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Gefühlte (Un)Gerechtigkeit | Soziale Gerechtigkeit | bpb.de

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Gefühlte (Un)Gerechtigkeit

Wolfgang Glatzer

/ 13 Minuten zu lesen

Die gefühlte Wirklichkeit stellt eine eigenständige Dimension der Realität dar. Von gefühlter Ungerechtigkeit spricht man, wenn die Menschen ihre persönlichen Lebensverhältnisse als ungerecht betrachten.

Einleitung

Gefühlte Ungerechtigkeit ist historisch gesehen kein neues gesellschaftliches Problem, es zieht aber zunehmend Aufmerksamkeit auf sich. Immer wieder rückt in den Blickpunkt der öffentlichen Beachtung, dass zwischen den von der breiten Bevölkerung gefühlten Lebensverhältnissen und dem, was Medien, Wissenschaftler, Manager und Politiker als Realität definieren, teilweise große Unterschiede bestehen. Ein markantes Beispiel ist die Gegenüberstellung der Einstellungen von Parlamentariern mit denen der Bürgerinnen und Bürger. Während die Parlamentarier die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland überwiegend als gerecht ansehen, werden diese von der Bevölkerung überwiegend als ungerecht betrachtet.



Ist durch solche fundamental verschiedene Sichtweisen auf die gesellschaftliche Realität die normative Homogenität der Gesellschaft gefährdet? Die Hypothese der meisten Sozialwissenschaftler ist, dass eine Gesellschaft ihre Integrationskraft nur aufrechterhalten kann, wenn ein großer Anteil der Menschen glaubt, dass es gerecht zugeht.

Die gefühlte Wirklichkeit der Bevölkerung bildet eine eigenständige Dimension der Realität. Man findet sie als "gefühlte Inflation", "gefühlte Temperatur", "gefühlten sozialen Status", "gefühlte Ungerechtigkeit" und in weiteren Dimensionen. Es ist ziemlich belanglos, ob ihr die "offizielle" Realität in irgendeiner Form entspricht. Vielmehr hat sie ihre eigenen Strukturen, ihre eigene Dynamik und ihre eigenen sozialen Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung.

Gerechtigkeitskonzepte und gefühlte Ungerechtigkeit

Gerechtigkeit ist allgemein gesehen ein moralisch hochstehendes, anspruchsvolles Wertekonzept, ein hochwertiger Beurteilungsmaßstab, dem es allerdings meist an Prägnanz und Konsistenz fehlt. Gerechtigkeit stellt oft die letzte Begründung dar, auf die man sich berufen kann, ohne unbedingt weitere Argumente liefern zu müssen. In den Augen der Bevölkerung gehört sie zwar zu den hohen Werten, aber in unserer Kultur nicht zu denen, die bedingungslos zu verteidigen sind. Beispielsweise rechnen nur wenige Bundesbürger (etwa 1 Prozent) Gerechtigkeit zu den Zielen, für die es sich lohnen würde, das eigene Leben einzusetzen. Sie wird zwar von vielen gewünscht und gefordert, aber es handelt sich auch um eine Wertvorstellung, die schwer zu definieren ist. Nur wenige haben ein elaboriertes Gerechtigkeitskonzept. Die Vorstellungen der Bevölkerung über Gerechtigkeit sind uneinheitlich und es gibt einen allgemeinen Meinungskampf um das angemessene Konzept und die vorherrschenden Gerechtigkeitsempfindungen.

Vor allem in der Philosophie gibt es herausragende Bemühungen, Gerechtigkeit verbindlich zu definieren. Betrachtet man anerkannte philosophische Gerechtigkeitskonzepte - beispielsweise das libertäre von Friedrich August von Hayek, das sozialliberale von John Rawls, das kommunitaristische von Michael Walzer oder das aktivitätsorientierte von Amartya Sen -, dann ist Gerechtigkeit stark durch Rationalität gekennzeichnet. Nicht zuletzt wird die Bedeutung von " Chancengleichheit" oder "Verwirklichungschancen" in den Vordergrund gestellt: Nicht soziale Gleichheit ist das gesellschaftliche Anliegen in der Moderne, sondern als sozial gerecht wird angesehen, wenn die Menschen gleiche Startchancen haben und ihr Potenzial ausschöpfen können.

