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Schwelende Konflikte in der Kaukasus-Region | Kaukasus | bpb.de

Kaukasus Editorial Die Georgienkrise als weltpolitisches Thema Der weite Weg zur "Zivilgesellschaft" Schwelende Konflikte in der Kaukasus-Region Der Kaukasus zwischen Minderheiten- und Machtpolitik Ein Blick in die Geschichte Kaukasiens Aus den Augen - aus dem Sinn: Der Kaukasus in den Medien

Schwelende Konflikte in der Kaukasus-Region

Manfred Quiring

/ 15 Minuten zu lesen

Die komplizierte Gemengelage aus Ethnien, Glaubensrichtungen und wirtschaftlichen Interessen hat zur Entstehung zahlreicher Konfliktherde geführt. Vor allem der Konflikt um die Region Berg-Karabach birgt Brisanz.

Einleitung

Wohl nirgendwo in der Welt ist die Konzentration ungelöster regionaler Konflikte so hoch, wie im Kaukasus. Sie reichen zum Teil weit zurück in die Geschichte und werden mitunter im Namen der Religionen ausgetragen, die hier auf der relativ kleinen Fläche von 440.000 Quadratkilometern nebeneinander existieren: Sunnitische und schiitische Strömungen des Islam konkurrieren mit der orthodoxen christlichen Religion; zugleich setzt sich das Adat, das ungeschriebene Gewohnheitsrecht und die Regel für die Lebensweise der Nordkaukasier, gegen fundamentalistische islamische Strömungen zur Wehr; in der Ebene vor dem Nordkaukasus leben buddhistische Kalmücken; in den Bergen Dagestans und Aserbaidschans sind Bergjuden zu Hause, die ihre mosaische Religion mit den Bräuchen der Bergvölker, dem Adat, verbunden haben.



Noch vielfältiger sind die nationalen Wurzeln der rund 30 Millionen Kaukasier. Zwischen 40 und 50 Völker werden dort gezählt. Berücksichtigt man die zahlreichen Dialekte, die in abgelegenen Gebirgstälern gesprochen werden, ist die Zahl der Sprachen sogar noch höher. Schon Plinius d. Ä. (23 o. 24-79 n. Chr.) berichtete, dass die Römer in Dioskurias (heute Suchumi in Abchasien) 130 Dolmetscher gebraucht hätten. Doch meist sind die religiös-ethnischen Differenzen lediglich Aspekte des selben Problems. Im Kern geht es letztlich um politische und wirtschaftliche Interessen, meist um Landbesitz. Denn die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen sind rar im Kaukasus.

Brisanter Streit um Berg-Karabach

Der brisanteste Konflikt schwelt zwischen dem islamisch geprägten Aserbaidschan und dem christlich-orthodoxen Armenien, das sich auf die Hilfe Moskaus stützen kann. Das Verhältnis dieser beiden Länder, wenn man die Nichtexistenz von Beziehungen überhaupt so nennen kann, ist ganz und gar zerrüttet. Die Gräben zwischen beiden Ländern sind so tief, dass letztlich niemand weiß, wie angesichts dessen der Konflikt um Berg-Karabach - eine völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende, seit Anfang der 1990er Jahre aber von Armenien beherrschte Exklave - gelöst werden soll.

Berg-Karabach ist mit 4400 Quadratkilometern etwa fünfmal so groß wie Rügen. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Gebiet, dessen Grenzen später - wie so viele im Kaukasus - von Stalin willkürlich gezogen wurden, ein Zankapfel zwischen beiden Ländern. Die Armenier glauben, Berg-Karabach, im Russischen Nagorno-Karabach, auf Armenisch Arzach, sei ihr historisches Siedlungsgebiet. Im Mittelalter hatten sich hier noch Reste des armenischen Staates in Form kleiner Fürstentümer halten können, als die anderen Teile des Landes schon okkupiert worden waren. Nachdem Armenien zunächst zwischen Byzanz und Iran, später zwischen Arabern und Türken geteilt worden war, siedelten sich in Arzach immer mehr Türken an. Sie kamen und nannten die Region Karabach - "Schwarzer Garten".

