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Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen - Essay | Bundestagswahl 2009 | bpb.de

Bundestagswahl 2009 Editorial Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen - Essay Ende der Volksparteien - Essay Regierungswechsel ohne Wechselstimmung Koalitionsaussagen und Koalitionsbildung Angela Merkel als Regierungschefin und als Kanzlerkandidatin Onlinewahlkampf 2009

Mehr Optionen, gesunkene Erwartungen - Essay

Tissy Bruns

/ 8 Minuten zu lesen

Die Bundestagswahl zeigt eine Entkoppelung der politischen Sphäre von der Gesellschaft an. Fünf Parteien, mehr Optionen – aber gesunkene Erwartungen und schwindende Partizipation, lautet der gemeinsame Nenner.

Einleitung

Ein Jahr, nachdem die Manager der Lehman Investmentbank ihre verwegenen Ambitionen in Pappkartons verpacken und eigenhändig aus dem New Yorker Gebäude tragen mussten, fand die Bundestagswahl 2009 statt. Die erstaunliche Kluft zwischen der Bedeutung dieses Weltereignisses und seiner geringen Rolle im deutschen Wahlkampf beschäftigte die öffentlichen Beobachter in den letzten Wochen vor der Wahl kaum mehr als die Finanzkrise selbst. Der allgemeine Stoßseufzer lautete: Was für ein langweiliger Wahlkampf! Angela Merkel geht auf Samtpfoten zu einem Sieg, den sie kaum verfehlen kann.



Die Ergebnisse dieser Bundestagswahl sind jedoch alles andere als langweilig. So viel Noch-Nicht-Dagewesenes auf einmal hatten wir selten. Wenn man die erste bundes- (1949) und die erste gesamtdeutsche Wahl (1990) wegen ihrer historischen Stellung außer Konkurrenz lässt, dann stellt 2009 eine Rekordliste von besonderen oder neuen Entwicklungen auf. Da ist, natürlich, zunächst der Regierungswechsel: Wie 1969, am Ende der ersten großen Koalition, bleibt auch diesmal eine vormalige Regierungspartei am Bord. Aber während Willy Brandt und Walter Scheel die sozialliberale Koalition erst in der Wahlnacht besiegelten, zur Überraschung des vormaligen Bundeskanzlers Kurt Georg Kiesinger und Herbert Wehners, ist die schwarzgelbe Koalition von FDP und Union offensiv angestrebt worden. Und während die sozialliberale Koalition sofort als Weichenstellung, als neue politische Konstellation wahrgenommen wurde, ist die schwarzgelbe Koalition von 2009 eine einmalige Kombination von "Weiter so" und Aufbruchswünschen. Die klare Mehrheit für die neue Bundesregierung war nur möglich durch einen arbeitsteiligen Wahlkampf von Angela Merkel und Guido Westerwelle, von dem die FDP profitiert hat, während die Union Federn lassen musste.

Die schwarzgelbe Mehrheit beruht auf gegenteiligen Erwartungen ihrer Wähler in wichtigen sozialen Fragen. Auch die Koalitionsvereinbarung der alt-neuen Wunschpartner gibt noch keinen Aufschluss über die Anteile von Kontinuität und Neubeginn. Es könnte sein, dass in einem Jahr die reale Entwicklung der Krisenfolgen von den Steuersenkungsträumen der FDP nicht viel übrig gelassen haben wird. Aber auch das Gegenteil ist möglich: dass nämlich CDU und CSU gegen alle Wahlkampf-Versprechungen den Versuch einer Gesundheitsreform mit einkommensunabhängigen Prämien mitmachen. Das Solidarversprechen der Kanzlerin müsste dann über eine gewaltige Steuerumverteilung eingelöst werden, die wiederum das FDP-Versprechen eines einfacheren und niedrigen Steuersystems auf eine harte Probe stellen würde. Dieser Koalitionsvertrag ist, mit anderen Worten, überaus undeutlich.

