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Die Roma in Ungarn | Ungarn | bpb.de

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Die Roma in Ungarn

Melani Barlai Florian Hartleb Florian Melani Barlai / Hartleb

/ 16 Minuten zu lesen

Obwohl die Roma in Ungarn Bestandteil der nationalen Kultur sind, erfahren sie alle Formen von Exklusion. Sollte sich ihre Situation weiter verschlechtern, könnten bürgerkriegsähnliche Zustände drohen.

Einleitung

Der populäre ungarische Schriftsteller Sándor Márai schrieb im Jahr 1938: "Zigeuner. Ist es wirklich so übel, am Rande der Landstraße zu leben, in armseligen Katen, (...) außerhalb jeder gesellschaftlichen Verpflichtung und verkrochen in der zwielichtigen, dumpfen Lehmhütte (...) - ein bisschen auch Geige fiedelnd, hühnerklauend, (...) in Rauch und Lehm und sich dabei an Indien erinnernd (...)? Ist es tatsächlich ein so übles Schicksal, abseits der Welt zu stehen, (...)?" Um die hier klischeehaft beschriebene Situation der Roma in Ungarn soll es im Folgenden gehen.




Auf Nationalitätenkarten des 19. und 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet des heutigen Ungarns und der Slowakei fehlen die Roma. Erst Ende der 1990er Jahre verwendete ein ungarischer Geograph gelbe Punktsignaturen, die auf diese Bevölkerungsgruppe verweisen. Im heutigen Ungarn bilden die Roma die größte ethnische Minderheit mit einer Bevölkerungszahl von rund 700 000 (sieben Prozent der Gesamtbevölkerung). Die Arbeitslosenquote liegt, abhängig von der Region, zwischen 50 und 90 Prozent, in einzelnen ausschließlich von Roma bewohnten Dörfern im Grenzgebiet zur Slowakei sogar bei 100 Prozent.


Stereotype

Ein verbreitetes Vorurteil auch in Westeuropa ist die Behauptung, Roma seien heimatlose Nomaden. Ihre Herkunftsregion Nordindien verließen sie im Zuge von Krieg und Verfolgung, unter anderem wegen muslimischer Angriffe, zwischen dem 4. und dem 14. Jahrhundert. Danach wurden sie auf dem europäischen Kontinent sesshaft, doch sie waren Spätankömmlinge: Die Grundstrukturen der späteren Territorialstaaten hatten sich bereits herausgebildet. Die ethnische Gruppe der Roma verfügte über kein historisches Territorium und über kein Mutterland. Damit gehören sie bis heute zu den Streu- oder Diaspora-Ethnien, die zwar starkes ethnisches Bewusstsein, aber kein Nationalbewusstsein entfalten.

Spätestens ab dem 16. Jahrhundert sahen "Zigeuner" Ungarn als ihre Heimat an, und ihre Einwanderung wurde mit Schutzbriefen der Fürsten akzeptiert. Zu jener Zeit geriet ihre Lebensweise, die in manchen Einstellungen und auch in kultureller Hinsicht auf den Hinduismus verweist, mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen noch nicht in Konflikt. Das verdeutlicht einer der ältesten Schutzbriefe von König Sigismund: "(Und) wir verordnen, dass ihr László Vajda und seine Roma Untertanen in jeder Weise beschützt, sie nicht behindert, ihr Leben nicht erschwert, sondern ganz im Gegenteil, ihr sollt sie vor jeder Unannehmlichkeit und jedem Ärger beschützen." Während der Kriege gegen den türkischen Eroberer deckten die Roma den Bedarf an Handwerkern: Sie besaßen in der Metallproduktion und -verarbeitung, in der Reparatur von Waffen sowie im Holzschnitzen eine für die Mehrheitsgesellschaft unerlässliche Funktion. Franz Liszt lobte die "freigebige Gastfreundschaft der Ungarn gegen die Zigeuner", die beispiellos gewesen sei. Die von ihm bewunderte Musikfertigkeit deutet er als Folge des integrativen Gnadenakts durch das ungarische Volk. "Zigeunerkapellen" aus Ungarn bereisten zu jener Zeit auf Konzerttouren ganz Europa.