Eine Vielfalt von Gerechtigkeitszielen bildet die normative Grundlage des deutschen Sozialstaats. Beim Versuch die Gerechtigkeitsdebatte zu strukturieren, wird ein "magisches Viereck" der Gerechtigkeit aufgezeigt, das die Bezugspunkte Chancen-, Bedarfs-, Leistungs- und Generationengerechtigkeit enthält. Von anderen Experten werden ebenfalls vier Paradigmen der sozialen Gerechtigkeit genannt: Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit einerseits, produktivistische Gerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit andererseits. Diese Bezugspunkte stehen in wechselseitiger Abhängigkeit; teils verhalten sie sich gegensätzlich, wie etwa Bedarfs- und Leistungsgerechtigkeit, teils unterstützen sie sich, wie zum Beispiel Bedarfs- und Generationengerechtigkeit.

Die Ausarbeitung dieser Gerechtigkeitskonzeptionen ist eine herausragende philosophische Leistung, die bis tief in die Wissenschaften und politischen Parteien hinein zu Übernahmen geführt hat. Aber diese akademischen Gerechtigkeitskonzepte sind den meisten Menschen allenfalls bruchstückhaft bekannt. Demgegenüber steht, dass es überall irgendeine Form von Gerechtigkeitsvorstellung gibt und Gerechtigkeitsgefühle, -empfindungen und -urteile bestehen. Auch wenn eine Person keine Gerechtigkeitsgefühle ausgebildet hat, entwickeln sich zumindest Gefühle der Ungerechtigkeit. Während unterschiedliche Gerechtigkeitseinstellungen die Bevölkerung trennen, wirken übereinstimmende Einstellungen verbindend.

Persönliche Verteilungsgerechtigkeit

Soziale (Un)Gerechtigkeit kann prinzipiell aus zwei Perspektiven beurteilt werden: Die eine Frage ist, ob sich ein Individuum von Ungerechtigkeit betroffen fühlt. Die andere ist, ob es die Wohlfahrtsverteilung insgesamt als (un)gerecht wahrnimmt. Im Regelfall kommt es zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, die klar auseinandergehalten werden sollten. In der Umfrageforschung liegen für beide Problemstellungen Indikatoren vor, die zusammengenommen Umrisse der Einstellungen zur Gerechtigkeit vermitteln. Das Konzept, das eindeutig auf die persönlich empfundene Gerechtigkeit zugeschnitten ist, wird "persönliche Verteilungsgerechtigkeit" genannt. Diese bezieht sich auf die in vielen Umfragen verwendete Frage: "Im Vergleich dazu, wie andere hier in Deutschland leben: Glauben Sie, dass Sie Ihren gerechten Anteil erhalten, mehr als ihren gerechten Anteil, etwas weniger oder viel weniger?"

Von einer gefühlten Ungerechtigkeit wird gesprochen, wenn jemand "etwas weniger" oder "viel weniger" antwortet. Der Anteil derjenigen, die sich ungerecht behandelt fühlen, ist in der "alten Bundesrepublik" seit 1980 leicht gestiegen. Im ökonomischen Krisenjahr 2008 hat der Anteil gefühlter Ungerechtigkeit im Westen erstmals die 40 Prozent überschritten. In Ostdeutschland ist dieses Gefühl weit stärker ausgeprägt: Hier glauben um 1990 über 80 Prozent, nicht den ihnen zustehenden Anteil erhalten zu haben; heute liegt er immerhin noch bei 57 Prozent (Abbildung 1 der PDF-Version).