Eine Zäsur ist zweitens das Fünfparteiensystem, wie es sich im 17. Deutschen Bundestag zeigt. Neu sind dabei nicht die fünf Fraktionen; es ist der Wahrnehmung einer westdeutsch geprägten Öffentlichkeit lange entgangen, dass die PDS seit 1990 (mit der Unterbrechung von 2002 bis 2005, als sie nur zwei direkt gewählte Abgeordnete hatte) im Bundestag vertreten ist. Neu ist die Konstellation: deutlich geschwächte Volksparteien, um die sich nicht mehr zwei oder drei "kleine", sondern drei mittlere Parteien gruppieren, die zusammen mehr Wähler und Abgeordnete aufbringen als je die beiden "Großen".

Drittens verdient der Niedergang der SPD auf einen in der Geschichte der Bundesrepublik historischen Tiefstand eine eigene Betrachtung. Am deutlichsten spiegeln ihre 23 Prozent die der neuen Parteienlandschaft zugrunde liegenden Verschiebungen in der Gesellschaft selbst wider. Das Ergebnis der SPD ist nicht allein mit Wahlkampf- oder Führungsschwächen zu erklären, nicht mit der großen Koalition, nicht einmal mit den Enttäuschungen, die Gerhard Schröders Reformagenda vor allem in der Anhängerschaft seiner Partei ausgelöst hat. Nach 1989 konnte die SPD ihre Idee einer sozialen Demokratie nicht mehr auf die Höhe der Zeit bringen, nicht anders übrigens als ihre Schwesterparteien in Skandinavien, Italien, Frankreich oder Großbritannien. Eine politische Strömung, die einst das europäische Sozialstaatsmodell geprägt hat, kämpft heute gegen ihren Untergang.

Schließlich gehört zum Bild dieser Bundestagswahl eine Rekordzahl: Fast 30 Prozent der Wahlberechtigten sind nicht an die Urnen gegangen. Verlierer sind vor allem die Volksparteien: 1,1 Millionen Stimmen hat die CDU, 2,2 Millionen die SPD an die Nichtwähler abgegeben. Dass die niedrige Wahlbeteiligung wiederum fast gar nicht das übliche öffentliche Echo gefunden hat ("Das muss uns als Demokraten beunruhigen"), macht sie erst recht beunruhigend. Denn nach Untersuchungen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und der Max-Planck-Gesellschaft hat die Wahlenthaltung ein soziales Gesicht. Es sind überwiegend die ohnehin abgehängten Bevölkerungsgruppen, die mangels Erwartungen an die Parteien nicht mehr wählen gehen und sich damit von der politischen Repräsentanz abkoppeln - mit der absehbaren Folge, dass das öffentliche Interesse und das Interesse der Politik am Schicksal von Menschen in schwierigen Verhältnissen weiter abnimmt.

Lässt sich ein Nenner für dieses Nebeneinander von ungewöhnlichen Ergebnissen finden? Unübersehbar ist: Der Umbau des Parteiengefüges zeigt sich im Wahlergebnis von 2009 auf qualitativ neuem Stand. Sein wesentliches Merkmal ist das Ende des deutschen Modells "Volkspartei". Das ist nicht zu verwechseln mit dem Ende der Volksparteien selbst. Bei der SPD könnte man zwar zu diesem Befund kommen. Doch CDU, CSU und in den ostdeutschen Ländern Die Linke verfügen immer noch über das Potential von Parteien, die schichten- und milieuübergreifend verankert sind und Wahlergebnisse von deutlich über 30 Prozent erzielen können. Aber der politische Magnet, um dessen Pole sich andere politische Parteien, gesellschaftliche Verbände, Wirtschaft, Gewerkschaften und nicht zuletzt die Stammtische (kurz: das Volk) wie Eisenspäne ausrichten, dieser Magnet sind die Volksparteien nicht mehr. Interessanter als der Wettbewerb zwischen Union und SPD waren in diesem Wahlkampf zum Beispiel die Fragen, wie viele Wähler die FDP der Union abspenstig machen kann oder wie sehr Die Linke die SPD schwächen würde.

