind auch (Aus-)Bildungsinstitutionen gefragt.

Das gemeinsame transatlantische Wertefundament ist noch nicht in Gefahr. Es bedarf aber der Pflege. In der Vergangenheit geschah dies angesichts der deutsch-amerikanischen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, die ein dichtes transatlantisches Wurzelgeflecht entstehen ließ, quasi naturwüchsig. Doch diese Phase ist zu Ende.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Aufsatz beruht auf einem Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse in Hermann Kurthen/Antonio V. Menéndez-Alarcón/Stefan Immerfall, Safeguarding German-American Relations in the New Century: Understanding and Accepting Mutual Differences, Lanham, Maryland 2006, veröffentlicht wurden und das durch das StADaF (DAAD, New York) gefördert wurde.

    Die Zeit, Nr. 35 vom 23.08. 2007 hat verdienstvollerweise einige der bekanntesten Aussagen führender Intellektueller zu Beginn des Irakkieges aufgelistet. Eine Rückschau wie diese sollte Anlass zu mehr Bescheidenheit bei der Zunft der politischen Analytiker sein.

  2. Vgl. Ekavi Athanassopoulou, Transatlantic Relations Caught up by Reality, in: Journal of Transatlantic Studies, 4 (2006) 1, S. 117.

  3. Vgl. Michael Zürn/Martin Binder, Dekonstruktion oder Rekonstruktion der transatlantischen Beziehungen?, in: Jens Alber/Wolfgang Merkel (Hrsg.), Europas Osterweiterung: Das Ende der Vertiefung, Berlin 2006, S. 391 - 412.

  4. Vgl. Erich Weede, Living with the Transatlantic Rift, in: Orbis, 49 (2005) 2, S. 323 - 335.

  5. Vgl. Stephen Kalberg, The Hidden Link Between Internal Political Culture and Cross-National Perceptions: Divergent Images of the Soviet Union in the United States and the FR of Germany, in: Theory, Culture and Society, 8 (May 1991), S. 31 - 56; Stefan Immerfall, Bonds That Hold: Germany and America in an Age of Turbulence, in: Hermann Kurthen/ders./Antonio Menéndez (Hrsg.), Safeguarding German-American Relations in the New Century: Understanding and Accepting Mutual Differences, Lanham 2006, S. 113 - 132.

  6. Vgl. Günter Grass, Erklärung zum Irakkrieg, 21. 3. 2003, Radio Bremen, http://www.radiobremen.de/ online/grass/reden/unrecht.shtml (18. 12. 2007).

  7. Robert Kagan, Of Paradise and Power: America and Europe in the New World Order, New York 2003.

  8. Vgl. Mary Nolan, Anti-Americanism and Americanization in Germany, in: Politics & Society, 33 (2005) 1, S. 88 - 122.

  9. Vgl. Andrei Markovits, Amerika, dich hasst sich' s besser, Hamburg 2004.

  10. Vgl. Sergio Fabbrini, Layers of Anti-Americanism: Americanization, American Unilateralism and Anti-Americanism in an European Perspective, in: European Journal of American Culture, 23 (2004) 2, S. 79 - 94.

  11. Vgl. Pew Global Attitudes Project, 2007, Global Unease With Major World Powers. Rising Environmental Concern in 47-Nation Survey, http://pew global.org/reports/pdf/256.pdf; (12. 11. 2007), S. 4.

  12. 38 gegenüber 13 Prozent, http://www.transatlan tictrends.org/trends/doc/Toplines5302TT
    SGPGER MANY_v1.pdf, S. 3 und 56.

  13. Vgl. ebd., S. 52.

  14. Vgl. Jan Delhey/Kenneth Newton, Predicting Cross-National Levels of Social Trust: Global Pattern or Nordic Exceptionalism?, in: European Sociological Review, 21 (2005) 4, S. 311 - 327.

  15. Vgl. Pierangelo Isernia, Anti-Americanism and European public opinion during the Iraq war, in: Sergio Fabbrini (ed.), The United States Contested. American Unilateralism and European Discontent, London-New York 2006, S. 130 - 158.

  16. Vgl. auch Janice Bell, The Yin and Yang of U.S. Image: Using Focus Groups to Understand Anti-U.S. Attitudes in Italy, in: Qualitative Social Research, 5 (2004) 2.

  17. Vgl. P. Isernia (Anm. 15), S. 156 - 151.

  18. Vgl. James M. McCormick, The War on Terror and Contemporary U.S.-European Relations, in: Politics & Policy, 34 (2006) 2, S. 426-450.

  19. Seymour Martin Lipset, Exceptionalism: A Double-Edged Sword, New York 1996.

  20. Vgl. Wilhelm Haumann/Thomas Petersen, German Public Opinion on the Iraq Conflict: A Passing Crisis with the USA or a Lasting Departure?, in: International Journal of Public Opinion Research, 16 (2004) 3, S. 311 - 330.

  21. Zu den Vertretern dieser These zählen Jeremy Rifkin, Mark Leonard, Ulrich Beck, aber auch Jürgen Habermas. Vgl. Terence Casey, Of Power and Plenty? Europe, Soft Power, and Genteel Stagnation, in: Comparative European Politics, 4 (2006) 4, S. 399-422; Perry Anderson, Depicting Europe, in: London Review of Books vom 20. 9. 2007.

  22. Vgl. Jens Alber, Das europäische Sozialmodell und die USA, in: Leviathan, 34 (Juni 2006) 2, S. 208 - 241.

  23. Vgl. Transatlantic Trends 2004, S. 6f.: http://www. transatlantictrends.org/trends/doc/2004_
    german_key.pdf

  24. Vgl. Alex Danchev, How Strong are Shared Values in the Transatlantic Relationship?, in: British Journal of Politics and International Relations, 7 (2005) 3, S. 429 - 436.

  25. Egon Bahr, in: Welt am Sonntag vom 12. August 2007, S. 4.

  26. Hannah Arendt, Über die Revolution, München 20004, S. 277.

  27. Vgl. Jana Puglierin/Patrick Keller, Jenseits der Werte, Plädoyer für eine interessenorientierte transatlantische Partnerschaft, in: Politische Studien, 56 (2005) 401, S. 36 - 43; Lazaros Miliopoulos, Atlantische Zivilisation und transatlantisches Verhältnis. Politische Idee und Wirklichkeit, Wiesbaden 2007.

  28. Stephen Kalberg, Structured Misunderstanding: Differences in the American and German Political Cultures, in: Art and Thought/Fikrun Wa Fann, 77 (2003) 2, S. 48 - 55.

  29. Beispielsweise führt die PH Schwäbisch Gmünd regelmäßig mit ihrer Partnerhochschule in den Vereinigten Staaten, der Grand Valley State University in Michigan, gemeinsame studentische Online-Seminare durch.

Dr. phil. habil., geb. 1958; seit 2000 Professor für Soziologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, Oberbettringer Str. 200, 73525 Schwäbisch Gmünd.
E-Mail: E-Mail Link: stefan.immerfall@ph-gmuend.de

Dr. phil., geb. 1952; seit 2004 Professor für Soziologie an der Grand Valley State University, Campus Drive, 49401-9403 Allendale, Michigan/USA.
E-Mail: E-Mail Link: kurthenh@gvsu.edu