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Korruption: Spiegel der politischen Kultur - Essay | Korruption | bpb.de

Korruption Editorial Korruption: Spiegel der politischen Kultur - Essay Kapitulation vor der Korruption? Deutsche Ansichten zur Korruption Korruption als Wachstumsbremse Der korrupte Akteur Lobbyismus in Deutschland

Korruption: Spiegel der politischen Kultur - Essay

Hans Leyendecker

/ 8 Minuten zu lesen

Bis Mitte der 1990er Jahre konnten Schmiergelder als "nützliche Aufwendungen" von der Steuer abgesetzt werden. Doch die Heimsuchungen der Staatsmacht in den Vorstandsetagen großer Unternehmen signalisieren einen justizpolitischen Wandel.

Einleitung

Das Wort "corruptio" war in der katholischen Kirche und vor allem in den Bekenntnisschriften der Reformation der Begriff für Erbsünde. "Meyers Neues Lexikon" prangert sie als Synonym für den allgemeinen moralischen Verfall an; bei der umlaufenden Diskussion wird sie häufig mit Schmutz, Fäulnis und Verdorbenheit der Sitten gleichgesetzt. Die kriminologische Forschung definiert Korruption als "Missbrauch eines öffentlichen Amtes, einer Funktion in der Wirtschaft oder eines politischen Mandats - zugunsten eines anderen, auf dessen Veranlassung oder aus Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder für einen Dritten".



Korrupt sind alle, die sich auf Kosten des Gemeinwohls eigene Vorteile verschaffen; bestechlich ist auch derjenige, der beispielsweise seine akademische Karriere vorwärtsbringt, indem er gegen die eigene Überzeugung die wissenschaftliche Meinung derjenigen stützt, welche die Fäden seiner Karriere in der Hand halten. Korruption führt nach Meinung des Soziologen Karl Rennstich unweigerlich "zu einer Verletzung der Norm, der Pflicht und der Wohlfahrt". Sie sei "begleitet, von Geheimnistuerei, Verrat und Betrug und hat als ein besonderes Kennzeichen die unempfindliche, abgestumpfte, zynische Missachtung und Geringschätzung der Folgen für die Gesellschaft, ja für die Öffentlichkeit allgemein".

Eine der wichtigsten Definitionen stammt von dem Amerikaner Joseph S. Nye. In einem 1978 erschienenen Aufsatz mit dem Titel "Corruption and Political Development" beschrieb er Korruption als ein "Verhalten, das von den normalen Pflichten einer öffentlichen Rolle aus Gründen privater Interessen (Familie, enge private Cliquenbildung) oder um eines Geld- oder Statusgewinns willen abweicht oder das Regeln zugunsten der Anwendung unterschiedlicher Typen von privat verpflichtetem Einfluss bricht".

Alle unterschiedlichen Erläuterungen bündeln sich in einem Punkt: Geber und Nehmer nehmen den Eintritt eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit oder für ein Unternehmen wegen des eigenen Vorteils in Kauf.

Der Fall Siemens

Das Ausmaß der Korruption im Lande wurde einem staunenden Publikum durch den Siemens-Skandal bewusst: Eine Schmiergeldaffäre mit problematischen Zahlungen in Höhe von mindestens 1,3 Milliarden Euro hat es in dieser Republik noch nie gegeben und die Konsequenzen sind einmalig: Ein Siemens-Zentralvorstand saß tagelang in Untersuchungshaft, der Vorstand wurde völlig umgebaut. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer, vormals auch "Mr. Siemens" genannt, wurde im Unternehmen zur Unperson. An frühere Spitzenmanager wurden hohe Schadensersatzforderungen gestellt. Siemens drohen Strafzahlungen in beträchtlicher Milliardenhöhe.