Diejenigen, die bessere Positionen in der Gesellschaft einnehmen, geben häufiger an, ihren Anteil als gerecht zu betrachten. So wurde bereits in ähnlichen Untersuchungen festgestellt: "Wie zu erwarten, korreliert die Beurteilung der (subjektiven) Verteilungsgerechtigkeit mit verschiedenen Merkmalen des sozio-ökonomischen Status in der Weise, dass der Prozentsatz derjenigen, die glauben, weniger als den gerechten Anteil zu erhalten, mit höherem Status abnimmt." Die Unterschiede sind besonders groß, wenn die unterste Einkommensschicht der höchsten gegenübergestellt wird. Noch deutlicher wird die diesbezügliche Fragmentierung der deutschen Gesellschaft, wenn das Gerechtigkeitsempfinden nach der wahrgenommenen Lebenslage aufgezeigt wird (Abbildung 2 der PDF-Version).

Betrachtet man die subjektiv wahrgenommene Lebenslage in Verbindung mit der persönlichen empfundenen Verteilungsgerechtigkeit, dann zeigen sich starke Zusammenhänge. Knapp die Hälfte der Bevölkerung befindet sich nach eigener Wahrnehmung in positiven Lebensverhältnissen, acht Prozent sehen sich sogar im Spitzenbereich. Unter dem großen Anteil derjenigen, die ihre Lage "teils, teils" einschätzen, folgen die Bevölkerungsgruppen, die man als arm und extrem arm bezeichnen kann.

Je tiefer die Lebenslage, desto höher ist der Anteil der gefühlten Ungerechtigkeit und desto geringer ist die Lebenszufriedenheit. Gemessen an den drei Kriterien - wahrgenommene Lebenslage, gefühlte Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit mit dem Leben - ist die deutsche Gesellschaft klar geschichtet. Oben, das heißt in den günstig bewerteten Lebenslagen, befinden sich wenige, die mit dem Leben unzufrieden sind und wenige, die glauben, nicht den gerechten Anteil im Leben zu erhalten. Vorteilhafte Aspekte konzentrieren sich im oberen Bereich, die nachteiligen sind im unteren Bereich gebündelt. Zwar vermitteln die Daten den Eindruck, dass die Bessergestellten, die ihre Lebenslage als "gut" und "sehr gut" definieren, in der Überzahl sind. Aber die Mehrfach-Defizite am unteren Ende der subjektiven Schichtung deuten auf ein riskantes Spannungspotential hin.

Gefühlte Ungerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung

Was die Gründe für eine Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse als ungerecht betrifft, brachten frühere Untersuchungen keine Überraschungen. Die soziale Ungleichheit sowie die Unterschiede zwischen Arm und Reich stehen bei der Beurteilung der Ungerechtigkeit der Einkommens- und Vermögensverteilung im Vordergrund. Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind allem Anschein nach eng miteinander verbunden und stellen dementsprechend am häufigsten den Bezugsrahmen für die Thematisierung von Ungerechtigkeit dar: Die subjektiven Befunde aus den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland bringen zum Ausdruck, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung überwiegend als ungerecht wahrgenommen wird. Allerdings gibt es beträchtliche Unterschiede - je nachdem, ob es pauschal um die Einkommensverteilung geht, oder differenziert um einzelne Erwerbseinkommen.

Der Anteil "gerechter" und "ungerechter" Einstellungen schwankt im Laufe der Jahrzehnte erheblich, wobei langfristig ein Anstieg der Ungerechtigkeitsempfindungen zu verzeichnen ist. Während Allensbacher Umfragen zufolge 1964 bis 1979 die Menschen in der Mehrheit waren, welche die wirtschaflichen Verhältnisse in Deutschland als gerecht beurteilten, sank ab den 1980er Jahren der Anteil der "Gerechtigkeitsurteile" deutlich unter den der "Ungerechtigkeitsurteile". Diese Entwicklung erfuhr 2008 eine dramatische Zuspitzung: Im ersten Krisenjahr finden sich viermal so viele "Ungerechtigkeitsurteile" wie "Gerechtigkeitsurteile". Eine Expansion des Ungerechtigkeitsgefühls zeichnet sich ab, und es stellt sich die Frage, ob dieser Trend zum Stillstand kommt oder ob er von der Gesellschaft mehr oder weniger ausgehalten wird.