Als der Transkaukasus im 19. Jahrhundert ans russische Imperium angegliedert wurde, geriet ein Teil von Karabach-Arzach unter die Verwaltung des Gouvernements Eriwan, der andere wurde dem Gouvernement Elisawetpolsk - heute Stepanakert - zugeschlagen. Nachdem die drei transkaukasischen Republiken Aserbaidschan, Armenien und Georgien nach dem Ersten Weltkrieg kurzzeitig unabhängig geworden waren, gehörte Berg-Karabach zeitweilig zu Armenien. Mit dem türkisch-sowjetrussischen Friedensschluss von 1921 wurde die Region dann aber als Autonomie Aserbaidschan zugeschlagen. Zu sowjetischer Zeit war es somit ein autonomes Gebiet innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik, in dem Aserbaidschaner und Armenier - gezwungenermaßen - zusammenlebten. Damals, so die Klage in Eriwan, hätten die Machthaber in Baku absichtlich die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Karabach-Armenier gebremst, ihre ethno-kulturelle Identität unterdrückt und eine zielgerichtete Veränderung der Demografie im Interesse der Aserbaidschaner betrieben. Die Armenier hätten sich immer dagegen gewehrt.

In einer Anhörung vor dem armenischen Parlament im März 2005 machte der damalige Sekretär des Sicherheitsrates und Verteidigungsminister Sersch Sarkisjan, seit April 2008 Präsident des Landes, das Zentralkomitee der kommunistischen Partei in Moskau für den erneuten Ausbruch des Konflikts 1988 verantwortlich. Von dort seien widersprüchliche Signale ausgegangen, "die einerseits die armenische Seite ermunterten, den Weg für die demokratische Selbstbestimmung der Armenier in Nagorno-Karabach zu suchen, und die andererseits Aserbaidschan aufstachelten, jeder Status-Veränderung von Karabach hart entgegenzutreten und dabei die Prinzipien der territorialen Integrität und der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten zu betonen". Es gebe Grund zu der Annahme, sagte Sarkisjan weiter, "dass die massenhaften Pogrome und Morde an der friedlichen armenischen Bevölkerung von Sumgait, Kirowabad und Baku, aber auch die ethnische Säuberung in Nord-Arzach mit Wissen des ZK der KPdSU stattgefunden haben".

Blutspur der Pogrome

Pogrome hatte es freilich auch schon sehr viel früher immer wieder gegeben. So kam es 1905 in Baku in revolutionär aufgeheizter Atmosphäre zu einem Massaker, nachdem eine Gruppe von Armeniern im Zentrum der Ölstadt einen aserbaidschanischen Ölarbeiter erschossen hatte. Dieses rächte der armenische Fürst Andronik auf blutige Weise, nachdem er 1918 mit seiner Privatarmee nach Baku eingerückt war. 1919, nach dem Einmarsch türkischer und deutscher Truppen durften sich wiederum die Aserbaidschaner drei Tage lang aus Rache für das Massaker von 1918 in der Stadt austoben, während Türken und Deutsche von außerhalb der Stadt zuschauten. "Man rächte sich gründlich und nach allen Regeln der Vergeltung. Zum Grundsatz wurde die Parole erwählt, für einen Mohammedaner zwei Armenier, und zwar unter Berücksichtigung der Klassenzugehörigkeit der Armenieropfer. Für einen mohammedanischen Arzt wurden nun zwei armenische Ärzte getötet, für einen mohammedanischen Rechtsanwalt zwei armenische Rechtsanwälte und so weiter (...)."

