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Was wir aus der Schweinegrippe lernen können | Krisenjahr 2009 | bpb.de

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Was wir aus der Schweinegrippe lernen können

Alexander S. Kekulé

/ 16 Minuten zu lesen

Es ist nicht gelungen, Vertrauen in die Maßnahmen zur Bekämpfung der Neuen Grippe zu wecken. Viele hielten die Risiken der Impfung für gravierender als die der Krankheit.

Einleitung

Vielen Menschen auf dem Planeten wird das "Krisenjahr 2009" als "Jahr der Schweinegrippe" in Erinnerung bleiben. Offen ist allerdings noch, in welchem Kapitel des Geschichtsbuches die Viruserkrankung stehen soll: Wird sie tatsächlich bei den großen Seuchen der Menschheit eingereiht, wie es die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation bereits im Juni düster verkündete? Oder wird sie eher als Pseudo-Pandemie, als abschreckendes Lehrstück von epidemischer Hysterie und staatlicher Überreaktion in die Medizin- und Sozialgeschichte eingehen?



Es ist noch zu früh, um die langfristige Entwicklung der "Neuen Influenza", wie die Schweinegrippe in Deutschland offiziell heißt, zuverlässig abzusehen (international gilt die Bezeichnung "Influenzapandemie [H1N1] 2009"). Doch hat uns die neue Krankheit bereits jetzt zahlreiche Schwachstellen bei der Seuchenbekämpfung aufgezeigt. Darüber hinaus können wir von dem Virus einiges über den Umgang unserer Zivilisation mit globalen Risiken lernen.

Aus einem kleinen Dorf in Mexiko

Bevor wir uns den großen Fragen zuwenden, müssen wir uns in ein kleines Dorf in Mittelamerika begeben. In der Arbeitersiedlung La Gloria ("Freude"), 150 Kilometer östlich von Mexico City, waren Anfang 2009 immer wieder mysteriöse Fälle von Atemwegserkrankungen mit gleichzeitigem Durchfall aufgetreten. Als schließlich über die Hälfte der rund 3000 Einwohner erkrankt und zwei Kinder gestorben waren, gingen die Menschen von La Gloria am 5. April auf die Straße. Sie waren sich sicher: Die Krankheit kommt vom benachbarten Schweinemastbetrieb eines amerikanisch-mexikanischen Konzerns, dessen stinkende Abwässer das Trinkwasser verunreinigen. Einer der Demonstranten, ein kleiner Junge, trug ein selbstgemaltes Plakat mit einem durchgestrichenen Schwein vor sich her. Darüber stand in krakeligen Buchstaben: Peligro, das spanische Wort für Gefahr.

Die Behörden wiegelten zunächst ab und unternahmen nichts. Die Schweinemastbetriebe im Osten Mexikos gehören zu den größten der Welt, der gesamte amerikanische Kontinent wird von hier aus beliefert. Die Eigentümer sind mächtige Konzerne, die eine Gesundheitsgefahr durch die Abwässer bestreiten. Für die Bevölkerung war jedoch bereits damals klar, woher die merkwürdige Krankheit kam. Sie nannte sie La gripe porcina - Schweinegrippe. Am 11. Juni 2009, erklärte die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, die Schweinegrippe zur "ersten Influenza-Pandemie des 21. Jahrhunderts" - das Virus aus dem mexikanischen Dorf hatte sich in die ganze Welt ausgebreitet.