Die Volatilität der Wähler, die Segmentierung vormaliger Großgruppen, die buntere Parteienlandschaft und die daraus folgenden Forderungen nach neuer Beweglichkeit, koalitionspolitischer Offenheit und mehr Pragmatismus der Parteien, das alles ist unter Politikern, Journalisten, Demoskopen, Wissenschaftlern längst zum Allgemeingut geworden. Die Debatte um die neuen Farbenlehren wird mit einem Eifer in der öffentlichen Arena ausgetragen, der in auffälligem Kontrast zur gemeinsamen Unfähigkeit dieser Akteure steht, zielführende Kontroversen über wichtige Probleme wie Bildung, Kinderarmut oder den Afghanistan-Einsatz zu führen.

Die neue parteipolitische Konkurrenz belebt das Geschäft, vorerst aber eher das um die erfolgreichsten Strategien auf dem Wählermarkt. Die seltsame Kluft zwischen einer epochalen Finanzkrise und einem spannungslosen Wahlkampf konnte entstehen, weil eine andere Diskrepanz sich lange vorher aufgetan hat: die zwischen den Bürgern und der Politik. Die Krise hat unsere Demokratie gewissermaßen an einem schwachen Punkt getroffen. Früher als die politischen und öffentlichen Eliten hatten viele Menschen das unbehagliche Gefühl, dass der Politik etwas Entscheidendes entgleitet. Während in Talkshows die Chancen der Globalisierung beschworen und die kleinmütige Larmoyanz der Deutschen beklagt wurde, hatten praktische Erfahrungen die Bürger schon gelehrt, dass die neue Arbeitskonkurrenz oder die Standortmobilität der Wirtschaft diese Chancen sehr ungleich verteilt. Der Eindruck war: Eine öffentliche Kaste - Politiker, Wirtschaftsvertreter, Journalisten, Wissenschaftler, allesamt in besten Verhältnissen und auf der sicheren Seite des Lebens - reklamiert eine Veränderungsbereitschaft, die von ihr selbst viel weniger verlangt als von den "normalen" Leuten. Die Zuschauer wussten, welchen Risiken sie ausgesetzt werden, während die Wirtschaft, wie es schien, machen konnte, was sie wollte.

Die Politik, die parteiübergreifend auf diese Entwicklung den Zugriff zusehends verlor oder aufgab, hat in dieser Zeit ihre Mittel und Fähigkeiten einer politischen Kommunikation verfeinert, die auf Wahlen und Machtfragen zielt. Ebenso inhaltsleere wie ausgeklügelte Kampagnen nehmen den Wähler als Objekt ins Visier. Die Bürger bemerken die Absicht - und wenden sich ab. Die Effekte dieser Politikverdrossenheit haben sich 2009 keineswegs nur an der steigenden Wahlabstinenz gezeigt. Auch viele Wahlgänger trauen den politischen Botschaften immer weniger. Die Steuerversprechen der FDP sind natürlich attraktiv, geglaubt werden sie nicht. Nicht wegen, trotz der Wahlgeschenke wird das Wahlkreuz gemacht. Der natürliche Argwohn der Bürger ("Politik ist ein schmutziges Geschäft") hat sich zur latenten Verachtung des Politischen gesteigert.

Große Wählergruppen, wie die katholische oder die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft, finden in den Volksparteien keine Seismographen mehr für ihre Sorgen, Hoffnungen und widerstreitenden Wünsche. Mit der Bindekraft von Union und SPD geht auch der Raum verloren, in dem auseinandergehende Interessen beispielhaft ausgetragen werden können, wo erprobt werden kann, wie sich Konfliktlagen mit Blick auf das Gemeinwohl "vergesellschaften", also zu mehrheits- oder konsensfähigen Lösungen werden können. Der Wahlkampf der CDU war dafür symptomatisch: Sie hat ihr Bestes gegeben, nämlich die Bundeskanzlerin, weil sie Besseres nicht hatte. Es war ein Wahlkampf der forcierten Politikvermeidung.