Ein weiteres Klischee spricht von einer homogenen Bevölkerungsgruppe. Doch in Wirklichkeit unterscheiden sich ihre Mitglieder hinsichtlich der Sprache, der Traditionen sowie der Lebensweise beträchtlich voneinander. Allein in Ungarn können vier größere Gruppen unterschieden werden. Die alteingesessenen Roma (Romungrók) stellen rund 70 Prozent. Sie kamen im 15./16. Jahrhundert nach Ungarn und haben eine eigene Kultur des Musizierens entwickelt. Sie wandelten ihre Muttersprache, das Romanes, in eine europäische Sprache um, die viele ungarische Elemente in sich trägt und mit zwei Dialekten die am häufigsten gesprochene Roma-Sprache ist. Der Gebrauch der Muttersprache geht allerdings immer mehr zurück: 1893 gaben noch 30 Prozent der alteingesessenen Roma Romanes als ihre Muttersprache an, 1983 nur noch zehn Prozent. Heute dürfte die Zahl noch weit niedriger sein.

Die Oláhzigeuner kamen in der zweiten Hälfte des 19. und in der Mitte des 20. Jahrhunderts aus dem Gebiet der Moldau nach Ungarn und bilden heute etwa 21 Prozent der Minderheit. Sie sprechen Romanes und den "Oláhdialekt". Die rumänisch sprechenden Roma, die sich Béas (Bergarbeiter) nennen, kamen Ende des 19. Jahrhundert aus Rumänien, um im Bergbau Beschäftigung zu finden. Ihre ursprüngliche Sprache haben sie fast verloren. Sie sprechen heute einen archaischen Dialekt des Rumänischen. Nur einen kleinen Teil macht die ethnische Untergruppe der Sinti aus, deren Vorfahren vermutlich vor sechshundert Jahren in deutschsprachiges Gebiet einwanderten. In Ungarn leben kaum Sinti, obwohl aus westeuropäischer Perspektive immer wieder von "Sinti und Roma" die Rede ist. Die meisten Roma sehen inzwischen Ungarisch als ihre Muttersprache an. So greift eine lediglich auf ihre Sprache(n) bezogene Integrationsdebatte um die Roma zu kurz.

Vor der politischen Transformation

Nicht zuletzt auf Grund ihrer musikalischen Fertigkeiten galten die Roma in Ungarn als integriert - anders als in anderen Teilen Europas. Freilich wurden sie auf diese Rolle reduziert. Schon während der österreichisch-ungarischen Monarchie (1867 - 1918) sind die Roma diskriminiert und zwangsweise umgesiedelt worden. Im Zweiten Weltkrieg verschärfte sich die Abneigung gegenüber den Roma weiter - bis zum Massenmord unter dem Signum der nationalsozialistischen Rassenideologie. Ein von Heinrich Himmler Ende 1938 unterzeichneter Erlass zur "Regelung der Zigeunerfrage" mündete auch in den verbündeten und besetzten Ländern Europas in den Genozid. Zwischen Juli 1944 und März 1945 kam es zur Deportation von bis zu 30 000 ungarischen "Zigeunern", von denen nur etwa 4000 zurückkehrten. Bezeichnenderweise fehlt es bis heute an einer angemessenen historischen Aufarbeitung dieser Vernichtung, so dass die Zahlen ungenau bleiben. Seit dem Genozid hat das Wort "Zigeuner" einen diskriminierenden Zungenschlag und wird vom Zentralrat Deutscher Sinti und Roma abgelehnt. In Ungarn ist nach wie vor die Bezeichnung cigány üblich, auch als Selbstbezeichnung; "Roma" ist dagegen nicht beliebt und wird vor allem in akademischen Kreisen verwendet.

In der Nachkriegszeit wurde die Minderheitenpolitik vernachlässigt. Das neue kommunistische System sah über die Deportation der Roma hinweg. Nach der Automatisierungstheorie sollten sich in einer sozialistischen Gesellschaft nationale Fragen von selbst lösen. Die offizielle Politik gegenüber den Roma hatte eher instrumentellen Charakter und diente der innenpolitischen Integration mit dem Ziel der Systemerhaltung und -stabilisierung. Eine Integration der Minderheiten in die sozialistische Wirtschaft und Gesellschaft wurde zwar wegen des Bedarfs an Arbeitskräften im Zuge der landwirtschaftlichen Kollektivierung unterstützt, aber ihre sprachliche Assimilation wurde verhindert.