Vorbereitung auf den Tag X

Der neue Erreger kam für die WHO und die nationalen Gesundheitsbehörden nicht unerwartet. Etwa dreimal pro Jahrhundert wird die Menschheit von neuen Influenzaviren heimgesucht, die sich über mehrere Kontinente ("pandemisch") ausbreiten. Die letzten beiden Pandemien, die Asiatische Grippe von 1957 und die Hongkong-Grippe von 1968, hatten jeweils ein bis zwei Millionen Todesopfer gefordert, einige hundert Millionen waren erkrankt. Und dann gab es da noch das Mysterium der Spanischen Grippe von 1918, die alle anderen Pandemien in den Schatten stellte: Gegen Ende des Ersten Weltkriegs infizierte ein Influenzavirus rund 600 Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Erdbevölkerung. Rund 50 Millionen starben an der Spanischen Grippe, die Sterblichkeit (Letalität) war mindestens zehnmal so hoch wie bei den beiden späteren Pandemien und hundertmal so hoch wie bei der saisonalen Grippe. Ein neuer Virusausbruch nach Art der Spanischen Grippe, darin waren sich die Fachleute einig, könnte im 21. Jahrhundert über hundert Millionen Todesopfer fordern. Ob sich die Katastrophe von 1918 oder "nur" das Szenario von 1957 oder das von 1968 wiederholen würde, konnte niemand vorhersagen. Dass es eine nächste Pandemie geben würde, galt jedoch als sicher - die Frage war nicht ob, sondern wann sie kommt.

Bereits 1993 forderte deshalb eine internationale Konferenz in Berlin die Ausarbeitung nationaler Pandemiepläne; die WHO gab 1999 einen Musterplan für ihre Mitgliedstaaten heraus. Passiert ist jedoch lange Zeit nur wenig. Die Pandemieplanung war Thema in spezialisierten Arbeitsgruppen, die von der Politik kaum beachtet wurden. Das Robert-Koch-Institut legte 2005 zwar Teile eines nationalen Pandemieplanes vor. Dieser ließ jedoch wichtige Fragen offen und blieb in den Handlungsempfehlungen vage, weil Pandemieplanung eigentlich Ländersache ist. Die Bundesländer setzten den nationalen Rahmenplan nur schleppend um und hatten lange Zeit keine eigenen Pandemiepläne. Die von Fachleuten geforderte Bevorratung antiviraler Medikamente (Tamiflu®, Relenza®) und Impfstoffe galt als viel zu teuer.

Die Politik reagiert auf wissenschaftlich vorhergesagte Katastrophen in der Regel erst, wenn sie bereits spürbare Auswirkungen zeigen - oder wenn Dinge passieren, welche die Bürger für Vorboten der Katastrophe halten. Beim Klimawandel waren das die schweren Wirbelstürme in den USA, Überschwemmungen in Mitteleuropa und schneefreie Skihänge in den Alpen. Doch durch welche bösen Boten sollte sich eine globale Seuche ankündigen? Weissager und Auguren achten seit jeher auf das Verhalten der Vögel, wenn sie die Zukunft vorhersagen wollten. In Deutschland tauchten die Unglücksvögel im Februar 2006 mit weißem Gefieder auf: Höckerschwäne verendeten reihenweise an den Stränden der Urlaubsinsel Rügen. Das gefürchtete Vogelgrippevirus vom Typ "H5N1-Asia", das seit mindestens 1997 in Ostasien grassierte, hatte Deutschland erreicht. Wie es aus Asien nach Rügen kam, ist bis heute ungeklärt - die Theorien reichen von der Einschleppung durch Singschwäne über die nördliche Vogelroute bis zur illegalen Einfuhr infizierter Lebensmittel über den Balkan.

Deutschland begann, sich ernsthaft auf eine Influenzapandemie vorzubereiten. Die Bundesländer, die für die Seuchenbekämpfung im Rahmen der föderalen Aufgabenverteilung zuständig sind, erstellten Pandemiepläne und lagerten antivirale Medikamente ein. Im Herbst 2007 fand unter Leitung des Bundesinnenministeriums und des Bundesgesundheitsministeriums eine LÜKEX-Übung (Länderübergreifende Krisenmanagement-Exercise) für den Pandemiefall statt, an der sich sieben Bundesländer beteiligten.

