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Die politische Rolle des Militärs in der Türkei | Türkei | bpb.de

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Die politische Rolle des Militärs in der Türkei

Şahin Alpay

/ 17 Minuten zu lesen

Das türkische Militär sieht sich als Hüterin der kemalistischen Prinzipien und begründete so drei Putsche und einen "kalten" Staatsstreich. Trotz der im Zuge der Annäherung der Türkei an die EU veränderten zivil-militärischen Beziehungen hat der politische Einfluss des Militärs Bestand.

Einleitung

Von einer vollständig konsolidierten Demokratie kann nur gesprochen werden, "wenn ausschließlich demokratische Spielregeln gelten, sich also niemand vorstellen kann, außerhalb der demokratischen Institutionen zu handeln". Es gehört zur Ironie türkischer Politik, dass die Republik Türkei trotz der relativ langen Geschichte ihrer verfassungsmäßigen Ordnung, die bis ins frühe 20. Jahrhundert zurückreicht, trotz ihrer Mitgliedschaft in den meisten internationalen Organisationen westlicher Demokratien seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, trotz der 15 freien und fairen Parlamentswahlen seit 1950 und trotz der im Jahre 2005 aufgenommenen Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union (EU) nach wie vor nicht als vollständig konsolidierte Demokratie gelten kann. Die Türkei weist stattdessen alle Eigenschaften einer "delegativen Demokratie" auf, die zwar dauerhaft, aber nicht konsolidiert ist. Dieses Manko zeigt sich zuvorderst in der fortdauernden politischen Rolle des Militärs, welche das größte Problem der türkischen Demokratie darstellt.


Nach Einführung des Mehrparteiensystem im Jahre 1950 hat das Militär nicht nur mehrfach - wenn auch nur für jeweils verhältnismäßig kurze Zeit - die Macht übernommen, es hat sich auch durch Verfassungsänderungen eine legale Basis seiner politischen Funktion gesichert. Sein Einfluss begann erst zu schwinden, als mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen mit der EU Reformen zur Einschränkung seiner politischen Rolle verabschiedet wurden. Dessen ungeachtet hat das Militär weiter damit gedroht, gewählte Regierungen zu stürzen und grundlegenden Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen, für die in konsolidierten Demokratien ausschließlich die Regierungen zuständig sind.

Ursprünge

Die politische Rolle des Militärs geht auf die Modernisierung und westliche Ausrichtung des osmanischen Imperiums zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück. Die Bemühungen zielten damals überwiegend darauf ab, den Staat zu stärken und vor allem die Streitkräfte zu modernisieren. Dementsprechend war das Militär eine der Institutionen der Türkei, die als erste einer Modernisierung unterworfen wurde. In Ermangelung einer starken bürgerlichen Klasse akzeptierten die zivilen und militärischen Verwaltungseliten und Intellektuellen die Führungsrolle der Reformbewegung.

Mittels eines Staatsstreichs erzwang 1876 die von den intellektuellen "Jungtürken" beeinflusste Verwaltungselite von Sultan Abdülhamit II. die Verkündigung der ersten osmanischen Verfassung. Nur zwei Monate später suspendierte sie der Sultan, woraufhin sich die Jungtürkische Reformbewegung in Opposition zu diesem formierte und hierbei viel Unterstützung im Offizierskorps fand. Sie gründete die Geheimorganisation "Komitee für Einheit und Fortschritt" (später Partei), die den Sultan 1909 stürzte und die Verfassung in Kraft setzte. Die Partei für Einheit und Fortschritt erlangte durch einen Militärputsch im Jahre 1913 diktatorische Macht und entschloss sich bald darauf, auf der Seite der Mittelmächte am Ersten Weltkrieg teilzunehmen. Die Niederlage ebnete den Weg für das Ende des Osmanischen Reichs und seine Aufteilung unter den Siegermächten. Unter denjenigen, die den erfolgreichen Freiheitskrieg gegen die Besatzung ausländischer Truppen zwischen 1919 und 1922 anführten und im Jahre 1923 die Republik Türkei gründeten, befanden sich mit Mustafa Kemal Pasha (später "Atatürk") und seinen Gefolgsleuten Offiziere des Militärs, von denen die meisten dem Komitee für Einheit und Fortschritt nahe gestanden hatten. Die Republik Türkei ist also im Wesentlichen vom Militär gegründet worden.