Die Roma hielten weitgehend an ihrer traditionellen Lebensweise fest, die mit der sozialistischen Arbeitsideologie unvereinbar war. Eine Verbesserung ihrer Lebenssituation brachte die "sozialistische Industrialisierung" der 1950er und 1960er Jahre: Als Folge der industriellen Entwicklung entstanden zahlreiche Arbeitsplätze, für die man kaum Qualifikationen, sondern vor allem physische Kraft benötigte. Anfang der 1980er waren 85 Prozent der arbeitsfähigen Roma und ca. 45 Prozent der Romni (weibliche Roma) in den Arbeitsprozess eingegliedert, blieben jedoch auf die unteren Einkommensgruppen beschränkt. Eine Untersuchung in den 1970er Jahren ergab, dass nur 11 Prozent der Romni Facharbeiterinnen waren, jedoch 10 Prozent angelernte, 56 Prozent unqualifizierte und 13 Prozent Landarbeiterinnen.

Von Mitte der 1960er Jahre an erhielten tausende Roma-Familien hygienischere Wohnungen, die aber mit dem Buchstaben "CS" (csökentett komfortfokozatú, geringeres Komfortniveau) versehen waren. Dies führte durch den kontinuierlichen Wegzug der Mehrheitsgesellschaft aus den Wohnblocks zur Marginalisierung und Wohnsegregation. Die offizielle Politik konnte trotz mancher Integrationserfolge wichtige Faktoren der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb der Roma-Bevölkerung nicht erfassen; dieser Umstand erklärt auch die schlechte Ausgangsposition der Roma beim Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft.

Nach der politischen Transformation

Mit dem Systemwechsel schien sich die allgemeine Situation der Roma zunächst zu verbessern. Die von József Antall geführte Regierung schuf 1990 eine neue Institution mit landesweiter Befugnis: das Amt für nationale und ethnische Minderheiten, zu dessen Aufgabengebiet auch die Lage der Roma zählte. Die neuen Vereinigungs-, Rede- und Pressefreiheiten gaben auch den Roma die Möglichkeit, eigene Organisationen zu gründen. Seit 1993 sind die Roma als ethnische Minderheit in Ungarn gesetzlich anerkannt. Das führte zur Zunahme örtlicher Selbstverwaltungen (von 477 auf 1300), deren Überleben jedoch nach wie vor problematisch erscheint. Das Gesetz sicherte nicht ihre finanziellen Grundlagen: Da die Roma über kein "Mutterland" verfügen, entgeht ihnen sowohl moralische als auch finanzielle Unterstützung von außen. József Oláh, Präsident des Landesverbandes der ungarischen Roma-Akademiker, sieht die "Arbeitsunfähigkeit" der Selbstverwaltungen in der Tatsache begründet, dass sie bis heute sowohl in den staatlichen Strukturen wie auch in der Zivilgesellschaft kaum verankert sind.

Die "Homogenisierung" der Minderheit bringt zahlreiche Probleme, gerade auf kommunaler Ebene. In den Roma-Selbstverwaltungen müssen die Vertreter der vier größten Gruppen zusammenarbeiten. Eine gemeinsame Interessenvertretung nach außen ist erschwert. Nach wie vor wird der Zusammenhalt der Roma-Gemeinschaft vor allem durch Verwandtschaftsbeziehungen gestiftet. Wichtigste Organisationsform ist bis heute die Großfamilie (satra, Zelt). Das erschwert die Schaffung größerer Einheiten, da die Familien mitunter rivalisieren.

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Großindustrie erfolgte eine rasche Reduzierung der Zahl der Industriebeschäftigten, die besonders stark die unteren Gesellschaftsschichten traf, also jene, die kaum oder nur geringe schulische Bildung und Qualifikation aufweisen konnten. Die wirtschaftliche Umstrukturierung hatte wachsende Arbeitslosigkeit zur Folge. Am Tiefpunkt der Rezession der 1990er Jahre waren nur 29 Prozent der männlichen Roma zwischen 15 und 59 Jahren beschäftigt, während der Beschäftigungsanteil der Männer in der Gesamtbevölkerung 64 Prozent betrug. Vor der Transformation hatten 85 Prozent der männlichen Roma Arbeit. Die Schere klaffte bei Frauen noch weiter auseinander: Nur 15 Prozent der Romni im Gegensatz zu 66 Prozent der Nicht-Roma waren berufstätig.