Die Maschinerie rollt an

Als im April 2009 in Mexiko ein bis dahin unbekanntes Grippevirus ausbrach, wusste nahezu jeder Funktionsträger vom Bund bis zu den Kommunen, worum es ging. Für einen Zeitraum von nur acht Wochen sagte der nationale Pandemieplan 6,5 bis 21,8 Millionen Arztbesuche, 187.000 bis 624.000 Klinikeinweisungen und mindestens 51.500 Todesfälle voraus. Für Krankenhäuser, Apotheken und Pharmafirmen gab es Notfallpläne - man hatte sogar an Polizeischutz von Apotheken für den Fall gedacht, dass sich eine panische Bevölkerung antivirale Medikamente mit Gewalt beschaffen will. Die Bahn und regionale Verkehrsunternehmen erstellten Ersatzfahrpläne, um den Zusammenbruch des Personenverkehrs zu verhindern. Auch Energieversorger, Telekommunikationsunternehmen und andere Privatfirmen hatten Pläne für den Fall der Fälle in der Schublade.

Die ersten Nachrichten aus Mexiko klangen tatsächlich so, als würde man diese Gegenmaßnahmen brauchen. Alleine in Mexico City sollte es Tausende Erkrankte und einige hundert Tote innerhalb weniger Tage gegeben haben. Die Menschen waren in Panik und wagten sich nur mit Gesichtsmasken auf die Straße. Viele Geschäfte waren geschlossen, die Gottesdienste fielen aus. Es wurde überlegt, die Hauptstadt durch das Militär abriegeln zu lassen.

Die WHO hatte schon seit einigen Jahren Phase 3 der sechsstufigen Pandemie-Warnskala ausgegeben. Das bedeutet, dass ein neues, von Tieren stammendes Influenzavirus in Ausnahmefällen auch Menschen infiziert - Grund waren die seltenen menschlichen Infektionen durch das Vogelgrippevirus H5N1-Asia, die besonders in Südostasien aufgetreten waren. Angesichts des Ausbruchs eines neuen Influenzavirus, diesmal des Schweinegrippe-Erregers vom Typ H1N1, erhöhte die WHO am Abend des 27. April 2009 die Pandemie-Warnstufe von 3 auf 4. Bereits drei Tage später erklärte sie Stufe 5 - die letzte Warnstufe vor Phase 6, der eigentlichen Pandemie. Spätestens jetzt war klar, dass eine weltweite Pandemie durch das Schweinegrippe-Virus unmittelbar bevorstand.

In Deutschland traten die Krisenstäbe zusammen und versuchten, die vorher entwickelten Pläne abzuarbeiten. Doch bereits jetzt wurde klar, dass die streng an den WHO-Phasen orientierte Pandemieplanung von Bund und Ländern im Falle der Schweinegrippe nicht funktionierte. Der Grund war nicht etwa die Gefährlichkeit des neuen Virus, im Gegenteil: Für eine so langsame Ausbreitung eines Pandemievirus bei fast immer harmlosen Krankheitsverläufen waren die Pläne nicht vorgesehen.

Virus ist nicht gleich Virus

Wie konnte es geschehen, dass die Pandemieplaner ausgerechnet von der Harmlosigkeit des Schweinegrippe-Erregers überrumpelt wurden? Der Grund für diesen Widerspruch liegt in einer Besonderheit der Influenzaviren, die Ähnlichkeit mit der Domestizierung von Wildtieren zu Haustieren hat. Die natürlichen Wirte, bei denen Influenzaviren ursprünglich zu Hause sind, sind nach gegenwärtigem Kenntnisstand Wasservögel in Zentralasien. Hier verhalten sich die Viren wie harmlose Haustiere, ihre Wirte (insbesondere Enten- und Gänsearten) werden nicht krank und kaum geschädigt. Als Gegenleistung transportieren sie ihre Passagiere über große Strecken und helfen ihnen dabei, auf andere Tierarten überzuspringen. Im neuen Wirtstier kommt es dann zunächst zu schweren Erkrankungen, weil dessen Immunsystem das Virus noch nicht kennt und es deshalb nicht wirksam abwehren kann. Im Laufe einiger Jahre passen sich jedoch die Immunabwehr des neuen Wirtes und das Virus einander an, bis der einst aggressive Erreger nur noch harmlose Symptome hervorruft - das Virus hat sich in ein domestiziertes Haustier verwandelt.