Unter sowjetischer Herrschaft schwelte der Konflikt weiter, kam aber unter dem Deckel einer weit überlegenen Militärmacht zunächst nicht zum Ausbruch. Nach dem Pogrom von Sumgait 1988 brachen dann allerdings alle Dämme. Die Zentralmacht in Moskau hatte schon nicht mehr die Kraft, die angestaute Wut auf beiden Seiten einzudämmen. Im Sommer des gleichen Jahres erklärten die noch existierende kommunistische Parteiführung von Berg-Karabach und die dortige Verwaltung den Anschluss an Armenien. Moskau unterstellte Karabach seiner direkten Verwaltung, was am Ort keine Folgen mehr hatte: Karabach und Armenien erklärten im Dezember 1989 ihre Vereinigung. Daraufhin brachen in Aserbaidschan erneut anti-armenische Pogrome aus. Moskau versuchte 1990 mit der Entsendung von Truppen nach Baku einzugreifen, verschärfte die Lage damit jedoch zusätzlich. Ein blutiger Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Gebirgsregion forderte bis zum Waffenstillstand von 1994 auf beiden Seiten bis zu 50.000 Tote. Fast 800.000 Aserbaidschaner und rund 300.000 Armenier wurden zu Flüchtlingen.

In dieser militärischen Auseinandersetzung konnten sich die paramilitärischen Einheiten von Berg-Karabach gegenüber der regulären, aber schlecht ausgerüsteten und unzureichend ausgebildeten aserbaidschanischen Armee auch deshalb durchsetzen, weil sie unterstützt wurden von den verbliebenen armenischen Bruchstücken der sowjetischen Armee und russischen Einheiten. Die Armenier eroberten zunächst einen direkten Zugang zu Karabach, den sie später erweiterten. Heute haben sie rund 20 Prozent des aserbaidschanischen Territoriums okkupiert. Im offiziell zu Aserbaidschan gehörenden Berg-Karabach leben heute etwa 145.000 Einwohner mit eigener Regierung und Verfassung, die meisten sind Armenier. Die ehemals dort siedelnden Aserbaidschaner wurden vertrieben. Die sogenannte Republik Berg-Karabach ist international nicht anerkannt.

Die Regierung in Baku verlangt Karabach nebst den angrenzenden, von Armenien besetzten Regionen wieder zurück. Sie beruft sich dabei auf das völkerrechtliche Prinzip der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität und wird dabei von internationalen Gremien unterstützt. Der UN-Sicherheitsrat verabschiedete 1993 vier Resolutionen zur Berg-Karabach-Frage, die ebenfalls den Abzug der armenischen Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Bezirken forderten. Am 14. März 2008 verabschiedete die UN-Vollversammlung mit 39 Stimmen, bei sieben Gegenstimmen und 100 Enthaltungen, noch einmal eine Resolution zum Konflikt um Berg-Karabach, in der sie von Armenien erneut einen "sofortigen und vollständigen Abzug der Truppen aus den besetzten aserbaidschanischen Gebieten" forderte.

Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew reichte das nicht, er wollte Taten sehen und gefiel sich in gelegentlichen militärischen Drohgebärden. Unmittelbar vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten im Oktober 2008 hatte er noch einmal in markigen Worten klar gemacht, dass er die Abtrennung von Berg-Karabach auf keinen Fall hinnehmen werde. Er kündigte einen "totalen Angriff auf Armenien" auf allen Ebenen an - diplomatisch, politisch, ökonomisch, propagandistisch und militärisch. 4,5 Milliarden US-Dollar hat Alijew in den fünf Jahren seiner Amtszeit für die Rüstung ausgegeben. Er versprach, dass die Ausgaben für das Militär auch in den kommenden Jahren die anderen Etatposten übersteigen würden.

Schock des Georgien-Krieges

Das war allerdings zunächst nicht mehr als Theaterdonner. Der Krieg um Südossetien vom August 2008 hat die Regierungen in Baku und Eriwan aufgeschreckt. Vor allem in Aserbaidschan geht die Furcht um, ähnliches - ein Krieg mit nachfolgender Anerkennung der Souveränität der Separatisten durch Russland - könnte sich möglicherweise in Berg-Karabach wiederholen. Das wollen die Aserbaidschaner auf keinen Fall, womit die militärische Option zur Rückgewinnung ihrer Gebiete weitgehend unwahrscheinlich geworden ist. Das Risiko, alles zu verlieren, ist nach den Erfahrungen der Georgier zu groß.