Durch ausländische Kapitalinvestitionen, die sich indes hauptsächlich in Budapest und in den westungarischen Städten konzentrierten, stieg der Bedarf nach Büroräumen. Die Umwandlung der inneren Stadtteile und die Privatisierung früherer Sozialwohnungen mobilisierte die Bevölkerung. Wohlhabendere bevorzugten nun größere und komfortablere Wohnungen in den Außenbezirken. Die bauliche Erhaltung der Innenstadtviertel wurde auch nach der Transformation stark vernachlässigt. Die dadurch entstandenen Slums wurden von den niedrigeren sozialen Schichten bewohnt, hauptsächlich von Roma, die wegen ihres Alters, ihrer Ausbildung oder der Situation auf dem Arbeitsmarkt keine Möglichkeit zum gesellschaftlichen Aufstieg hatten. Der größte Teil der Familien lebt bis heute unterhalb des durchschnittlichen Lebensstandards. Die Kaufkraftparität der Roma pro Kopf liegt weit unter dem Landesdurchschnitt, denn Roma verfügen selten über Kapital, und ihre Lebensumstände sind oft ärmlich. Nach wie vor wohnen sie mehrheitlich "unter sich", in kleinen Gemeinden, typisch für sozial Exkludierte. Viele werden vom aktuellen Geschehen nicht erreicht, und ein Prozess der Meinungsbildung bleibt aus. Mitunter fehlen sogar gültige Personaldokumente. Aus Angst und Misstrauen gegenüber dem Institutionensystem versuchen viele Roma ihre Abstammung zu verbergen und bekennen sich nicht zu ihrer Minderheit.

Aufgrund ihrer schlechten wirtschaftlichen Situation sieht sich die Mehrheit der Roma Perspektiv- und Chancenlosigkeit für den gesellschaftlichen Aufstieg gegenüber. Nostalgisch gegenüber dem alten System, in dem sie über einen (geringen) gesellschaftlichen Status verfügt haben, entwickeln sie häufig Apathie gegenüber dem aktuellen politischen System. Bei der Parlamentswahl 2002 standen erstmals Vertreter der Roma-Partei Lungo Drom auf den Listen. Bei Kommunalwahlen standen häufig Roma - mit der Folge, dass sie zu Gemeindevertretern, in Einzelfällen auch zu Bürgermeistern gewählt werden. Aufgrund des allgemein niedrigen Bildungsstandes der Minderheit können die Roma-Parlamentarier aber bis hin zum Europäischen Parlament ihren Aufgaben, die Interessen der Roma zu vertreten, häufig nur schwer nachkommen. Sie dienen nicht selten als Alibi, um den Parteien Stimmen aus dem Lager der Roma zu sichern. Für die Europawahl 2009 trat die MCF Roma Ö an, was von Roma-Vertretern aus anderen Parteien wegen der Aussichtslosigkeit und der generellen Uneinigkeit scharf kritisiert wurde. Ohne Wahlprogramm bekundete sie, für alle zwölf Millionen Roma in Europa eintreten zu wollen. Als Spitzenkandidat fungierte der 21-jährige Zsolt Kis. Als erste Roma-Partei überhaupt war sie 2006 zur Parlamentswahl angetreten und kam auf 0,08 Prozent der Stimmen; bei der Europawahl erhielt sie 0,46 Prozent.

Die Mehrheit der Roma ist nach wie vor kaum in die Arbeitswelt integriert: So fehlt der Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung. Ein großes Problem für die Etablierung einer politischen Kultur der Roma und für ihr Demokratieverständnis stellt ihr niedriger Bildungsstand dar: Roma-Kinder haben durch die segregierte Schulbildung nicht die gleichen Ausgangsbedingungen. Nur schrittweise gibt es hier Verbesserungen: So wurde, gesamteuropäisch bis heute einzigartig, in Pécs das erste Roma-Gymnasium, das Gandhi-Gymnasium, errichtet - 1994 in Eigeninitiative des 2006 verstorbenen Soziologen János Bogdán. Trotz dieser Bemühungen genießt die Schule in traditionellen Roma-Familien eine eher geringe Wertschätzung. Nach wie vor liegt der Anteil an den Abiturienten bei unter einem Prozent. Weniger als die Hälfte der Roma-Kinder schließt überhaupt die Grundschule ab, und Sonderschulen dienen als Auffangbecken.