Aus diesem Grund sind Influenzaviren besonders gefährlich, wenn sie direkt von Vögeln auf den Menschen überspringen. Weil sie sich noch nicht an ein Säugetier angepasst haben, ist das menschliche Immunsystem ihnen gegenüber mehr oder minder machtlos. Was in diesem Fall passiert, demonstriert die Vogelgrippe H5N1-Asia, wenn sie ausnahmsweise einen Menschen befällt: Von den (bis Ende November 2009) der WHO gemeldeten 444 menschlichen Infektionen endeten 262 tödlich, das entspricht einer Letalität von rund 60 Prozent - die Vogelgrippe ist beim Menschen beinahe so tödlich wie das Ebola-Fieber (Letalität etwa 70 Prozent).

Bis vor kurzem vermutete man, dass Influenzaviren der Vögel, von denen insbesondere in Zentralasien ständig neue Varianten entstehen, beim Menschen nicht unmittelbar zu einer Pandemie führen können. Falls ein Vogelvirus ausnahmsweise einen Menschen (durch Aufnahme von Blut oder Kot eines Vogels) infiziert, könne es sich trotzdem nicht in größerem Umfang von Mensch zu Mensch verbreiten, weil es an diesen neuen Wirt nicht angepasst ist. Zu dieser Theorie passte, dass die Auslöser der letzten beiden großen Pandemien von 1957 und 1968 (die Influenzavirustypen H2N2 und H3N2) genetische Mischungen aus Vogel- und Menschenviren waren. Diese Chimären waren offenbar in einem dem Menschen immunologisch ähnlichen Säugetier entstanden, in dem sich die beiden Virusarten vermischen konnten. Die neu entstandenen Mischviren kombinierten die stark pathogenen Eigenschaften eines Vogelvirus mit der Fähigkeit, effektiv von Mensch zu Mensch springen. Als "Mischgefäß" (mixing vessel) fungierten bei der Asiatischen und der Hongkong-Grippe höchstwahrscheinlich Hausschweine, die zugleich von einem Vogel (durch Aufnahme von Vogelkot) und einem Menschen (etwa einem hustenden Tierpfleger) angesteckt wurden. Durch die Anpassung an das Schwein, ein dem Menschen immunologisch sehr ähnliches Säugetier, verlieren Vogelviren ihre ursprüngliche Aggressivität. Dadurch kommt es nicht mehr so oft zu schweren Erkrankungen, und die Letalität liegt rund hundertmal niedriger als bei Infektionen durch das Vogelgrippevirus (Asiatische Grippe: 0,4 Prozent, Vogelgrippe H5N1: 60 Prozent).

Im Jahre 2005 machten amerikanische Wissenschaftler jedoch eine beängstigende Entdeckung. Aus der im ewigen Eis konservierten Leiche einer Inuit-Frau, die 1918 an der Spanischen Grippe gestorben war, stellten Virologen das berüchtigte Influenzavirus von damals wieder her. Wie sich herausstellte, war dieser schrecklichste Grippeerreger aller Zeiten, im Gegensatz zu den Pandemieerregern von 1957 und 1968, nicht aus einer Mischung aus Vogel- und Menschenviren hervorgegangen. Das Schreckensvirus entstand durch direkte Übertragung von einem Vogel auf den Menschen. Durch eine überraschend geringe Zahl genetischer Veränderungen (adaptive Mutationen) hatte damals ein Vogelgrippevirus die Fähigkeit erworben, mit großer Effizienz von Mensch zu Mensch zu springen.