Im Herbst 2008 ergriff der russische Präsident Dimitri Medwedjew die Initiative und lud die Staatschefs beider Länder, Ilham Alijew und Sersch Sarkisjan, nach Moskau ein. Nach dem Krieg mit Georgien und der einseitigen Anerkennung der Separatistenregimes von Abchasien und Südossetien als unabhängige Staaten, was außer Nikaragua kein anderer Staat der Welt nachvollziehen wollte, sah Moskau Handlungsbedarf. Es wollte sich nun in der Rolle des Friedensstifters und Krisenmanagers präsentieren, der eingefrorene Konflikte elegant und waffenfrei zu lösen vermag. Dagegen wäre letztlich, so es gelingt, nichts einzuwenden. Nur hat Russland schon in der Abchasien- und der Südossetien-Frage einseitig Position gegen Georgien bezogen und die "eingefrorenen Konflikte" benutzt, um Druck auf Tbilissi auszuüben. Im Karabach-Konflikt steht Russland hinter Armenien, das sich mit seinen beschränkten Ressourcen die Besetzung fremder Gebiete ohne russische Rückendeckung gar nicht hätte leisten können. Die Rolle des neutralen Vermittlers für Moskau erscheint deshalb zumindest zweifelhaft.

Dennoch reisten beide Präsidenten Anfang November 2008 in die russische Hauptstadt. Im frisch restaurierten Schloss Meiendorf am Stadtrand von Moskau präsentierten sie eine Deklaration der drei Staaten, in der sie sich zur Regulierung des Karabach-Konflikts mit politischen Mitteln verpflichteten. Der "direkte Dialog zwischen Aserbaidschan und Armenien unter Vermittlung Russlands, der USA und Frankreichs als Co-Vorsitzende der Minsker Gruppe der OSZE" solle auf der Grundlage des Völkerrechts fortgesetzt werden. Auf diese Weise wolle man günstige Bedingungen für "die wirtschaftliche Entwicklung und die allseitige Zusammenarbeit in der Region" schaffen. Die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens verpflichten sich in dem Dokument, ihre Bemühungen in dieser Richtung fortzusetzen, unter anderem auch durch Kontakte auf höchster Ebene.

Diese Vereinbarung war bewusst so allgemein und letztlich nichtssagend gehalten, damit sie auch die Staatschefs der tief zerstrittenen Länder Aserbaidschan und Armenien unterzeichnen konnten. Der ursprüngliche Standpunkt Armeniens - Selbstbestimmung für Karabach und die aserbaidschanische Forderung nach Rückgabe der geraubten Territorien - blieben auch nach Verabschiedung der Deklaration von Schloss Meiendorf unverändert. "Es gibt im Moment, objektiv betrachtet, keine Lösung des Konflikts, die für alle Seiten zufriedenstellend sein würde", analysierte Alexej Malaschenko, ein ausgezeichneter Kenner der kaukasischen Verhältnisse vom Moskauer Carnegie-Zentrum. "Deswegen ist es so wichtig, sich regelmäßig zu treffen und in aller Ruhe nichtssagende Papiere zu unterschreiben, denn dies erzeugt die wohltuende Illusion, der Konflikt werde doch irgendwie gelöst."