Die im Jahre 1923 gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) der Kemalisten proklamierte im Jahr 1925 das Einparteiensystem und verordnete Reformen, um anstelle des niedergegangenen Osmanischen Reichs einen modernen säkularen Nationalstaat aufzubauen. Die offizielle Politik des autoritären Regimes zielte darauf ab, aus der multiethnischen und multireligiösen Bevölkerung eine homogene Nation zu schmieden, die türkisch spricht, an der türkischen Kultur festhält und die staatlich sanktionierte Form des sunnitischen Islam praktiziert, wie er (bis heute) vom Präsidium für religiöse Angelegenheiten repräsentiert wird. Religiöse Äußerungen waren im öffentlichen Leben verboten. Der größten religiösen Minderheit, den Aleviten, wurde die offizielle Anerkennung verweigert und letztlich der sunnitische Glaube oktroyiert. Alle muslimischen ethnischen Gruppierungen, eingeschlossen die größte ethnische Minorität der Kurden, wurden gezwungen, sich zu assimilieren und einer "Türkifizierung" zu unterwerfen. Jeder Ausdruck kurdischer Identität wurde verboten. Erst 1991 wurde der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache erlaubt. Die türkischen Streitkräfte garantierten nicht nur die Sicherheit des Staates und dessen kemalistische Ideologie, sondern übernahmen auch die Rolle des wichtigsten Vermittlers bei der Etablierung einer säkularen und homogenen türkischen Identität in der Bürgerschaft.

Zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Modernisierung durch eine Demokratisierung von oben ergänzt. Der Übergang zu einem Vielparteiensystem wurde von den autoritären Machthabern in die Wege geleitet und kontrolliert, die überwiegend der CHP angehörten. Es war verboten, die kemalistische Staatsideologie in Frage zu stellen; der Kommunismus, fundamentalistische Religionen (gemeint ist der Islamismus), ethnischer Nationalismus (gemeint ist der kurdische Nationalismus) und Liberalismus in der Politik waren untersagt. Die türkische Demokratie bekam so von Anfang an einen bevormundeten oder auch gelenkten Charakter, in der die Militärs eine führende Rolle übernahmen.

Entwicklung

Diese Bevormundung zeigte sich noch deutlicher in den militärischen Interventionen, von denen die erste im Mai 1960 stattfand. Eine Militärjunta putschte sich an die Macht, nachdem sie der regierenden Demokratischen Partei (DP) vorgeworfen hatte, die Rechte der Opposition eingeschränkt und die Religion missbraucht zu haben, um zusätzlich Wählerstimmen zu gewinnen. Die Junta löste das Parlament auf, erklärte die Regierungspartei für illegal, ließ deren führende Politiker verhaften und den Ministerpräsidenten Adnan Menderes zusammen mit dem Außen- und dem Finanzminister nach einem skandalösen Gerichtsverfahren hinrichten. Die unter militärischer Kontrolle verabschiedete Verfassung, die durch ein Referendum im Jahre 1961 bestätigt wurde, führte zum ersten Mal in der Geschichte der Republik Garantien für Grundrechte und -freiheiten ein. Sie begründete den Nationalen Sicherheitsrat (MGK), in dem militärische und zivile Führungspersönlichkeiten zusammenarbeiten. Der MGK wurde durch Verfassungszusätze mit immer weitreichenderen Befugnissen betraut, welche die gesetzliche Basis für die noch folgenden Interventionen legten. Der Generalstab der türkischen Streitkräfte wurde ermächtigt, über die Verteidigungspolitik und die innere Sicherheit zu bestimmen und das Militärbudget, die Beschaffung nachrichtendienstlicher Informationen und alle Beförderungen zu kontrollieren.