Nährboden für Rechtsextremismus

Demokratieschutz bedeutet Minderheitenschutz, doch die Roma sind Parias der ungarischen Gesellschaft und willkommenes Feindbild für Rechtsextremisten. Weil Ungarn durch die schlechte wirtschaftliche Entwicklung und das chronische Haushaltsdefizit innerhalb eines Jahrzehnts vom wirtschaftspolitischen Musterknaben zum Sorgenkind in der Europäischen Union wurde und an den Rand des Staatsbankrotts geriet, dienen die Roma häufig als Sündenböcke. Verschwörungstheorien und Fremdenfeindlichkeit finden sich auch in der Mitte der Gesellschaft, selbst bei Akademikern. Durch die derzeitige Pathologie der Gesellschaft, die als Identitätsfindung durch Abgrenzung von nicht zur Eigengruppe gehörenden Menschen zu deuten ist, haben Feindbilder Konjunktur. Einen festen Platz in der gesellschaftlichen Mitte scheint paradoxerweise der Hass auf die eigene Nation zu bekommen: Wenngleich die Jugendlichen beispielsweise in der Silvesternacht traditionell die Nationalhymne singen, vertreten selbst Akademiker häufig die Meinung, "In Ungarn ist alles schlecht".

Der Rechtsextremismus entfaltet nach der als abgeschlossenen betrachteten Phase der Transformation neue Attraktivität, sowohl subkulturell wie parteiförmig: Die paramilitärische "Ungarische Garde" (Magyar Gárda) marschiert nach ihrer Gründung im Sommer 2007 durch Stadtviertel und Dörfer mit hohem Roma-Anteil und hetzt gegen die Minderheit. Ihr verlängerter Arm ist die Partei Jobbik; sie erhielt bei der Europawahl aus dem Stand fast 15 Prozent der Stimmen.

Der Anführer der Bewegung, Gábor Vona, ein aus einer traditionellen Bauernfamilie stammender Akademiker, äußerte in der "Deutsche Stimme", dem Parteiorgan der rechtsextremistischen NPD, dass es der Zweck der Garde sei, Ungarn "physisch, seelisch und auch geistig/geistlich" zu schützen. Das zentrale Problem des ungarischen Volkes ergebe sich "mit den hiesigen Zigeunern - in Bezug auf deren äußerst unverhältnismäßig große Kriminalitätsrate und die bei ihnen ausgeprägte Arbeitsunwilligkeit."

Die Lage der Roma spielte im Rahmen des EU-Beitritts lediglich eine Nebenrolle, obwohl sie als neue EU-Bürger mit allen Rechten und Pflichten die wirtschaftlich ärmste Minderheit in Europa sind. Im Zuge des Beitritts der Visegrád-Staaten gab die Europäische Kommission einen Bericht über die Situation der Roma in der erweiterten EU heraus. Darin wird offen von Versagen bei der Verringerung der Diskriminierung gesprochen. Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Für Ungarn wurde die schulische Segregation kritisiert: Ungefähr in 700 Schulen würden Roma-Kinder getrennt unterrichtet.

Aufgrund des mangelhaften Befundes ließ die EU im Jahr 2008 ausführlich die Situation der Roma und Sinti in Bulgarien, Tschechien, Griechenland, Ungarn, Polen, Rumänien und der Slowakei untersuchen. In jedem Land äußerten sich 500 Roma. Die "große Heterogenität" der Bevölkerungsgruppe wird in den methodischen Ausführungen zwar problematisiert, konnte aber in der Umfrage selbst nicht berücksichtigt werden. Alle befragten Roma in Ungarn gaben an, Ungarisch sei ihre Muttersprache (zum Vergleich: in Bulgarien gaben nur 25 Prozent an, Bulgarisch sei Muttersprache); 90 Prozent teilten die Auffassung, dass ihre Diskriminierung weit verbreitet und im Vergleich zu den anderen Ländern am stärksten ausgeprägt sei. 62 Prozent fühlten sich in den vergangenen zwölf Monaten persönlich als Opfer von Diskriminierung - nach Tschechien (64 %) der höchste Wert.