Brandgeruch über dem Nordkaukasus

Brandgeruch, den manch einer schon vergessen glaubte, liegt auch im Nordkaukasus wieder in der Luft. Die Einwohner der zu Russland gehörenden autonomen Republik Inguschetien fordern vom Nachbarn Nordossetien den Prigorodny Rayon zurück. Im Dezember 2008 wandten sich die Vertreter von elf inguschetischen gesellschaftlichen Organisationen mit dem Aufruf an ihren Präsidenten Junus-Bek Jewkurow, er möge das umstrittene Gebiet, das die Inguschen während ihrer Deportation nach Mittelasien verloren hatten, wieder unter die inguschetische Verwaltung zurückführen. "Das Land unserer Vorfahren ist heilig!" erklärten sie in der für die kaukasischen Völker so charakteristischen blumigen Sprache. Sie sahen den "Augenblick der Wahrheit" gekommen, "der zeigt, wer wir sind: Ein Volk mit dem Bewusstsein seiner eigenen nationalen Würde, seiner Ehre, seinem Stolz, das fähig ist, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, oder eine graue und prinzipienlose Masse, der alle diese Qualitäten würdevoller Menschen abgehen". Vom föderalen Zentrum, von Moskau also, erwarten diese Inguschen bereits keine Hilfe mehr. Sie sehen sich vor die "harte Notwendigkeit" gestellt, eine eigene Wahl zu treffen, denn: "Die historische Heimat der Inguschen kann unter keinen Umständen zum Gegenstand eines Handels, der Spekulation, des Zurückweichens sein."

Der Hinweis auf die "historische Heimat" birgt einige Brisanz. Denn die Inguschen lebten in den vergangenen Jahrhunderten auch in Gebieten, die heute zum Teil zu Tschetschenien, vor allem aber zu Nordossetien gehören. Die heutige nordossetische Hauptstadt Wladikawkas wurde 1924 im Zusammenhang mit der Gründung des Inguschetischen Autonomen Kreises sogar zunächst zu dessen administrativem Zentrum. 1934 verfügte Stalin den Zusammenschluss der Inguschen und Tschetschenen im Tschetscheno-Inguschetischen Autonomen Kreis, der 1936 in die Tschetscheno-Inguschetische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt wurde.

Eine der finstersten Stunden schlug den Inguschen und Tschetschenen, die beide unter dem Oberbegriff Wainachen zusammengefasst werden, als Stalin sie 1944 zu Hunderttausenden nach Mittelasien und Kasachstan deportieren ließ und ihre Republik aufgelöst wurde. Zur Begründung führten die Machthaber in Moskau an, Inguschen und Tschetschenen hätten mit den deutschen Truppen kollaboriert. Zwar war dieser Vorwurf in Einzelfällen berechtigt, denn manch ein Kaukasier hegte damals die illusorische Hoffnung, die Bergvölker könnten sich mit Hilfe der Hitlerarmee von der Herrschaft Moskaus befreien. Aber natürlich rechtfertigte dies in keiner Weise die kollektive Abstrafung ganzer Völker, zumal die Deportation und die an den Verbannungsorten herrschenden unmenschlichen Lebensbedingungen so viele Opfer forderten, dass Tschetschenen und Inguschen dem Aussterben nahe waren. Erst 1957, vier Jahre nach Stalins Tod, wurden sie rehabilitiert. Die Tschetscheno-Inguschetische Republik wurde wiederhergestellt und die Vertriebenen durften in ihre Heimat zurückkehren. Doch gab es eine entscheidende Änderung: Der Prigorodny Rayon, der etwa die Hälfte des inguschetischen Siedlungsgebiets ausmachte, verblieb dank der Unterstützung aus Moskau bei Nordossetien.

Konflikt zwischen Inguschen und Osseten

Damit entstand ein Unruheherd, der bis heute wie eine Zeitbombe wirkt. Zwar zogen die Inguschen nach ihrer Rückkehr aus der kollektiven Verbannung auch wieder in den von Nordosseten beherrschten Teil ihrer Heimat. Sie bauten die zerstörten Häuser wieder auf oder kauften den Osseten die Häuser wieder ab, die früher in inguschetischem Besitz waren. Aber wegen dieser als zutiefst ungerecht empfundenen Situation, wegen der ossetischen Verwaltung und des ossetisch geprägten Bildungssystems baute sich im Laufe der Jahre großes Konfliktpotential auf. Die Eskalation folgte kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Am 31. Oktober 1992 brach der Konflikt um den Rayon Prigorodny offen aus. 12.000 russische Soldaten stellten sich auf die Seite der Osseten, 600 Menschen starben auf beiden Seiten. Die Inguschen wurden aufgrund der Übermacht geschlagen, 30.000 Menschen mussten erneut ihre Häuser verlassen und ins inguschetische Kernland fliehen.