Thematisch verwandte Fragen führen zu ähnlichen Ergebnissen. Gefragt nach der Wohlstandsverteilung beurteilten 79 Prozent der Westdeutschen im Jahr 2008 diese als ungerecht, unter den Ostdeutschen lag dieser Anteil sogar bei 85 Prozent (Abbildung 3 der PDF-Version). Auch die Einkommensunterschiede werden überwiegend als zu groß empfunden. Die kritische Beurteilung der Einkommens- und Vermögensverteilung durch die Bevölkerung ist nach den vorliegenden Befunden in Deutschland weit verbreitet und seit langem vorhanden. Entsprechend findet auch die Gleichheitsidee eine erstaunlich positive Resonanz - wobei auch hier Ostdeutschland, wo die Idee der sozialen Gleichheit lange Zeit starke ideologische Unterstützung fand, höhere Werte verzeichnet.

Kollektive Ungerechtigkeit

Fragen der kollektiven Gerechtigkeit beziehen sich auf das Gerechtigkeitsniveau einer Gruppe bzw. Gesellschaft, also vor allem darauf, ob viel oder wenig Ungerechtigkeit in einer Bevölkerung wahrgenommen wird und wie sie sich entwickelt. Dies kann mit "objektiven" Indikatoren gemessen werden oder mit "subjektiven" Indikatoren. Ob das Individuum, das die Beurteilung vornimmt, selbst zu den Betroffenen gehört, ist dabei nebensächlich: So kann es sich in Umfragen ergeben, dass individuelle Betroffenheit von Ungerechtigkeit und die Bewertung der kollektiven Gerechtigkeitslage ganz verschieden ausfallen.

In einem objektiven Ranking sozialer Gerechtigkeit schneiden die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten am besten ab, gefolgt von den kontinentalen und angelsächsischen. Danach folgen die ostmitteleuropäischen und die südeuropäischen Wohlfahrtsstaaten. Deutschland befindet sich - der gefühlten Gerechtigkeit zufolge - am Rande des oberen Drittels zwischen Frankreich und der Tschechischen Republik. Fast die Hälfte der Bundesbürger nimmt demnach an, dass in Deutschland eher mehr Gerechtigkeit herrscht als im übrigen Europa.

Gefragt nach der Wahrnehmung der Entwicklung der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland, gibt eine Dreiviertelmehrheit der Befragten an, dass es in den Jahren 2005 bis 2008 eine Abnahmetendenz der sozialen Gerechtigkeit gab (anhand der drei Antwortkategorien "hat zugenommen", "hat abgenommen" und "ist gleich geblieben"; Abbildung 4). Vor zwanzig Jahren gab es die Beurteilung einer abnehmenden Gerechtigkeit weit weniger häufig: Noch 1987 standen sich positive und negative Beurteilungen gleich häufig gegenüber. Eine Zunahme der sozialen Gerechtigkeit ist immer nur von Minderheiten beobachtet worden, eher noch wurde von "gleich geblieben" gesprochen. Die Unterschiedlichkeit der "Gerechtigkeitsurteile" bzw. der Wahrnehmungen von Gerechtigkeit weist erneut darauf hin, wie schwierig es ist, Gerechtigkeit und ihre Entwicklung zu beurteilen.