Der Fall zeigt, dass mit unsauberen Geschäften (auf lange Zeit jedenfalls) kein Geld gewonnen, sondern viel Geld verloren wird. Wer langfristig Geschäfte machen will, kann sich Bestechung schon wegen der drohenden Sanktionen nicht mehr leisten. Die Regelverstöße zahlen sich auch deshalb am Ende nicht aus, weil sie das Image, die Reputation eines Unternehmens zerstören. Amerikanische Anwälte durchforsten den Konzern, der in seiner 160-jährigen Geschichte eine solche Krise noch nicht erlebt hat. Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen rund 300 Beschuldigte. Einen eigenen Straftatbestand "Korruption" gibt es allerdings nicht.

Verspätete Gesetzgebung

In den Paragrafen 331 bis 335 des Strafgesetzbuches wird festgehalten, wo die Verletzung der politischen Moral strafbar wird und verfolgt werden muss. Sie beschäftigen sich mit der "Vorteilsannahme" beziehungsweise "Vorteilsgewährung", sozusagen einer dezenten Form der Bestechung. Von der Bestechlichkeit trennt denjenigen, der einen Vorteil nach Paragraf 331 annimmt, ein einziges Detail: Seine Diensthandlung, für die ihm ein Vorteil gewährt wird, ist an und für sich pflichtgemäß. Um den Tatbestand der Bestechlichkeit zu erfüllen, muss eine "Unrechtsvereinbarung" hinzukommen. Die Übereinkunft, für amtliche Tätigkeiten Vorteile zu geben und zu nehmen, kann dabei gewissermaßen im Geiste stattfinden. Sie muss keineswegs ausdrücklich erklärt sein. Auf besonders schwere Fälle der Bestechlichkeit und Bestechung reagiert seit 1997 der neu gefasste Paragraf 335. In Verbindung mit den Paragrafen 332 und 334 erweitert er den Strafrahmen auf bis zu zehn Jahre Freiheitsentzug. Bestraft wird sowohl derjenige, der besticht, als auch der, der sich bestechen lässt.

Die Verschärfung der Gesetze ließ lange auf sich warten. Bis Mitte der 1990er Jahre konnten in Deutschland Bestechungszahlungen, ganz gleich, ob sie im In- oder im Ausland getätigt worden waren, sogar als "nützliche Aufwendungen" von der Steuer abgesetzt werden. Den Finanzbehörden war es untersagt, Informationen über Bestechungsdelikte an die Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten. Mit dem Jahressteuergesetz 1996 wurde zwar die steuerliche Absetzbarkeit von Betriebsausgaben für Bestechung aufgehoben, wenn in der Sache ein Bußgeld verhängt oder eine rechtskräftige strafrechtliche Verurteilung erfolgt war. In der Praxis hatte dieses Gesetz jedoch keine Konsequenzen.

Verbandsvertreter der deutschen Wirtschaft legten sich sogar noch quer, als im selben Jahr die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) drängte, zumindest die steuerliche Abzugsfähigkeit von Gaben an ausländische Amtsträger zu streichen. Erst 1999 wurden die schmutzigen Steuererleichterungen im Zusammenhang mit dem Erlass des Gesetzes zur Bekämpfung internationaler Bestechung gestrichen. Im selben Jahr wurde die Bestechung ausländischer Amtsträger unter Strafe gestellt. Mit ausschlaggebend war dafür der zunehmende Druck aus den USA. Denn bereits 1977 wurde in den Vereinigten Staaten durch den Foreign Corrupt Practices Act die Bestechung staatlicher Entscheidungsträger im Ausland unter Strafe gestellt. Amerikanische Unternehmen hatten (aus ihrer Sicht) fortan den Nachteil, dass sie beim Wettbewerb um Aufträge, anders als ihre Konkurrenten in Deutschland, Beschränkungen unterlagen.

Das Vorgehen der zumeist durch die US-Administration unterstützten amerikanischen Konzerne im internationalen Wettbewerb ist ein weites Feld, aber die herkömmliche Korruption, die im Siemens-Fall aufgedeckt wurde, wird von amerikanischen Unternehmen selten praktiziert. Das Interesse der Vereinigten Staaten, die eigenen Nachteile abzubauen und die Belange der amerikanischen Unternehmen zu schützen, führt auf lange Sicht zu einer Amerikanisierung des Wirtschaftsrechts und zur Änderung der Spielregeln.