Ihre Ansprüche haben die Inguschen deshalb noch lange nicht aufgegeben. Das Problem gewann zusätzlich an Brisanz, nachdem Russland im August 2008 Abchasien und Südossetien als unabhängig anerkannte. Das oppositionelle "Volksparlament Inguschetiens" begann umgehend mit einer Unterschriftensammlung. Nach dem Krieg in Georgien und dem gewaltsamen Tod Magomed Jewlojews, eines oppositionellen Unternehmers, wollten seine Mitglieder auf diese Weise den Austritt ihres Landes aus der Russischen Föderation erzwingen. Sie verwiesen darauf, dass Russland ja schließlich auch die Unabhängigkeit der Abchasen und Südosseten anerkannt habe und leiteten daraus ihr eigenes Recht auf einen souveränen Staat ab. Die russische Verfassung sieht allerdings kein Austrittsrecht für seine Regionen vor. Als die Tschetschenen es in den 1990er Jahren dennoch versuchten, überzog Moskau sie mit zwei vernichtenden Kriegen.

Unstimmigkeiten gibt es inzwischen auch mit dem Brudervolk der Tschetschenen. Dort wird immer offener der Gedanke einer Wiedervereinigung beider Republiken vorgetragen, was die Inguschen aber ablehnen. Man wolle ja das Recht der Inguschen auf ihre eigene Souveränität nicht schmälern, doch ein Zusammengehen würde der Stabilisierung im Nordkaukasus dienen, heißt es aus inoffiziellen Quellen in Grosny. Wobei hier natürlich die Stabilität gemeint ist, die ein von Moskau eingesetzter tschetschenischer Präsident Ramsan Kadyrow mit seiner brutalen, bis an die Zähne bewaffneten Garde zu bieten in der Lage ist.

Im April 2006 ging der damalige Sprecher des tschetschenischen Parlaments noch weiter. Dukuwacha Abdurachmanow schlug einen Zusammenschluss der drei nordkaukasischen Republiken Tschetschenien, Inguschetien und Dagestan vor. Er griff damit teilweise die Idee des im gleichen Jahr in Inguschetien getöteten tschetschenischen Feldkommandeurs Schamil Bassajew auf. Bassajew hatte einen von Russland unabhängigen Staat im Nordkaukasus schaffen wollen, allerdings unter islamischen Vorzeichen. Magomedsalam Magomedow, damals noch Präsident in Dagestan, dem diese Idee überhaupt nicht gefiel, verwies darauf, dass ein solcher Zusammenschluss nur über ein Referendum realisierbar wäre und sich die Mehrheit der Dagestaner in einer solchen Volksabstimmung ganz sicher gegen einen Zusammenschluss aussprechen würde. Ramsan Kadyrow, der aufmerksam auf die Stimmung in Moskau achtet, die ebenfalls gegen einen Zusammenschluss ist, lehnte diese Idee im Oktober vergangenen Jahres ebenfalls ab. Es fiel jedoch auf, dass auf der offiziellen Website der Regierung in Grosny im Dezember ein Aufruf aus dem Büro des tschetschenischen Menschenrechtsbeauftragten Nurdi Nuchaschijew veröffentlich wurde, der sich genau dafür einsetzte. Nuchaschijew gilt als enger Vertrauter Kadyrows. In dem Aufruf wird auf die zahlreichen Gemeinsamkeiten beider "brüderlicher Völker" verwiesen.