Doch Monitoring und Konferenzen wirken eher als zahnlose Tiger denn als effiziente Steuerungsinstrumente für die Implementierung von Minderheitenschutz. So mutet die Forderung, zur Förderung und Durchführung von Projekten müssten die Roma entsprechende Organisationsstrukturen bilden, inhaltsleer an, da sie die Heterogenität der Bevölkerungsgruppe nicht in Rechnung stellt. Auch die Situation der Roma in den alten EU-Mitgliedstaaten vermag nicht als Vorbild dienen. Es fehlt an einheitlichen Standards: In Ungarn gelten die Roma als ethnische, in Rumänien beispielsweise als nationale Minderheit.

Perspektiven

Seit den 1990er Jahren ist die Diskriminierung der ungarischen Roma aufgrund schlechter oder versäumter sozialpolitischer Maßnahmen auf allen Ebenen spürbar: sozial, kulturell, institutionell und politisch. Die Transformationsforschung übersieht diese Problematik, da sie für Ungarn in der Regel äußerst positive Zahlen übermittelt und eine staatliche Konsolidierung diagnostiziert hat. Doch Stereotype gegenüber Roma sind in Ungarn omnipräsent. Die Roma, nach wie vor "Fremde in Europa", sind tatsächlich "anders" und scheinen sich häufig mit ihren Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft zu verschließen. Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft ergeben sich aus dem niedrigen Bildungsstand, aus hohen Kriminalitäts- wie Geburtenraten, aus Alkoholproblemen, aus häufig katastrophalen gesundheitlichen und hygienischen Zustände, aus partieller Arbeitsunwilligkeit und durch ein Leben am gesellschaftlichen Rand als Folge der sozialen Exklusion. Einzelne Beispiele und negative persönliche Erfahrungen führen zu Generalisierungen und letztlich zur Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe.

Die Zuspitzung negativer Eigenschaften führt zu irrationalem Verhalten seitens der Mehrheitsbevölkerung. "Zigeunerbilder in den Köpfen" sind besonders langlebig und hartnäckig: "Ein häufig anzutreffendes Muster ist die Verwendung idealtypischer Gegensatzpaare: auf der einen Seite die zivilisierte Mehrheitsbevölkerung, die durch die Werte Arbeit, Ehrlichkeit, Ordnung, Ruhe und Friedfertigkeit charakterisiert wird, auf der anderen Seite die Roma als unzivilisierte Minderheit, die aufgrund ihres asozialen Verhaltens diese Werte nicht akzeptiert und in Frage stellt." Bei einer aktuellen Befragung von 2500 Personen der Mehrheitsbevölkerung zeigten sich 80 Prozent davon überzeugt, dass Roma genauso leben müssten wie sie selbst. Ebenso gaben 84 Prozent der Befragten an, die Sorgen der Roma könnten gelöst werden, wenn sie "endlich zu arbeiten anfangen" würden. Dafür fehle ihnen aber der Wille.

Erst wenn Vorurteile auf dem Weg des Miteinanders ausgeräumt werden, wenn alle Bevölkerungsgruppen an breiter Bildung partizipieren können, könnte der Teufelskreis durchbrochen werden. Sonst dürfte sich an der schlimmen gesellschaftlichen Situation der Roma in Ungarn und im restlichen Europa auch im 21. Jahrhundert nichts ändern.

Im Gegenteil: Die Situation könnte eskalieren. In den vergangenen Monaten stieg die Gewalt gegen Roma weiter an. Im Februar 2009 wurden bei einem Brandanschlag in Tatárszentgyörgy, rund 50 Kilometer südwestlich von Budapest, ein Vater und sein fünfjähriger Sohn getötet. Viele der 54 erfassten Angriffe auf Roma in den vergangenen eineinhalb Jahren sind unaufgeklärt. Mittlerweile hilft die US-Bundespolizei FBI nach der drastischen Häufung von Gewalt den ungarischen Behörden bei den Ermittlungen. Manche Soziologen beschwören bereits bürgerkriegsähnliche Zustände herauf. Die demographische Entwicklung, die voranschreitende Erhöhung der Population der Roma, könnte dazu beitragen, aus der düsteren Prophezeiung Wirklichkeit werden lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sándor Márai, Die vier Jahreszeiten, München-Zürich 2009, S. 161f. (Original: A négy evszak, k?ltmények prózában, Budapest 1938).

  2. "Rom" bedeutet übersetzt "Mann" oder "Mensch".