Gesellschaftliche Konsequenzen gefühlter Ungerechtigkeit

Gerechtigkeit gehört zu den wichtigsten Dimensionen einer modernen Gesellschaft. Sie ist etwas, was jede Gesellschaft in ausreichendem Maß benötigt, wenn sie dauerhaft einen Wirkungszusammenhang bilden will. "Nur eine mehrheitlich als sozial gerecht empfundene Gesellschaft wird auf Dauer das notwendige Potenzial zur Konfliktregelung und gewaltlosen Streitschlichtung zur Verfügung stellen können." Dabei ist davon auszugehen, dass die Reaktionen auf gefühlte Ungerechtigkeit uneinheitlich erfolgen. "Erfahrene Ungerechtigkeiten haben also durchaus das Potenzial eines sozialen Sprengsatzes, allerdings in Ost- und Westdeutschland nicht in derselben Weise": Während in Westdeutschland eher Protest und sozialer Wandel ausgelöst werden, ist in Ostdeutschland eher Verweigerung die Folge.

Unter den sozialwissenschaftlichen Diagnosen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Deutschland ist die These von einem wachsenden "Gerechtigkeitsdefizit" bzw. einer zunehmenden "Gerechtigkeitslücke", die insbesondere von einer steigenden sozialen Ungleichheit hervorgerufen wird, besonders brisant. Diese These findet in den bisher vorliegenden Daten nicht unbedingt dramatische Unterstützung, es gibt aber deutliche Anzeichen in diese Richtung. Sowohl die persönliche als auch die kollektive (wahrgenommene) Gerechtigkeit weisen auf unterschiedlichen Niveaus negative Entwicklungstendenzen auf.

Insbesondere die wirtschaftlichen Verhältnisse werden von vielen Menschen als ungerecht betrachtet. Dennoch wird kaum ein Protest oder Widerstand gegen die Ungerechtigkeit der Wohlstandsverteilung zum Ausdruck gebracht. Es ist in der Tat erstaunlich, dass die massive Gerechtigkeitskritik in der Vergangenheit keine größeren gesellschaftlichen Folgen gehabt hat - aber dies ist keine Garantie dafür, dass es auch in der Zukunft so bleibt. Noch ist der Sozialstaat eine Instanz, die in besonderen Maße für soziale Gerechtigkeit sorgt, zum Beispiel, indem die Armut, die unter Marktbedingungen entstehen würde, deutlich verringert wird. Trotz mancher umstrittenen wohlfahrtsstaatlichen Reform ist er immer noch in der Lage, zur Reduzierung der Armut in einem bedeutsamen Umfang beizutragen.

Die Vorstellung, dass ein tiefgreifender Abbau sozialstaatlicher Einrichtungen vorgenommen werden könnte, würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer Steigerung der Gefühle sozialer Ungerechtigkeit führen. Die Brisanz der aktuellen Entwicklung besteht darin, dass sich das Ungerechtigkeitsempfinden, das gegenwärtig immer noch die Einstellungen einer (großen) Minderheit kennzeichnet, zu einer mehrheitlichen Einstellung vergrößern könnte. Dies brächte vermutlich bedrohliche Desintegrationserscheinungen für den gesellschaftlichen Zusammenhang.

Es gibt ein breites Potential von Reaktionen, die auf gefühlte Ungerechtigkeit erfolgen können. Sie reichen von Rückzug, Resignation und Verweigerung bis hin zu Empörung, Protest und Widerstand. Es kann sich um legale und illegale Verhaltensweisen handeln. Neue Formen der Wohlstandskriminalität werden in Einzelfällen sichtbar. Klassische Mechanismen auf dem Weg zum Wohlstand werden entwertet. Dass Einkommensunterschiede einen Leistungsanreiz darstellen sollen, verkehrt sich auch nach der Auffassung renommierter Wirtschaftswissenschaftler ins Gegenteil, wenn die hohen Einkommen extrem hoch und für die meisten unerreichbar sind. Der Bevölkerung und insbesondere den nachwachsenden Generationen zu vermitteln, dass wir eine gerechte Gesellschaft haben, wird zunehmend schwieriger.