Damit war im Frühjahr 2005 klar, dass es (mindestens) zwei Arten der Entstehung von Pandemieviren gibt: Wenn das Virus durch Mischung im Schwein entsteht, gibt es eine "normale" Pandemie wie 1957 und 1968. Wenn dagegen ein aggressives Vogelgrippevirus mutiert und direkt auf den Menschen überspringt, entsteht eine verheerende Pandemie wie die von 1918. Für das zweite, horrende Szenario gab es obendrein einen perfekten Kandidaten: das in Asien und Europa bei Vögeln weit verbreitete Vogelgrippevirus H5N1-Asia.

Tiger oder Kätzchen?

Als im April 2009 die ersten Nachrichten vom Ausbruch der Schweinegrippe aus Mexiko eintrafen, hatten die Seuchenexperten in aller Welt das Schreckensszenario der Spanischen Grippe vor Augen. Die Pandemiepläne der meisten Staaten waren nicht von einer Wiederholung der Katastrophe von 1918 ausgegangen, sondern basierten auf einem moderateren Erreger, der etwa so gefährlich wie der Auslöser der Asiatischen Grippe wäre. Dass ein neues Pandemievirus deutlich gefährlicher als die Asiatische Grippe sein könnte, war allen klar. Man machte dieses Szenario jedoch nicht zur Planungsgrundlage, weil sich daraus ein kaum finanzierbarer Aufwand für die Vorbereitung des Gesundheitssystems und der staatlichen Infrastruktur ergeben hätte. Also rechnete man auf Basis der Pandemie von 1957 für Infektionsraten von 15, 30 und 50 Prozent der Bevölkerung aus, wie viele Arztbesuche, Krankenhauseinweisungen und Tote zu erwarten seien. Die Möglichkeit, dass ein Pandemievirus auch viel harmloser als der Erreger von 1957 sein könnte, wurde in den Plänen nicht berücksichtigt.

So hatte man sich auf einen gefährlichen Tiger vorbereitet - doch aus dem Urwald kam nur ein Kätzchen. Bereits im April 2009 äußerten Wissenschaftler Zweifel an der Gefährlichkeit der Schweinegrippe. Meine Vermutung war damals, dass man bei den hohen Todeszahlen aus Mexiko auch Menschen mitgezählt hatte, die an "normalen" Lungenentzündungen gestorben waren, die in einem Schwellenland leider keine Seltenheit sind. Zudem werden gerade leichte Verläufe in einem Land mit eher schlechter medizinischer Versorgung kaum erfasst, sodass sich eine zu hohe Letalität (Anteil der Todesfälle an den Erkrankten) der Schweinegrippe errechnet.

Genetische Untersuchungen deuteten in die gleiche Richtung. Bereits Ende April 2009 war klar, dass das Schweinegrippevirus deutlich weniger gefährlich ist als die Pandemieviren von 1957 und 1968 und schon gar nicht mit dem Horrorvirus von 1918 verglichen werden kann. Es sprang nämlich weder direkt vom Vogel auf den Menschen über, noch entstand es durch Vermischung eines Vogel- und eines Menschenvirus im Schwein. Vielmehr ging das Schweinegrippevirus durch genetische Mischung aus zwei bis drei Schweine-Influenzaviren hervor, die bereits seit Jahrzehnten in Hausschweinen zirkuliert hatten. Durch diese lange Anpassung an ein dem Menschen immunologisch ähnliches Säugetier ist das Virus der Schweinegrippe weit weniger gefährlich als Influenzaviren, die erst kürzlich vom Vogel übergesprungen sind.