Die zweite Militärintervention 1971 war die Antwort auf den gescheiterten Putschversuch einer linksgerichteten Junta aus Militärs und Zivilisten, die ein "revolutionäres" Einparteiensystem errichten, die Industrien verstaatlichen und die Türkei aus dem westlichen Bündnis lösen wollte. Das militärische Oberkommando erzwang den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Süleyman Demirel und drängte das Parlament, eine technokratische Regierung einzusetzen. Bevor die Macht durch Wahlen Ende des Jahres 1973 wieder in die Hände von Politikern gelangte, erzwang das Militär verfassungsrechtliche Änderungen, welche den MGK berechtigten, der Regierung politische Empfehlungen zu geben.

Die bewaffneten Zusammenstöße zwischen den ultralinken und rechtsgerichteten Gruppierungen, die das Land 1980 an den Rand eines Bürgerkriegs brachten, und die Unfähigkeit der Politiker, die eskalierende Gewalt zu kontrollieren, dienten als Rechtfertigung für die dritte Militärintervention. Das militärische Oberkommando der türkischen Streitkräfte übernahm die Macht, löste das Parlament auf, verbot alle politischen Parteien und verbannte führende Politiker für zehn Jahre aus der Politik. Das militärische Oberkommando führte das Land nahezu drei Jahre lang, bevor es die Macht im Jahre 1983 wieder an eine gewählte Regierung übergab. Es hatte zudem den Vorsitz bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, welche die Stellung des MGK auf Kosten der zivilen Behörden ausbaute und 1982 durch ein Referendum angenommen wurde.

Die Militärinterventionen der Jahre 1960, 1971 und 1980 waren zwar alle nur von relativ kurzer Dauer, das Militär verstand es aber bei jeder dieser Gelegenheiten, seine Position als übergeordnete Schutzmacht auszubauen. Dem Militär wurde "politische Autonomie" eingeräumt, welche ihm ermöglichte, sich außerhalb der verfassungsrechtlichen Autorität demokratisch gewählter Regierungen zu bewegen. Die Verfassung des Jahres 1982 und die Verabschiedung von nahezu 600 neuen Gesetzen durch das Militärregime erweiterten die Machtbefugnisse des MGK derart, dass der türkische Staat die Eigenschaften eines "Nationalen Sicherheitsstaates" annahm.

Über die Institution des MGK erlangte das Militär höchste politische Autorität. Erstes Ziel des Staates war die Verteidigung des Landes gegen äußere und innere Feinde, das heißt Kommunisten, Islamisten und kurdische Nationalisten. Alle zu deren Bekämpfung und Kontrolle eingesetzten Mittel wurden als legitim angesehen. Nicht öffentlich ausgearbeitete Gesetze, die durch verdeckte Kanäle und geheime Aktivitäten Anwendung fanden, wurden mit der vermeintlichen Bedrohung der "nationalen Sicherheit" gerechtfertigt. Derartige illegale und verdeckte staatliche Aktivitäten wurden in den 1990er Jahren unter dem Namen "tiefer Staat" bekannt.

Der "Nationale Sicherheitsstaat" wandte sich vor allem gegen den von der Arbeiterpartei Kurdistans PKK geführten kurdischen Aufstand, der 1984 ausbrach. Die PKK vertrat eine marxistisch-leninistische und separatistische Auffassung und vereinte eine Guerilla-Kriegsführung gegen die türkischen Sicherheitskräfte mit Terrorismus gegen Zivilisten. Im Gegenzug töteten Banden aus verurteilten Verbrechern mit Verbindungen zu Sicherheitskräften und geheimdienstlichen Organisationen eine nicht bekannte Zahl von Personen, die verdächtigt wurden, die PKK in einer irgendeiner Weise zu unterstützen. Der Sicherheitsstaat verhinderte darüber hinaus politische Lösungen der kurdischen Frage, die insbesondere die Anerkennung der Persönlichkeitsrechte der kurdischen Bürger erforderten.