Aus Untersuchungen zur Konfliktwahrnehmung in Deutschland weiß man, dass der Konflikt zwischen Arm und Reich die größte Bedeutung unter den wahrgenommenen Konflikten in Deutschland hat. Die Bundesrepublik Deutschland ist dem Strukturtyp nach eine Wohlstandsgesellschaft mit einem bedeutsamen resistenten Armutspotential. Gefühlte Ungerechtigkeit herrscht bei schlechten Lebenslagen vor, gefühlte Gerechtigkeit steht bei guten Lebenslagen im Vordergrund. Gleichzeitig sind die meisten Einwohner relativ zufrieden, womit erneut auf die Ambivalenz der wahrgenommenen Lebensverhältnisse verwiesen wird.

In der griechischen Philosophie hat Platon festgeschrieben, dass die Grenze des Reichtums nach oben durch den Faktor 4 markiert wird und darüber hinaus ist der Überschuss an den Staat abzugeben. Dafür plädiert heute wohl zu Recht niemand, aber darf man das Problem ignorieren? Dürfen die Unterschiede zwischen den Menschen beliebig groß werden? Müsste nicht begründet werden, warum Einkommensrelationen von 1:10 000 und Vermögensrelationen von 1: 1 000 000 angemessen sein sollen? Die Antwort auf die Frage, wann sich die Menschen mit der gefühlten Ungerechtigkeit abfinden und wann sie mit Protestverhalten reagieren, bleibt weiterhin offen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich widme diesen Beitrag meinem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main zum Abschied. Er ist aus dem Arbeitszusammenhang unserer Arbeitsgruppe "Einstellungen zum Sozialstaat" hervorgegangen. Für die Mitarbeit an dem Artikel danke ich Michaela Schulze und Sara Weckemann.

    Von der gefühlten (Un-)Gerechtigkeit wird in gleicher Weise gesprochen wie von der wahrgenommenen, der empfundenen, der erlebten sowie der erfahrenen (Un-)Gerechtigkeit. Schon Max Weber benutzte den Begriff "gefühlte Solidarität". Der Terminus "gefühlte Ungerechtigkeit" (andere sprechen auch vom "Gefühl von Ungerechtigkeit") ist wohl der am häufigsten genutzte, z.B. auch von Michael Hüther/Thomas Straubhaar, Die gefühlte Ungerechtigkeit, Berlin 2009. Die Betonung der "gefühlten" Wirklichkeit heißt keineswegs, dass Verstandesleistungen bei der Beurteilung gesellschaftlicher Sachverhalte keine Rolle spielen, vielmehr soll zum Ausdruck gebracht werden, dass Leistungen des Gefühls einen wesentlichen Anteil bei Gerechtigkeitsurteilen einnehmen (ähnlich wie im Konzept der emotional intelligence).

  2. Vgl. Robert B. Vehrkamp/Andreas Kleinsteuber, Soziale Gerechtigkeit - Ergebnisse einer repräsentativen Parlamentarier-Umfrage, in: Stefan Empter/Robert B. Vehrkamp (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit. Eine Bestandsaufnahme, Gütersloh 2007, S. 283ff. Die Untersuchung ist repräsentativ für Abgeordnete des Bundestags, der Länderparlamente, sowie der deutschen Europaabgeordneten.

  3. Das berühmte Thomas-Theorem besagt: "If men define situations as real, they are real in their consequences."

  4. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1993-1997, München 1997, S. 66.

  5. Vgl. Wolfgang Merkel/Mirko Krück, Soziale Gerechtigkeit und Demokratie: auf der Suche nach dem Zusammenhang, Bonn 2003.

  6. Vgl. Frank Nullmeier, Gerechtigkeitsziele des bundesdeutschen Sozialstaats, in: Leo Montada (Hrsg.), Beschäftigungsziele zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1997.

  7. Vgl. Irene Becker/Richard Hauser, Soziale Gerechtigkeit - ein magisches Viereck, Berlin 2009.

  8. Vgl. Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Gerechtigkeit, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt/M. 2004, S. 29-68.