Zweifelhafte Stabilität in Tschetschenien

Zwar preist Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow die vermeintliche Stabilität in seinem Lande als vorbildlich und exportwürdig an, aber mit der Realität stimmt das nicht überein. Allein im Oktober 2008 starben in Tschetschenien zehn Vertreter der Staatsmacht beziehungsweise Angehörige von Miliz und Militär. Im gesamten Nordkaukasus wurden im selben Monat 25 Terroranschläge verübt, bei denen mindestens 40 Militärs der Innentruppen und der Rechtsschutzorgane starben. Zum Vergleich: Den Kämpfen in Südossetien fielen 66 Militärangehörige zum Opfer. Nicht nur in Tschetschenien, auch in Inguschetien, in Dagestan, Kabardino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien gärt es unter der Oberfläche. Überfälle und Mordanschläge gehören dort ebenfalls zur Tagesordnung. Zielobjekte sind in der Regel Beamte der russischen Regionalbehörden oder Landsleute, die für die russischen Behörden und Rechtsschutzorgane arbeiten.

Mamuka Areschidse vom Kaukasus-Institut für strategische Studien bringt das unter anderem mit einer neuen muslimischen fundamentalistischen Organisation in Verbindung, dem so genannten Kaukasischen Emirat, auf Tschetschenisch Imarat, das seit Oktober 2007 existiert. Der ehemalige tschetschenische Rebellen-Präsident Doku Umarow - vom Nationalisten zum Islamisten gewandelt - hat diese quasi-staatliche Struktur ins Leben gerufen. "Ein großer Teil derer, die noch mit der Waffe in der Hand gegen die föderalen Truppen und die Moskau gegenüber loyalen Machthaber kämpfen, ließen sich auf Doku Umarow einschwören."

Der Regierungschef der Rebellen, Achmed Sakajew, den Umarow für entlassen erklärt hatte, protestierte umgehend in seinem Londoner Exil gegen die Spaltung der Rebellenbewegung im Nordkaukasus. Das führte zu einer sonderbaren Wendung in der undurchsichtigen Gemengelage. Kadyrow, der Sakajew bislang bekämpft hatte, beginnt den Exilanten zu umwerben. Denn nun haben er und Sakajew mit Umarow einen gemeinsamen Feind. Das macht aus dem eben noch Verfemten einen Bundesgenossen. Es ist bisweilen sogar die Rede von Sakajews Rückkehr nach Tschetschenien, was in Moskau ganz und gar nicht gern gesehen wird. Die russische Generalstaatsanwaltschaft hält mehrere Klagen gegen ihn bereit, darunter wegen Mordes, bewaffneten Aufstands und Terrorismus, und drängt die britischen Behörden seit Jahren vergeblich, Sakajew nach Russland auszuliefern.

In dieser Situation wirkt der Alleingang der Kadyrow-Mannschaft wie eine demonstrative Insubordination. Man betrachte Sakajew nicht als Helfershelfer der Bojewiki in den Bergen, auch lehne dieser terroristische Methoden ab und habe sich keiner schweren Verbrechen schuldig gemacht, betonte Lema Gudajew, ein hochrangiger Mitarbeiter in der Administration von Kadyrow. Noch ist unklar, was Kadyrow mit dieser Herausforderung seiner Moskauer Gönner bezweckt. Tatsache ist allerdings, dass der vom damaligen Präsidenten Wladimir Putin protegierte Tschetschene inzwischen über ein Maß an Eigenständigkeit und Bewegungsfreiheit verfügt, wie kein anderer der Moskauer Statthalter im nördlichen Kaukasus bisher. In Moskau fragt man sich inzwischen besorgt, ob Kadyrow seine wachsende Macht auf Dauer tatsächlich im Interesse Moskaus einsetzen wird, oder ob er die Fäden zur Zentrale nach und nach kappt.