Die Existenz eines "tiefen Staates", bzw. eines "Staates im Staat" wurde im November 1996 durch den "Susurluk-Unfall" enthüllt. Bei einem Autounfall in der Nähe der Stadt Susurluk im Westen der Türkei, kamen ein Polizeichef, ein von Interpol gesuchter Berufskiller mit Diplomaten-Ausweis und dessen Freundin ums Leben; ein kurdischer Stammesfürst und ein Parlamentsmitglied einer Regierungspartei wurden dabei verletzt. Im Kofferraum des Wagens wurde eine Tasche voll US-Dollar, eine Kiste mit Waffen, Munition und Schalldämpfer sowie eine Menge Kokain gefunden.

Der Unfall löste eine Bürgerrechtsbewegung aus, welche die damalige Regierung unter Necmettin Erbakan von der islamistischen Wohlfahrtspartei erfolglos aufforderte, gegen den "tiefen Staat" und die gravierende Korruption vorzugehen. Das Militär ergriff die Gelegenheit und wendete die Kampagne gegen die Regierung, der sie in hohem Maße misstraute. Es stellte der Regierung ein Ultimatum und verlangte Maßnahmen gegen die angeblich immer stärker werdende Bedrohung des säkularen Staates. So erzwang es im Juni 1997 den Rücktritt der Regierung Erbakan, wobei man heute von einem postmodernen Putsch, einer Art "sanftem Putsch" spricht. Damit wurde die These Ümit Cizres, einer der angesehensten Sachverständigen der zivil-militärischen Beziehungen in der Türkei, bestätigt: "The constitution of 1982 entrenched the military's veto power in the political system to such an extent that it has made crude military intervention into politics redundant."

Die Türkei stellte sich am Ende des Kalten Krieges somit als halbliberale "Quasi-Demokratie" dar, in der das Militär die Kontrolle innehatte und eine Staatsideologie vorherrschte, die sie in zunehmendem Widerspruch zu den westlichen Demokratien stellte. Trotz alledem gab es seit Anfang der 1980er Jahre sozioökonomische Entwicklungen, die auf einen Wandel des Landes von einer durch Staatseliten unter Führung des Militärs bevormundeten und geleiteten Demokratie zu einer konsolidierten "liberalen" Demokratie hinwirkten. Eine treibende Kraft war hier die Wirtschaft, die sich immer stärker mit der Weltwirtschaft und insbesondere mit der EU-Wirtschaft - im Zuge der 1995 eingeführten Zollunion mit Europa - verzahnte. Zudem stellte der liberale, kritische Diskurs der Intellektuellen die Bevormundung der Demokratie zunehmend in Frage. Den möglicherweise größten Ausschlag gab jedoch der Beitrittsprozess zur EU, der 1999 begann.

Die Aussicht auf eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU vereinte die türkische Gesellschaft in bisher ungekanntem Maße und löste einen starken Schub für wirtschaftliche und politische Veränderungen aus. Säkularisten, Islamisten, Kurden und Aleviten, sie alle hielten eine mögliche EU-Mitgliedschaft für die beste Garantie im Kampf gegen ihre jeweiligen Gegner. Durch die Gefangennahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Februar 1999 und die einseitige Erklärung der PKK, einen Waffenstillstand einzuhalten, der bis zum Sommer 2004 anhalten sollte, entstand ein Reformklima. Die zwischen 2001 und 2004 realisierten Reformen zur Erfüllung der Kopenhagener Kriterien brachten wichtige Veränderungen auch im Bereich der zivil-militärischen Beziehungen mit sich.

Die europäische Perspektive stürzte die Militärs in ein Dilemma: Das Ziel der Reformen "Atatürks" war es gewesen, die Türkei zu einem modernen, westlichen Staat zu machen. Im Jahre 1999 bedeutete dies einen Beitritt zur EU. Dies erforderte allerdings die radikale Reform einiger Grundpfeiler des kemalistischen Staates, unter anderem den Rückzug des Militärs aus der Politik. Die Militärführung fürchtete, das Land könne auseinanderfallen oder sich ein islamistischer Staat etablieren. Als die ehemalige islamistische, jetzt "konservativ-demokratische" Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) nach der Wahl im November 2002 die Macht übernahm, verschärften sich die Spannungen zwischen der Militärführung und der Zivilregierung.