Darüber hinaus war das Virus der "Neuen Grippe" auch in anderer Hinsicht nicht neu für das menschliche Immunsystem. Die für die Immunabwehr wichtigen Proteine auf der Virusoberfläche "H" (Hämagglutinin) und "N" (Neuraminidase) sind nämlich vom Typ H1N1 und damit einem saisonalen Influenzavirus sehr ähnlich, das ebenfalls zum Typ H1N1 gehört. Im Gegensatz dazu waren die letzten Influenzapandemien immer durch das Auftreten eines neuen H-Typs gekennzeichnet (1957: H2N2; 1968: H3N2). Einige Virologen stuften deshalb bereits im Mai 2009 die Schweinegrippe als "Pseudopandemie" ein.

Wettlauf um den (richtigen) Impfstoff

In dieser Situation war es schwierig, Entscheidungen in Bezug auf die Herstellung eines Pandemie-Impfstoffes zu treffen. Mit dem Übergreifen der Epidemie auf den Süden der USA wurde anhand der dort erhobenen, verlässlichen Zahlen deutlich, dass die Schweinegrippe tatsächlich meist harmlos verläuft und selten zu Todesfällen führt. Auch gab es spätestens seit Mai Hinweise auf eine gewisse Grundimmunität bei Teilen der Bevölkerung. Insbesondere Menschen über 60 Jahren schienen durch frühere Influenzainfektionen oder -impfungen teilweise geschützt zu sein. Sollte man also überhaupt für die ganze Welt einen Impfstoff gegen Schweinegrippe herstellen? Und falls ja, wie sollte der Impfstoff beschaffen sein?

Die Pandemiepläne der WHO und der meisten Staaten sahen vor, spätestens in Phase 6 mit der Impfstoffproduktion zu beginnen. Aufgrund der genannten Unsicherheiten zögerte die WHO jedoch lange, den Startschuss für die Umstellung der globalen Produktion auf den Pandemieimpfstoff, den so genannten switch, zu geben. Da die Schweinegrippe nur relativ wenige Opfer forderte, sollte zuerst die Produktion der regulären Impfstoffe gegen die saisonale Influenza der Nordhalbkugel abgeschlossen werden - tatsächlich sterben an saisonaler Grippe jährlich weit mehr Menschen als bisher der Schweinegrippe zum Opfer fielen. Damit stand bereits Anfang Mai 2009 fest, dass der Impfstoff gegen die Schweinegrippe knapp wird, wenn alle Staaten auf die Entscheidung der WHO zum switch der Impfstoffproduktion warten und erst dann bestellen. Die USA gingen in dieser Lage einen pragmatischen Weg und orderten bereits Anfang Mai 2009 Impfstoff (Vakzine) für die gesamte Bevölkerung, und zwar unabhängig vom switch der WHO. Die Vakzine wird dort nach dem seit Jahrzehnten erprobten Verfahren hergestellt, das auch für die saisonalen Influenza-Impfstoffe eingesetzt wird, und enthält keine Wirkverstärker (Adjuvanzien). Auch in Deutschland gab es Fachleute, die ein Vorgehen wie in den USA empfahlen. Die Schutzkommission beim Bundesminister des Innern, welche die Bundesregierung in Fragen des Bevölkerungsschutzes berät, empfahl bereits am 22. Mai 2009, umgehend Impfstoff für die gesamte Bevölkerung zu bestellen und nicht auf eine Entscheidung der WHO zu warten.

In Europa waren jedoch die Gesundheitsbehörden mehrheitlich davon überzeugt, dass die amerikanische Strategie nicht funktionieren würde, weil man gegen ein Pandemievirus nur mit einem adjuvanzierten Impfstoff ausreichenden Schutz erzielen könnte. Das Gegenargument, wonach dem Schweinegrippevirus viele Eigenschaften "echter" Pandemieviren fehlen und deshalb ein Immunschutz auch durch einen nicht wirkungsverstärkten, nach saisonalem Muster hergestellten Impfstoff zu erwarten sei, ließen die Behörden nicht gelten.