Zu den Unsicherheiten, die Kadyrows Alleingänge auslösen, kommen aktuell noch die wachsenden Probleme der um sich greifenden Wirtschaftskrise hinzu. Moskau konnte den wachsenden Unmut der islamisch geprägten Nordkaukasier in jüngster Zeit vor allem deshalb kanalisieren, weil genügend Geld vorhanden war, um die örtlichen Eliten ruhig zu stellen. Jetzt geht die Sorge um, das wirtschaftliche Probleme zu sozialen Unruhen führen könnten. In bekannter Manier werden schon jetzt "extremistische Gruppierungen" für mögliche Protestaktionen verantwortlich gemacht. Nikolaj Fedorjak, der stellvertretende Bevollmächtigte des russischen Präsidenten im Föderalbezirk Süd, warnte davor, dass "politische Gruppierungen" den Mord am Bürgermeister von Wladikawkas zu politischen Zwecken ausnutzen könnten.

FSB wittert Spione

Alexander Bortnikow, der Chef des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, will bereits ausländische Spione ausgemacht haben, die sich in die Regionalwahlen in Russlands Süden einmischen wollen. Tatsächlich werden diese Wahlen eher beeinflusst vom Unmut der Bevölkerung über die Folgen der Krise und durch ungelöste nationale Konflikte. So verlangen die in Karatschajewo-Tscherkessien lebenden 32.000 Abassiner einen eigenen Rayon mit autonomen Rechten. Die Adigej, wie die Tscherkessen sich selbst nennen, die durch die Willkür der Stalin'schen Grenzziehungen im Nordkaukasus auseinander gerissen wurden, wollen sich zusammenschließen. Gegenwärtig leben sie vorwiegend in Karatschajewo-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien und in der Republik Adigeja. Im Internet findet zur Zeit eine intensive Diskussion darüber statt, ob und wie die versprengten Bruchstücke künftig wieder zu einem einheitlichen Staat der Adigej zusammengefügt werden können. Differenzen mit den anderen in der Region lebenden Völkerschaften wären die Folge.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. in: Regnum vom 12. 4. 2005, in: www.regnum. ru/news/437271.html (1. 2. 2009).

  2. Essad Bey, Öl und Blut im Orient. Meine Kindheit in Baku und meine haarsträubende Flucht durch den Kaukasus, Freiburg/Br. 2008, erste Aufl. Stuttgart 1929, S. 206ff.

  3. Vgl. Chiari, Bernhard (Hrsg.), Kaukasus, Paderborn u.a. 2008, S. 97 - 98.

  4. Vgl. RIA Novosti vom 15. 3. 2008.

  5. Vgl. Interfax Aserbaidschan vom 15. 10. 2008.

  6. Deklaration vom 2. 11. 2008, in: www.kremlin.ru/text/docs/2008/11/
    208670.shtml (1. 2. 2009).

  7. Zit. in: RBK Daily vom 5. 11. 2008.

  8. Zit. in: Caucasian Knot, in: www.kavkaz-uzel.ru/articles/145529 (1. 2. 2009).

  9. Vgl. Narody Rossii. Enziklopedija, Moskwa 1994, S. 162.

  10. Vgl. RIA Novosti vom 28. 10. 2006.

  11. Vgl. Manfred Quiring, Pulverfass Kaukasus, Berlin 2009, S. 149.

  12. Vgl. Liz Fuller, Kommentar für Radio Free Europe vom 19. 12. 2008, in: www.rferl.org/content/chech nya_ingushetia _ at _ odds _ over_border_delimitation/1361549.html (1. 2. 2009).

  13. Vgl. www.chechnya.gov.ru (1. 2. 2009).

  14. Vgl. M. Quiring (Anm. 11), S. 104.

  15. Wremja Nowostej vom 30. 1. 2009.

  16. Vgl. ebd.

  17. Zit. in: Severnij Kavkas, Januar 2009, Nr. 4, in: www.sknews.ru/rubriki/politics/16671-jekstremisty-tozhe-gotovjatsja-k-vyboram.html (1. 2. 2009).

Geb. 1948; Korrespondent in Moskau, in den 1980er und 1990er Jahren für die "Berliner Zeitung", heute für "Die Welt".
E-Mail: E-Mail Link: mquring@co.ru