Die Position der Militärs zur Frage des EU-Beitritts der Türkei wurde wohl am Besten in einem Artikel wiedergegeben, in dem dargelegt wird, dass die EU-Reformen "nach einer wirklichen Revolution in der Denkweise der Militärführung" verlangten. Auch wenn es aufgrund eines verbreiteten Misstrauens unter den Mitgliedern des Offizierskorps in Bezug auf das Verhältnis der Regierung zum kemalistischen Säkularismus zu Spannungen kam, unterstützte das Militär unter dem Kommando des Generals Hilmi Özkök (Generalstabschef von 2002 bis 2006) die EU-Reformen.

Im Zuge der von der AKP-Regierung angestoßenen Reformen wurde der MGK in eine beratende Institution mit einem zivilen Generalsekretär umgewandelt und hatte nicht mehr die Macht, im Land eigenmächtig Sicherheitsermittlungen anzustellen. Staatliche Mittel, die vom Militär verwendet werden, unterliegen nunmehr der Kontrolle des Rechnungshofs, die parlamentarische Kontrolle über das Militärbudget wurde verbessert. Dennoch ist die Türkei noch weit davon entfernt, ihre Streitkräfte unter eine zivile demokratische Kontrolle zu stellen. In zwei Berichten ist im Detail dargelegt, welche Reformen benötigt werden, um die zivil-militärischen Beziehungen in der Türkei mit europäischen Standards in Einklang zu bringen. Im jüngsten Dokument über die EU-Beitrittspartnerschaft vom Februar 2008 wird die Republik Türkei darum ersucht, die zivilie Kontrolle über die Sicherheitskräfte zu verstärken.

Auch nach Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der EU im Oktober 2005 dauerte die militärische Einflussnahme an. Als die regierende AKP im April 2007 beschloss, Außenminister Abdullah Gül zum Präsidenten zu ernennen, machten die Militärs in einer Stellungnahme auf der Webseite des Generalstabs deutlich, dass sie einen Präsidenten, dessen Frau ein Kopftuch trägt, nicht akzeptieren würden. Der damalige Generalstabschef, General Yaşar Büyükanit, hat vor kurzem eingeräumt, diese Stellungnahme persönlich autorisiert zu haben. Die AKP-Regierung widerstand dem Druck und entschied sich für eine Auflösung des Parlaments und vorgezogene Neuwahlen, als eine Entscheidung des Verfassungsgerichts die Präsidentenwahl verhinderte. Die AKP konnte so in den Parlamentswahlen im Juli 2007 einen Erdrutschsieg für sich verbuchen, der den Weg für die Wahl Güls zum 11. Präsidenten der Türkei ebnete.

Im April 2007 drangen Informationen aus dem Tagebuch eines pensionierten Admirals, der zwischen 2003 und 2005 Marinekommandeur war, zu dem Wochenmagazin "Nokta" durch. Daraus ging hervor, dass Spitzenkommandeure der türkischen Armee zwischen 2003 und 2004 mindestens zwei Putschversuche geplant hatten. Diese seien gescheitert, da der Generalstabschef Özkök sie nicht unterstützt habe.

Im August 2007 weitete sich eine staatsanwaltliche Untersuchung, die mit einem Fund von Handgranaten in einem Istanbuler Haus begann, zu einer Ermittlung exemplarischen Charakters gegen eine Geheimorganisation aus, die von ihren Mitgliedern "Ergenekon" genannt wurde. Diese hatte das Ziel, einem militärischen Putsch gegen die gewählte Regierung den Weg zu ebnen. Mehr als 100 Personen wurden verhaftet, darunter hochrangige pensionierte Militärkommandeure (die teilweise in die Putschversuche von 2003/2004 involviert waren), Journalisten, Unternehmer und ehemalige Politiker, die verdächtigt wurden, Verbindungen in die Staatsbürokratie und das Militär zu unterhalten. Die Gerichtsverhandlung gegen die Verdächtigen begann im Oktober 2008 und dauert an.