Das Feindbild Korruption

Allerdings ist der Korruption, wie sie in dieser Themenausgabe intensiv beschrieben wird, durch strafrechtliche Konsequenzen allein nie beizukommen gewesen. Auch drakonische Strafen haben sie nicht verhindert, künden heute aber davon, welche Spielarten einer Gesellschaft als besonders verwerflich galten.

In Ägypten zum Beispiel mussten Priester um das Jahr 1300 vor Christus die Todesstrafe gewärtigen, wenn sie sich in Ausübung ihres Richteramtes bestechen ließen. Der Rat der Stadt Basel verlangte 1372 nach Christus jedem seiner Mitglieder einen Schwur zu den Heiligen ab, von niemandem kompromittierende Gaben anzunehmen. Wer den Schwur brach, wurde ein Jahr aus der Stadt verbannt und lebenslang von allen Ämtern ausgeschlossen. Später wurde die Verbannungsstrafe auf fünf Jahre erhöht. Dennoch kam es immer wieder vor, dass Ratsmitglieder in Streitfällen Geschenke annahmen, von städtischen Gefangenen Geld erpressten und bei der Bestellung städtischer Ämter die Hand aufhielten. Im Mittelalter wurden der Augsburger und der Zürcher Bürgermeister wegen Korruption hingerichtet. 1513 gab es wegen der damals üblichen Durchstechereien einen Aufstand am Oberrhein. Ein Ratsherr wurde gelyncht. Etwa zur selben Zeit schrieb Erasmus von Rotterdam, den man einen Humanisten nannte und nennt: "Stiehlt einer ein Geldstück, dann hängt man ihn. Wer öffentliche Gelder unterschlägt, wer durch Monopole, Wucher und tausenderlei Machenschaften und Betrügereien noch so viel zusammenstiehlt, wird unter die vornehmen Leute gerechnet".

Immer wieder hat es das Feindbild einer totalen, absoluten Bedrohung durch Korruption gegeben und ebenso oft gab es Entwarnungen oder Relativierungen. Die Korruptionsmuster unserer Tage waren in der Nachkriegsrepublik schon früh angelegt. 1949 soll bei der Abstimmung, ob Bonn oder Frankfurt Regierungssitz werden sollte, kräftig geschmiert worden sein. So soll etlichen Bundestagsabgeordneten, insbesondere von der Bayernpartei, die ursprünglich für Frankfurt votieren wollten, Gelder für eine Stimmabgabe zugunsten Bonns übergeben worden sein. Der erste Kanzler der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, wollte unbedingt das nahe seinem Wohnsitz Rhöndorf gelegene Bonn zur Hauptstadt machen.

Ein Lehrstück in Sachen politischer Kultur war die Flick-Affäre, die in den 1980er Jahren die Republik erschütterte. Der gleichnamige Konzern hatte die Republik inventarisiert, um einen Steuervorteil von umgerechnet einer knappen halben Milliarde Euro zu erhalten. Es kam heraus, dass Geld eingesetzt worden war, um den wirtschaftspolitischen Kurs von Unionspolitikern und FDP zu beeinflussen, die Chancen von Linken in SPD und FDP zu neutralisieren, loyale Nachwuchspolitiker zu fördern und in innerparteiliche Flügelkämpfe zu intervenieren. Schwarze Kassen, Scheinberatungsverträge, direkte Alimentierung von Politikern sicherten kapitalkräftigen Finanziers meist sogar steuersparend politischen Einfluss. Gerade am Beispiel Flick fiel auf, dass es um systematische, flächendeckende Maßnahmen ging, bei denen die individuelle Korruptionsbereitschaft nur ein Randaspekt war. Politische Korruption erwies sich als Teil der gesellschaftlichen Normalverfassung.

Die Flick-Affäre machte auch auf ein Geflecht illegaler Parteienfinanzierung von erheblichem Ausmaß aufmerksam. Die staatstragenden Parteien hatten am Staat vorbei Gelder in dreistelliger Millionenhöhe nach Liechtenstein auf die Konten angeblich gemeinnütziger Einrichtungen verschoben und als sie erwischt wurden, wollten sie in die Amnestie flüchten. Dies immerhin wurde dann durch die Medien verhindert.