Union und SPD sind in unterschiedlicher Dramatik ans Ende ihrer Fähigkeiten gelangt, zeitgemäße Antworten auf die Anpassungs- und Modernisierungserfordernisse der Gesellschaft zu geben. Man muss die Geschichte der Bundesrepublik nicht sehr vereinfachen, wenn man sie so liest: Es war entweder die Union oder die SPD, die ein mehrheitsfähiges politisches Bündnis schmieden konnte, das Veränderung und Sicherheit garantiert hat. 1998, als Gerhard Schröder nicht alles anders, aber vieles besser machen wollte, war eine weichenstellende Qualität der rotgrünen Koalition zwar nicht mehr zu erkennen. Aber die kulturelle Differenz zum Lager der Union sicherte auch 2002 noch den knappen, entscheidenden Vorsprung, den Schröder am Irak-Krieg vollends ausreizen konnte. Als Rotgrün sich den Zwängen schließlich stellen musste, denen Helmut Kohl zu lange ausgewichen war, hat die SPD einen hohen Preis zahlen müssen. Der Versuch, den Sozialstaat gegen den Druck der globalisierten Wirtschaft zu stabilisieren, fiel zusammen mit dem durch die Finanzwirtschaft forcierten Erfolg der Wirtschaftseliten, ihr Deregulierungsparadigma politisch durchzusetzen. Eine bisher unbekannte soziale Spreizung, Deklassierungs- und Abstiegsängste sowie prekäre Beschäftigungsverhältnisse wurden diesen Reformen angelastet. "Hartz IV" wurde zum Symbol für die neue Ungleichheit und zum Debakel für die SPD. Aber auch die Union musste im Wahlkampf 2005 lernen, dass ein energisch vorgetragener Reformkurs Wähler kostet.

In der großen Koalition haben die beiden Großen vier Jahre Zeit gehabt, diese Wunden zu bearbeiten. Die Union hat sie begrenzt genutzt, die SPD konnte es nicht. Bei den Themen Familie, Frauen oder Migration hat die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende die Modernitätsdefizite der Union systematisch ausgeräumt, was gleichbedeutend damit war, die verbliebenen Vorteile der SPD restlos aufzusaugen. Der forsche Reformton von 2005 wurde nicht nur augenblicklich zu den Akten gelegt; Merkel hat darüber hinaus genau darauf geachtet, der SPD nirgendwo Raum zu lassen, wo es um soziale Fragen ging. Im Wahlkampf schließlich hat Merkel eine Kontinuität versprochen, die als "Sozialdemokratisierung" wahrgenommen wurde: Wo immer die SPD hin wollte, die Kanzlerin war schon da. Wie wenig dagegen die SPD in dieser Konstellation Tritt fassen konnte, zeigte sich vollends nach der Finanzkrise. Sie war, jenseits des Krisenmanagements, nicht in der Lage, die "sozialdemokratischen" Fragen aufzugreifen. Doch die offenkundige Identitätskrise der SPD kann den Blick dafür nicht verstellen, dass auch die christlichen Volksparteien die Herausforderungen der globalisierten Marktwirtschaft politisch keineswegs ausfüllen können. Merkels vermeintliche "Sozialdemokratisierung" ist ein unausgesprochenes Back to the Roots, die Rückkehr zur christlich-sozialen Ader der Union, die für CDU und CSU immer ebenso bedeutend waren wie ihre konservativen und marktliberalen Quellen.

Die Bundestagswahl 2009 zeigt eine allgemeine, nicht nur auf die Volksparteien bezogene Entkoppelung der politischen Sphäre von der Gesellschaft an. Fünf Parteien, mehr Optionen - aber gesunkene Erwartungen und schwindende Partizipation der Bürger, das ist der gemeinsame Nenner ihrer Besonderheiten.

Geb. 1951; Chefkorrespondentin und Leitende Redakteurin des "Tagesspiegel", 10876 Berlin.
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