Am 12. Juni 2009 veröffentlichte die Tageszeitung "Taraf" überraschend bekannt gewordene Dokumente mit dem Titel "Aktionsplan zum Kampf gegen die (islamistische) Reaktion". Diese Dokumente wurden im Büro eines Rechtsanwalts beschlagnahmt, der einen aufgrund seiner Mitgliedschaft bei "Ergenekon" festgenommenen pensionierten Oberst vertritt. Diese Dokumente offenbaren, dass noch im April 2009 von den Militärs ein Plan entwickelt worden war, der darauf abzielte, dem Ansehen der AKP-Regierung Schaden zuzufügen und sie zu spalten. Der Generalstab hat diesen Plan zu einer Fälschung erklärt, wobei er sich auf die Ermittlungen von Militärstaatsanwälten berief. Die AKP-Regierung hat die zivilen Staatsanwälte dazu aufgerufen, weiter zu recherchieren. Die öffentliche Debatte über dieses Dokument hat die Regierung im Juli 2009 dazu veranlasst, Gesetze zu verabschieden, durch die eine "Begrenzung der Zuständigkeit der Militärgerichtsbarkeit auf militärische Pflichten von Angehörigen der Streitkräfte" gewährleistet wird. Damit kommt sie einer der Forderungen der EU nach und ermöglicht die Strafverfolgung von Militärangehörigen, die schwere Verbrechen begangen haben.

Militär und Gesellschaft

Das Militär rekrutiert seine Offiziere zumeist in der unteren Mittelschicht. Die Rekrutierung erfolgt durch harte Eingangsprüfungen an den Militärschulen, in denen die Offiziere in absoluter Übereinstimmung mit den Prinzipien des Kemalismus ausgebildet werden. Eines der wichtigsten Merkmale des türkischen Militärs ist die Distanz, die zur Gesellschaft gewahrt wird. Man arbeitet und lebt abgesondert vom Rest der Gesellschaft. Für die Offiziere existiert keine Trennung zwischen Privat- und Arbeitsleben. Die wenigen Untersuchungen über die politische Kultur des Militärs, die verfügbar sind, deuten darauf hin, dass türkische Offiziere sich selbst als die wahren Vertreter der nationalen Interessen sehen. Sie glauben zwar an die Legitimität einer demokratisch gewählten Regierung, sind jedoch davon überzeugt, dass eine Militärintervention innerhalb des türkischen Staates legitim wäre, wenn die Prinzipien des Kemalismus gefährdet wären.

Nach wie vor ist das türkische Militär die Institution der Republik, die in der Bevölkerung das größte Vertrauen genießt, obwohl ihr Ansehen aufgrund einer Reihe fehlgeschlagener Putschversuche und Enthüllungen stark gelitten hat. Dies ist nicht nur durch die vorherrschende Überzeugung erklärbar, dass das Militär der wichtigste Garant für die Sicherheit und Stabilität des Landes sei, sondern auch durch die militaristischen Tendenzen, die selbst unter der zivilen Bevölkerung weit verbreitet sind.

Der Teil der Gesellschaft, der befürchtet, dass der Aufstieg und die Machtübernahme der AKP ihren weltlichen Lebensstil bedrohen, sieht in den Streitkräften den besten Garanten gegen die Islamisierung. Derartige Ängste haben nicht nur Putschversuchen Vorschub geleistet, sie werden auch in hohem Maße von der wichtigsten Oppositionspartei CHP in ihrer Rivalität zur AKP ausgenutzt. In den politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten fehlt ein Konsens darüber, dass das Militär aus der Politik fernzuhalten sei.

Zukunft

Die Reformen, die verabschiedet wurden, um die Beitrittsverhandlungen mit der EU zu beginnen, haben dazu beigetragen, die verfassungsrechtliche und gesetzliche Basis der politischen Rolle der Streitkräfte einzuschränken. Die zunehmend undeutliche Haltung der EU gegenüber der Türkei, die Aussetzung mehrerer Beitrittskapitel und das Angebot einer "privilegierten Partnerschaft" anstelle einer Vollmitgliedschaft durch den französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Bundeskanzlerin Angela Merkel, erklären zumindest teilweise die Verlangsamung der Reformbemühungen seit 2005. Dies gilt auch in Bezug auf die zivil-militärischen Beziehungen. Es kann festgehalten werden, dass die Türkei beim Aufbau einer demokratischen Kontrolle der Streitkräfte sehr viel weiter vorangekommen wäre, hätte die EU den türkischen Beitritt auch nach 2005 weiterhin deutlich und glaubhaft unterstützt.