So rollte in Europa ein Plan an, den man eigentlich für den Fall einer schweren Pandemie mit einem gefährlichen, mehr oder minder direkt von Vogelgrippeviren abstammenden Erreger entwickelt hatte. Dafür hatte die Europäische Arzneimittelbehörde (EMEA) ein Eilverfahren entwickelt, das die Zulassung eines pandemischen Impfstoffes in nur drei Tagen ermöglichen sollte. Die Hersteller hatten Studien zur Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit mit einem Modellimpfstoff (mock-up) gemacht, der gegen das Vogelgrippevirus H5N1-Asia gerichtet war. Weil das menschliche Immunsystem gegen vollkommen neue, von Vögeln stammende Viren nur schlecht anspringt, enthielten die meisten Modellimpfstoffe einen Wirkverstärker (Adjuvans). Im Falle einer Pandemie, so das vom Eilverfahren verfolgte Ziel, sollte die H5N1-Komponente des Modellimpfstoffes gegen das aktuelle Pandemievirus ausgetauscht werden. Weil die Sicherheitsdaten aus den Studien mit dem mock-up übernommen werden, entfällt die zeitaufwendige Untersuchung der Nebenwirkungen des eigentlichen Impfstoffs.

Informationschaos

Am 11. Juni 2009 rief die WHO Phase 6 der Pandemie aus, und kurz darauf forderte sie zur Produktion des Pandemieimpfstoffes auf. Statt besonders früh zu bestellen, gab Deutschland seine Order als einer der letzten reichen Staaten ab: Erst im September, als die erste Welle der Schweinegrippe schon zu verzeichnen war, einigten sich die Bundesländer auf eine gemeinsame Impfstoffbestellung. Zu diesem Zeitpunkt lagen zwar bereits Daten aus den USA vor, wonach man auf den Wirkverstärker verzichten und eine normale, nach saisonalem Verfahren hergestellte Vakzine gegen Schweinegrippe einsetzen kann. Aber für die adjuvanzierten, neu zugelassenen Impfstoffe hatte Deutschland seit Jahren eine Option vereinbart; für die Bestellung einer konventionellen Vakzine für alle Bürger war es zu spät.

Zugleich änderten die Bundesländer unversehens die Strategie der Pandemiebekämpfung. Statt wie im Pandemieplan vorgesehen Impfstoff für alle 82 Millionen Einwohner zu besorgen, wollten sie nur für 25 Millionen Menschen Serum einkaufen. Das ist die Menge, die für Schlüsselpersonal (Gesundheitswesen, Polizei, Feuerwehr usw.) und Personen mit besonderem gesundheitlichem Risiko (Schwangere und chronisch Kranke) benötigt wird. Das Ziel, die Ausbreitung des Virus durch Impfung eines möglichst großen Teils der Bevölkerung einzudämmen, wurde damit klammheimlich aufgegeben - sonst hätte man insbesondere auch Kita- und Schulkinder impfen müssen. Für diese Gruppe reichte die bestellte Menge aber nicht.

Spätestens jetzt wäre es an der Zeit gewesen, die Bevölkerung offen über die Strategie zu informieren und zu erklären, dass die bestellte Vakzine mehr Nebenwirkungen hat als die übliche Influenzaimpfung und an Schwangeren und Kindern noch nicht erprobt wurde. Doch von den Behörden hörte man kaum mehr als stereotype Formeln wie "der Impfstoff ist absolut sicher" und "häufiges Händewaschen hilft". Zusätzlich erklärten hochrangige Fachleute, es sollten sich möglichst viele Menschen impfen lassen, damit die Virusausbreitung gehemmt und die Entstehung einer "gefährlicheren Mutante" verhindert würde - dabei war Eingeweihten längst klar, dass die Eindämmung der Virusausbreitung nicht mehr die Strategie Deutschlands ist.