  3. Durch den am 4. Juni 1920 unterzeichneten Vertrag von Trianon verlor Ungarn als Folge des Ersten Weltkriegs zwei Drittel seines Territoriums, darunter Teile der heutigen Slowakei.

  4. Vgl. László Sebök, Map of Central and South Eastern Europe, Budapest 1998.

  5. Das Außenministerium spricht von bis zu 600000; vgl. Fakten über Ungarn, Kapitel Zigeuner/Roma in Ungarn, Budapest 2004.

  6. Vgl. Flórián Farkas, óiási mértékben emelkedhet az analfabétizmus, www.romnet.hu/hirek/hir0608121 (30.3. 2009), Budapest 12.8. 2006. Farkas ist Rom und Parlamentsabgeordneter der konservativen Fideszpartei.

  7. Vgl. Egbert Jahn, Ethnische, religiöse und nationale Minderheiten. Begriffe und Statusoptionen, in: Osteuropa, 57 (2007) 11, S. 7 - 25, hier S. 17.

  8. Elemér Várnagy (Hrsg.), Grundkenntnisse der Romologie. Bibliothek der 7 freien Künste, Budapest 1999, S. 120.

  9. Franz Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn. Dt. von Peter Cornelius, Pest 1861, S. 258f.

  10. Vgl. István Kemény, Linguistic Groups and Usage Among the Hungarian Gypsies/Roma, in: Ernö Kállai (Hrsg.), The Gypsies/The Roma in Hungarian Society, Budapest 2002, S. 28 - 34.

  11. Vgl. István Kemény/Béla Janky, A cigány nemzetiségi adatokról [Über die Daten der Zigeuner], in: Kisebbségkutatás [Minderheitenforschung], (2003) 2, o.S.

  12. Vgl. ebd.

  13. Die Bezeichnung stammt aus der nordwestindischen Region Sindh, die Heimat der Vorfahren.

  14. Vgl. Károly Kocsis/Zsolt Bottlik, Die Romafrage in der Karpato-Pannonischen Region, in: Europa Regional, 12 (2004) 3, S. 132 - 140, hier S. 134.

  15. In Deutschland kam es 1982 zur Aussöhnungs- und Wiedergutmachungspolitik, als Bundeskanzler Helmut Schmidt und Oppositionsführer Helmut Kohl die Verfolgung und Vernichtung der "Zigeuner" während des Nationalsozialismus offiziell als Völkermord bezeichneten.

  16. Das Wort Zigeuner ist eine Fremdbezeichnung, die im Deutschen wahrscheinlich aus dem Ungarischen (cigány) entlehnt ist und in ähnlicher Form in vielen europäischen Sprachen vorkommt. Das Wort stammt wohl aus dem Persischen (ciganch, Musiker, Tänzer) oder dem Byzantinischen (atciganoi).

  17. Vgl. das Interview mit dem Präsidenten der Stiftung für Roma-Bürgerrechte, Aladár Horváth: Magyar nemzet, roma nemzet [Ungarische Nation, Roma-Nation], in: Népszabadság vom 12.7. 2004.

  18. Vgl. Michael Stewart, Die Roma und der ungarische Kommunismus 1945 - 1989, in: Yaron Matras/Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hrsg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache, Geschichte, Gegenwart, Berlin 2003, S. 189 - 230, hier S. 195.

  19. Vgl. Brigitte Mihók, Vergleichende Studien zu Situation der Minderheiten in Ungarn und in Rumänien (1989 - 1996) unter besonderer Berücksichtigung der Roma, Frankfurt/M. 1999, S. 115 - 130.

  20. Vgl. ebd.

  21. Vgl. M. Stewart (Anm. 18), S. 189 - 230.

  22. Vgl. ebd.

  23. Vgl. das Interview mit József Oláh, www.amarodrom.hu/archivum/2007/12 (20.5. 2009).

  24. So die Beobachtung der Autorin beim Besuch des Treffens von Vertretern der Roma-Selbstverwaltungen des Komitats Tolna in Fadd im Mai 2007.

  25. Vgl. István Kemény (Hrsg.), Romák, cigányok és a láthatatlan gazdaság [Roma, Zigeuner und die unsichtbare Wirtschaft], Budapest 2000.