Es ist schwierig, über die Zukunft der zivil-militärischen Beziehungen in der Türkei eine Vorhersage zu treffen. Es gibt diesbezüglich derzeit zwei "Theorien": Die pessimistische geht davon aus, dass das Militär so lange eine politische Rolle spielen wird, wie unter den Staats- und einem Teil der zivilen Eliten (wobei auch ein erheblicher Teil der Wählerschaft diese Meinung teilt) die Vorstellung vorherrscht, dass die Streitkräfte der eigentliche Eigentümer des Staates und des Landes sind. Eine kürzlich abgeschlossene nationale Untersuchung hat ergeben, dass diejenigen, die meinen, "Probleme sollten manchmal eher durch das Militär als durch gewählte Politiker gelöst werden", nach wie vor nahezu ein Viertel der Wähler ausmachen. Daran wird sich nach Ansicht der Anhänger dieser Theorie nichts ändern, solange nicht die Angst eines großen Teils der Bevölkerung vor einer Bedrohung des Säkularismus durch die Machtposition der AKP zerstreut ist und keine politische Lösung für das Kurdenproblem gefunden wird.

Die optimistische Theorie vertritt den Standpunkt, dass die politische Rolle des Militärs nicht nur zu einer Vernachlässigung seiner eigentlichen Aufgaben führt, sondern dass hierdurch auch die Glaubwürdigkeit der Streitkräfte in der Bevölkerung und in den Reihen des Offizierskorps beeinträchtigt wird. Die Vertreter dieser Theorie sehen immer mehr Hinweise dafür, dass durch die öffentliche Debatte der vergangenen Jahre ein Engagement in Richtung Demokratie und Gesetzestreue auch unter den Militärs Anhänger gefunden hat. Die Untersuchungen im Ergenekon-Skandal lassen darauf hoffen, dass die türkischen Streitkräfte Putschisten nicht länger in ihren Reihen dulden. Hierauf deuten wiederholte Stellungnahmen General Ilker Başbuğs hin: So erklärte der seit August 2008 amtierende Generalstabschef zum Beispiel, dass "die türkischen Streitkräfte jenen Armeeangehörigen, die sich nicht zu Demokratie und Gesetzestreue bekennen, keine Heimat mehr bieten".

Es gibt tatsächlich Gründe für einen vorsichtigen Optimismus. Die militärischen Interventionen in der Politik haben, was Ausmaß und Gewalt angeht, tendenziell nachgelassen. Die Integration der Türkei in die EU schreitet trotz vieler Hindernisse weiter voran. Die Wirtschaft der Türkei und des Auslands sind zunehmend voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit hat ein solches Ausmaß erreicht, dass eine Herrschaft des Militärs unwahrscheinlich geworden ist. Ideologische Veränderungen innerhalb der islamistischen Bewegung, in deren Rahmen versucht wird, den kulturellen Konservativismus in Einklang mit wirtschaftlichem und politischem Liberalismus zu bringen, haben dazu beigetragen, die Ängste vor einer drohenden islamistischen Machtergreifung abzubauen. Reformen zur Anerkennung der kulturellen Identität der Kurden schüren die Hoffnungen, dass es für das Kurdenproblem eine friedliche Lösung geben könnte. In der Zivilgesellschaft und in den Medien ist die Unterstützung für ein Engagement der Streitkräfte in der Politik immer weiter zurückgegangen. "The army is no longer untouchable, at least in the national debate." Und zu guter Letzt signalisiert auch die amerikanische Administration unter Präsident Barack Obama deutlich, dass die USA Militärinterventionen nicht länger gutgeheißen werden.