Ein Gemeinwesen, in dem diejenigen, welche die Gesetze machen, diese nur als Richtschnur für die anderen betrachten, Staatsparteien ohne Staatsgefühl regieren, Zugriffsdenken an die Stelle politischer Verantwortung tritt, ist gemein, eigennützig. Der Parteispendenfall der 1980er Jahre hatte, wie das Publikum dank der Ende 1999 publik gewordenen Affäre des Altkanzlers Helmut Kohl erfuhr, nicht einmal die fragwürdige heilsame Wirkung von Umweltkatastrophen, die benötigt werden, damit wenigstens ein bisschen was passiert. Die Parteispendenskandale lösten allerdings immer wieder einen beachtlichen rhetorischen Rigorismus aus. Die Herrschenden, hieß es oft, seien "Abzocker", "Absahner" und auch deshalb unfähig zur Reform.

Neue Sensibilität

Eigenartig an der gegenwärtigen Entwicklung ist, dass die Sensibilität gegenüber vielen Erscheinungsformen des Unrechts zugenommen hat und dass gleichzeitig Gier und Egoismus mitgewachsen sind. Die Gießener Wissenschaftlerin Britta Bannenberg hat vor einigen Jahren mehr als hundert einschlägige Strafverfahren ausgewertet und dann eine Art Typologie der Korruption verfasst. Danach unterscheiden sich Geber und Nehmer in einem geringeren Maße, als es vermutet wird. "Beide Seiten" seien "ehrgeizig, berufsorientiert", hätten "grundsätzlich legale Wertvorstellungen" und wollten dennoch illegal abkassieren. Viele hätten das Bestechungsgeld und die teuren Einladungen als Ausgleich für eine Leistung empfunden, die ihnen nicht ausreichend entgolten worden sei.

Die nach Branchen geordnete Hierarchie des Abkassierens ist immer noch ein weißer Fleck; die wichtigsten Branchen sind: das Speditionswesen, die Abfallwirtschaft, die Immobilienbranche, die pharmazeutische Industrie, medizintechnische Gerätehersteller. Anzunehmen ist, dass alles, was sich um Bau, Steine, Erden dreht, ebenfalls ganz vorne liegt. Wenn eine Behörde quasi als Monopolist darüber bestimmt, wer Straßen, U-Bahnen, Deponien bauen darf, ist die Korruption, wie Altlinke sagen würden, systemimmanent.

Korruption war früher oft risikolos, weil qualifizierte Kontrollen fehlten. Es mangelte nicht an Wirtschaftskriminellen, sondern an Wirtschaftskriminalisten. Das hat sich, ein wenig zumindest, geändert. Die Heimsuchungen der Staatsmacht in den Vorstandsetagen der Deutschen und der Dresdner Bank, bei Infineon, VW, Siemens, EADS signalisieren einen justizpolitischen Wandel.

Mittlerweile gibt es eine Menge kompetenter Strafverfolger wie auch der Fall der im Siemens-Komplex erfolgreich ermittelnden Staatsanwaltschaft München I zeigt. Die Anti-Korruptionsabteilung verfügt über 15 Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Auch Oligarchen besitzen keinen Sonderstatus mehr. Allerdings ist es schon aus statistischen Gründen sehr unwahrscheinlich, dass Wirtschaftsgrößen und auch die politische Klasse mit mehr Defekten belastet sind als die übrige Bevölkerung. Richtig ist vermutlich die These, die Herrschenden seien eine Art soziologisches Lackmuspapier. Das heißt, an ihrem Verhalten lassen sich die Auffälligkeiten einer Gesellschaft ablesen. Nicht mehr und nicht weniger.

Geb. 1949; seit 1997 leitender Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", vorher knapp zwei Jahrzehnte beim "Spiegel" (Enthüllung u. a. der Affären Flick, Lambsdorff, Späth, Schreiber und Kohl).