  9. Vgl. Friedrich Heer (Hrsg.), Für eine gerechte Welt. Große Dokumente der Menschheit, Darmstadt 2004.

  10. Die in diesem Zusammenhang relevanten Umfragen sind insbesondere: die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, vgl. Rüdiger Schmitt-Beck u.a. (Hrsg.), Sozialer und politischer Wandel in Deutschland - Analysen mit ALLBUS-Daten aus zwei Jahrzehnten, Wiesbaden 2004; die Allensbacher Umfragen, vgl. E. Noelle-Neumann/R. Köcher (Anm. 4); die Wohlfahrtssurveys, vgl. Wolfgang Zapf, Die Wohlfahrtssurveys 1978-1998 und danach, in: Irene Becker u.a. (Hrsg.), Soziale Sicherung in einer dynamischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 2001, S. 301-321; sowie der Sozialstaatssurvey, vgl. Oliver Nüchter/Roland Bieräugel/Wolfgang Glatzer/Alfons Schmidt (Hrsg.), Der Sozialstaat im Urteil der Bevölkerung, Opladen 2009. Interessant sind auch das International Social Survey Programme und das Sozio-oekonomische Panel.

  11. Heinz-Herbert Noll/Bernhard Christoph, Akzeptanz und Legitimität sozialer Ungleichheit. Zum Wandel von Einstellungen in West- und Ostdeutschland, in: R. Schmitt-Beck u.a. (Anm. 10).

  12. Vgl. Wolfgang Glatzer u.a., Reichtum im Urteil der Bevölkerung, Opladen 2009.

  13. Vgl. die Beiträge in APuZ, (2005) 37 ("Ungleichheit-Ungerechtigkeit").

  14. Vgl. Stefan Liebig/Jürgen Schupp, Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit, in: Soziale Welt, 59 (2008) 1, S. 7 - 30.

  15. So fragen M. Hüther/T. Straubhaar (Anm. 1) von einem liberalen Standpunkt aus: "Warum wir Ungleichheit aushalten müssen, wenn wir Freiheit wollen."

  16. In der Regel ist die Kenntnis, dass es Ungerechtigkeiten irgendwo gibt, weiter verbreitet als die Häufigkeit von persönlichen Erfahrungen mit Ungerechtigkeit.

  17. Vgl. Wolfgang Merkel, Soziale Gerechtigkeit im OECD-Vergleich, in: S. Empter/R. B. Vehrkamp (Anm. 2), S. 233ff.

  18. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann/Renate Köcher, Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002, München 2002, S. 615.

  19. Erwin Carigiet u.a. (Hrsg.), Wohlstand durch Gerechtigkeit, Zürich 2006, S. 396.

  20. Stefan Liebig/Bernd Wegener, Protest und Verweigerung. Die Folgen sozialer Ungerechtigkeit in Deutschland, in: Manfred Schmitt/Leo Montada (Hrsg.), Gerechtigkeitserleben im wiedervereinigten Deutschland, Opladen 1999, S. 288.

  21. "Die Untersuchung der Frage, welche gesellschaftlichen Konsequenzen die Erfahrung von Ungerechtigkeit hat, steckt immer noch in den Anfängen." Alfredo Märker, Die politische Relevanz von Gerechtigkeitsvorstellungen und Ungerechtigkeitserfahrungen, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld (Hrsg.), Interdisziplinäre Gerechtigkeitsforschung, Frankfurt/M. 2002, S. 284.

  22. Vgl. OECD-Factbook 2009, S. 287.

  23. Vgl. O. Nüchter u.a. (Anm. 10), S. 25.

  24. Platon (427-347 v. Chr.) wird so zitiert: "Die Grenze des Reichtums für die oberste Klasse, welche nicht überschritten werden darf, soll der vierfache Wert des Landanteils eines Bürgers sein." Zit. nach Holger Stein, Anatomie der Vermögensverteilung, Berlin 2004, S. 13.

Dr. phil., geb. 1944; Professor für Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Robert-Mayer-Straße 5, 60054 Frankfurt am Main.
E-Mail: E-Mail Link: glatzer@soz.uni-frankfurt.de