Es ist anzunehmen, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte der zwei Theorien zu finden ist. Die Art von Militärputsch, wie er in den Jahren 1960, 1971 und 1980 stattfand, sowie auch die sanfte Version des Jahres 1997 gehören der Vergangenheit an. Die türkischen Streitkräfte werden wohl nicht mehr damit drohen, die Macht zu übernehmen und auch nicht länger zulassen, dass sich "Armeeangehörige, die sich nicht zu Demokratie und Gesetzestreue bekennen" in ihren Reihen aufhalten. Aber es ist davon auszugehen, dass der politische Einfluss des Militärs so lange Bestand haben wird, wie der rechtliche Aspekt der zivil-militärischen Beziehungen nicht mit den EU-Normen übereinstimmt und die Streitkräfte sich als Hauptvertreter der türkischen Interessen sehen.


Übersetzung aus dem Englischen: Gritta Leveques, Luxemburg.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991, S. 26.

  2. Ergun Özbudun, Contemporary Turkish Politics. Challenges to Democratic Consolidation, London 2000, S. 11.

  3. Vgl. Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, London - New York 1997.

  4. Vgl. Hugh Poulton, The Top Hat, the Grey Wolf, and the Crescent, London 1997.

  5. Vgl. Ilkay Sunar, State, Society and Democracy in Turkey, Istanbul 2004.

  6. Vgl. E. Özbudun (Anm. 2), S. 102 - 110.

  7. Ümit Cizre-Sakallıo?lu, The Anatomy of the Turkish Military's Political Autonomy, in: Comparative Politics, 29 (1997) 2, S. 153.

  8. Ebd. S. 153 - 154.

  9. Vgl. Şahin Alpay, The European Union and the Consolidation of Democracy in Turkey, in: The Journal of Interdisciplinary Economics, 20 (2009), S. 221 - 244.

  10. Vgl. Gareth Jenkins, Context and Circumstance, London 2001, S. 8.

  11. Ersel Aydinli/Nihat Ali Özcan/Doğan Akyaz, The Turkish Military's March toward Europe, in: Foreign Affairs, (2006) 1, S. 84; die Autoren konstatieren, dass der türkische Generalstab den Kemalismus erst dann neu definieren werde, "wenn der EU-Prozess einen Punkt erreicht, an dem das Militär sich nicht mehr gezwungen sieht, die derzeit gültige Sicherheitsideologie der Türkei beizubehalten." Ebd., S. 89.

  12. Vgl. Senem Aydın/E. Fuat Keyman, European Integration and the Transformation of Turkish Democracy, Centre for European Policy Studies, EU-Turkey Working Paper, (2004) 2, S. 19 - 22.

  13. Vgl. Ümit Cizre (ed.), Almanac Turkey 2005. Security Sector and Democratic Oversight, Istanbul 2006; Sami Faltas/Sander Jansen (eds.), Governance and the Military. Perspectives for Change in Turkey, Centre for European Security Studies, Groningen 2006.

  14. Vgl. EU-Ratsbeschluss Nr. 2008/157/EC, in: eur-lex.europa. eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ: L:2008:051:0004:0018:DE: PDF (12.8. 2009).

  15. Vgl. Walter Posch, Crisis in Turkey. Just Another Bump on the Road to Europe?, EU-Institute for Security Studies Occasional Paper, (2007) 67, S. 18 - 23.

  16. Vgl. Turkey's Dark Side, European Stability Initiative Briefing, Berlin-Istanbul 2008.

  17. Vgl. Amberin Zaman, Receding Power of Turkey's Military. A Leap for Democracy or Another Power Struggle?, The German Marshall Fund of the United States, On Turkey, 15. Juli 2009.

  18. Vgl. Ali Karaosmanoğlu, Officers: Westernization and Democracy, in: Metin Heper/Ayşe Öncü/Heinz Kramer (eds.), Turkey and the West. London 1993, S. 19 - 34.

  19. Vgl. Ayşe Gül Altinay, The Myth of the Military-Nation, New York 2004.

  20. Vgl. Yeni Türkiye'yi Anlamak (Understanding New Turkey), KONDA Report, November 2007.

  21. A. Zaman (Anm. 17).

Ph. D.; Senior Lecturer in Turkish Politics and Comparative Politics, Department of Political Science and International Relations, Bahçeşehir Universität, Istanbul/Türkei.
E-Mail: E-Mail Link: salpay@bahcesehir.edu.tr