  26. Vgl. Martin Kronauer, Exklusion, Frankfurt/M. 2002, S. 215 - 225.

  27. Kinder, die im ersten Schuljahr den Leistungsanforderungen nicht nachkommen, werden oft in Sonderschulen, nach speziellen Lehrplänen unterrichtet.

  28. Seine Frau leitet bis heute das Gymnasium, das zur Zeit 300 Schüler mit angeschlossenem Internat erzieht.

  29. Im Internet kursiert das Lied "Majmok" (Affen). Es diffamiert die Roma im Land als Sozialschmarotzer: "Ich verdiene die Stütze, von der ihr lebt", heißt es darin.

  30. So Melani Barlai/Florian Hartleb, Ungarn - vom Musterknaben zum Sorgenkind der Europäischen Union, in: Politische Studien, 58 (2007) 411, S. 95 - 104.

  31. Vgl. Melani Barlai/Florian Hartleb, Ungarischer Populismus und Rechtsextremismus. Ein Plädoyer für die Einzelfallforschung, in: Südosteuropa Mitteilungen, 48 (2008) 4, S. 34 - 51.

  32. Der Name hat zwei Bedeutungen: Steigerungsform von "gut" bzw. "rechts".

  33. "Ungarn schützen, das ist unser Ziel", Interview mit Gábor Vona, dem Chef der ungarischen Garde: in: Deutsche Stimme, 32 (2008) 5, S. 9.

  34. Vgl. Europäische Kommission/Generaldirektion Beschäftigung und Soziales, Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen Union, Brüssel 2004.

  35. Vgl. European Union Agency for Fundamental Rights, Data in Focus Report. Part 1, The Roma, Budapest 2009.

  36. Vgl. mit Blick auf Rumänien: Joachim Krauß, Integration mit Widerständen. Die Roma in Rumänien, in: Osteuropa, 57 (2007) 11, S. 241 - 251, hier S. 249 - 251.

  37. Vgl. die Fallstudie im Rahmen des Scottish Universities Roma Network von Lynne Poole/Kevin Adamson, Report on the Situation of the Roma Community in Govanhill/Glasgow, University of the West of Scotland, Glasgow 2008.

  38. In Westeuropa werden in einer kulturalistischen Einordnung Roma und Sinti meist als kulturelle Minderheit angesehen. Auch dies bietet freilich keine Gewähr vor Diskriminierung.

  39. So die eigenen Erfahrungen der "Unzugänglichkeit" seitens der Autorin im Rahmen einer Feldforschung zur Lebenssituation der Roma in Pécs (Bachelorarbeit; TU Chemnitz 2005). Ein besonderer Dank gilt János Gyurok von der Universität der Wissenschaften Pécs.

  40. Vgl. Michael Stewart, Deprivation, the Roma and the "underclass", in: Christopher M. Hahn (Hrsg.), Postsocialism: Ideas, Ideologies and Practice in Europe, New York 2002, S. 133 - 156. Vgl. auch Pierre-André Taguieff, Die Macht des Vorurteils, Der Rassismus und sein Double, Hamburg 2000, S. 248.

  41. Joachim Krauß, Bestätigt die Ausnahme die Regel? Stereotypen vom "Zigeuner" und soziale Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde, 23 (2000) 2, S. 228 - 236, hier S. 230.

  42. Vgl. Umfrage des Progressive Instituts, zit. nach www.balaton-zeitung.info vom 3.5. 2009 (18.5. 2009).

  43. Vgl. Ungarn erhält FBI-Hilfe bei Ermittlungen, in: Der Standard, www.derStandard.at vom 4.5. 2009 (5.5. 2009).

  44. So der ungarische Soziologe Tamás Pál im Interview mit der Autorin am 21.5. 2007 in Budapest.

  45. Einige Wissenschaftler prognostizieren bis zum Jahre 2050 einen Bevölkerungsanteil von 10 %, was sich in Folge der starken Geburtenrate als durchaus realistisch erweisen kann.

B. A., geb. 1982; wissenschaftliche Angestellte des Lehrstuhls für Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der TU Chemnitz; Thüringer Weg 9, 09126 Chemnitz.
E-Mail: E-Mail Link: melani.barlai@googlemail.com

Dr. phil., geb. 1979; wissenschaftlicher Angestellter des Lehrstuhls für Europäische Regierungssysteme im Vergleich an der TU Chemnitz (s.o.).
E-Mail: E-Mail Link: florian.hartleb@phil.tu-chemnitz.de