So kam es, dass selbst renommierte Ärzte und ganze Fachgesellschaften sich gegen die Impfung aussprachen. In diesem Klima der Verunsicherung schlug die Stunde der "Impfkritiker", die schon immer alle Schutzimpfungen als Teufelszeug ansehen und für ihre Kinder Masernpartys veranstalten, um sie "natürlich" zu immunisieren. Schließlich zirkulierten Kettenbriefe im Internet, die den Wirkverstärkern horrende Nebenwirkungen andichteten, von Gelenkrheuma über Nervenlähmung bis zum "Golfkriegssyndrom" der US-Kriegsveteranen.

Vom Umgang mit Risiken

Im Ergebnis hat sich ein Großteil der Schwangeren und Menschen mit chronischen Grunderkrankungen, die davon besonders profitiert hätten, gegen die Impfung entschieden. Andererseits ließen sich viele impfen, für die es gar nicht angeraten war. Die Ausbreitung des Virus wurde, jedenfalls bis zum Nachlassen der zweiten Welle vor Weihnachten 2009, durch die Impfaktion nicht gebremst. Ob es im bevorstehenden Winter in Deutschland eine dritte Welle der Schweinegrippe geben wird, kann nicht vorhergesagt werden. Dass die Impfaktion auch diese gegebenenfalls nicht aufhalten wird, muss leider als sehr wahrscheinlich angesehen werden.

Offensichtlich ist es nicht gelungen, bei der Bevölkerung Vertrauen in die Maßnahmen der Behörden zu wecken. Jedenfalls hielten viele die Risiken der Impfung für gravierender als die Risiken der Schweinegrippe. So wurde die Gefahr zu Anfang der Pandemie lange hochgespielt; die Steigerung der WHO-Phasen wirkte wie ein Countdown für die globale Katastrophe. Als sich dann herausstellte, wie harmlos die Schweinegrippe zumeist verläuft, beschworen die Gesundheitsbehörden die Gefahr künftiger Mutationen herauf; sogar eine "tödliche Hochzeit" mit dem gefürchteten Vogelgrippevirus H5N1-Asia sollte möglich sein. Zugleich wurden die (wenn auch vorübergehenden) Nebenwirkungen des Impfstoffes lange verschwiegen. Dass er ein Adjuvans enthält und ganz anders funktioniert als die bekannten saisonalen Vakzinen, erfuhr die Öffentlichkeit erst durch Stellungnahmen unabhängiger Fachleute. Aus Sicht des Laien war der neuartige Impfstoff damit ein Unbekannter, dem man nicht trauen kann. Die Neue Influenza dagegen konnte spätestens im November 2009 jeder in seinem persönlichen Umfeld erleben; sie unterscheidet sich kaum von dem alten Bekannten, der uns alle Jahre wieder als gemeine Grippe plagt.

Es ist unverkennbar, dass man die Reaktion der Bevölkerung falsch eingeschätzt hat. Die Menschen können mit komplizierten Wahrheiten besser umgehen, als dies mancher Politiker vermutet. Dagegen verursachen Halbwahrheiten eher Misstrauen und Angst - und führen bisweilen zur Hysterie, die durch die zurückhaltende Informationspolitik gerade verhindert werden sollte. Wenn es um gesundheitliche Gefahren geht, ist es besser, die Karten auf den Tisch zu legen, statt in falsch verstandener Fürsorge für die Bevölkerung zu entscheiden, auf welche Risiken sie sich einlassen muss. Bei der ersten Influenzapandemie des 21. Jahrhunderts, die offiziell Neue Grippe heißen soll, hat die Bevölkerung längst entschieden, was sie von behördlicher Bevormundung hält: Die Menschen nennen die Krankheit weltweit und in nahezu allen Sprachen "Schweinegrippe" - so wie sie von den Einwohnern eines kleinen mexikanischen Dorfes getauft wurde.

Prof. Dr. med., Dr. rer. nat., geb. 1958; Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Direktor des Instituts für Biologische Sicherheitsforschung Halle/Saale; Mitglied der Schutzkommission beim Bundesminister des Innern.
E-Mail: E-Mail Link: mikrobiologie@medizin.uni-halle.de