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Die Vermessung der Unabhängigkeit - Essay | Revolutionen in Lateinamerika | bpb.de

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Die Vermessung der Unabhängigkeit - Essay

Josef Oehrlein

/ 8 Minuten zu lesen

Seit dem Ende der Diktaturen erlebt Lateinamerika die bisher längste Phase relativer demokratischer Prosperität. Die scheinbar stabilen Demokratien geraten aber schon wieder in Gefahr.

Hay menos tiempo que lugar/no obstante hay lugares que duran un minuto y para cierto tiempo no ha lugar.

Mario Benedetti

Die Länder Lateinamerikas arbeiten sich seit zweihundert Jahren an einem Vorgang ab, der sich zeitlich und räumlich scheinbar präzise eingrenzen lässt. Tatsächlich ist es jedoch ein Prozess, der weder zu einem festen Zeitpunkt begonnen hat noch abgeschlossen ist, sich jedoch mancherorts und zu gewissen Zeiten auf engstem Raum verdichtet hat, um zugleich wieder in der Zeitlosigkeit zu zerfallen. Auch wenn derzeit fast überall Zweihundertjahrfeiern zur Unabhängigkeitserklärung der heutigen süd- und mittelamerikanischen Staaten zelebriert werden, kann kaum die Rede davon sein, dass die betreffenden Länder tatsächlich im Wortsinn unabhängig geworden sind.

Ausgerechnet Haiti war 1804 nach den Vereinigten Staaten das erste Land in der Region, das seine Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht erklärte. Es ist heute der unselbständigste, nach der Erdbebenkatastrophe vom Januar 2010 auch noch der im wahrsten Sinn hilfloseste Staat. Und die "Unabhängigkeitsfeiern" in Argentinien, die im Mai 2010 mit großem Aufwand und einer erbitterten Konkurrenz zwischen nationaler Regierung und der Hauptstadt Buenos Aires ausgetragen wurden, erinnern nur an ein einziges Ereignis - den Sturz des von Spanien eingesetzten Vizekönigs am 25. Mai 1810 - in einer ganzen Reihe von Vorgängen, die erst sechs Jahre später mit dem Zusammentreten des Kongresses von Tucumán zur Entstehung eines eigenständigen Staatsgebildes geführt haben.

Die deutschen Goethe-Institute in Lateinamerika haben sich gar nicht erst an der Zweihundertjahrfeierei beteiligt, sondern in einem ungewöhnlich angelegten künstlerischen Großprojekt versucht, Raum und Zeit der Unabhängigkeitswerdung der Länder Lateinamerikas auszuloten. Mit den Vermessungsarbeiten war Alfons Hug, der Leiter des Goethe-Instituts in Rio de Janeiro und zweimalige Kurator der Biennale in São Paulo, beauftragt worden. Er hatte die erste Zeile eines Gedichtes des uruguayischen Dichters und Schriftstellers Mario Benedetti (1920-2009), "Weniger Zeit als Raum", der in unterschiedlichen Darreichungen in nahezu allen wichtigen südamerikanischen Großstädten seit 2009 gezeigten Schau vorangestellt.

Nur die Kunst sei heute in der Lage, der Zeit Zuflucht zu bieten, meinte Hug, und deshalb hatte er zusammen mit seinen Institutsleiterkollegen deutsche und lateinamerikanische Künstler kreuz und quer durch die Region geschickt, um Messpunkte für den Unabhängigkeitsprozess zu erhalten. Es entstand ein virtuelles Labyrinth, in dem hinter der nächsten Ecke die Vergangenheit der Gegenwart auflauert und die Zukunft den Besucher mit Trugbildern foppt. Den Weg aus dem Labyrinth bot eine ins Nichts führende Himmelsleiter, die der kolumbianische Künstler Juan Fernando Herrán aus Abfallholz und aus einer argentinischen Metapher gebaut hatte: "Aus jedem Labyrinth entkommt man nach oben."

Das "Unabhängigkeits"-Projekt erbrachte ein Video-Panoptikum von alltäglichen grotesken Bildern, Szenen und Situationen aus dem heutigen Lateinamerika, die alles andere zeigen als eine schöne Welt aus vielen "unabhängigen" und doch gedeihlich miteinander zusammenlebenden Staaten. Die Argentinierin Leticia El Halli Obeid hatte sich ganz wörtlich auf die Zeitreise begeben, als sie eines der wichtigsten "Unabhängigkeits"-Dokumente, den berühmten "Brief aus Jamaica", den der Befreier Simon Bolívar 1815 im selbst gewählten Exil verfasste, in einem heruntergekommenen Vorortzug von Buenos Aires passagenweise abschrieb und dazu die Bilder von einem trostlosen Land vorüberziehen ließ: Elendsquartiere am zugemüllten Bahndamm, streunende Hunde, zu Ruinen verkommene Bahnhöfe. Das also war aus den Visionen Bolívars geworden!

Noch wagemutiger ging der Venezolaner Alexander Apostol mit dem Bolívar-Brief um. Er ließ das Dokument von Landsleuten im englischen Original in einem schäbigen Büroraum vorlesen. Der Text, der den Wunsch nach dem Aufbau einer einzigen großen lateinamerikanischen Nation in hehre Worte fasst, verlor jeden Sinn, weil die Vorleser ihn nicht verstanden. Drastischer lässt sich nicht darstellen, wie gerade in Venezuela, wo der frühere Oberstleutnant und heutige Präsident Hugo Chávez mit seiner "bolivarischen Revolution" einen ungehemmten Populismus und einen bizarren Revolutionskult inszeniert, der Name Bolívars inzwischen missdeutet und missbraucht wird.
Chávez versucht seit Jahren mit Eifer, Regierungen anderer Länder mit verbilligten Erdöllieferungen, dem Erwerb von Staatsanleihen und mit anderen "Freundschaftsgesten" regelrecht zu kaufen und sie ihrerseits von sich und seinem persönlichen "bolivarischen" Projekt abhängig zu machen. Auch die Revolution des selbsternannten Bolívar-Erben Chávez dürfte letztlich zum Scheitern verurteilt sein, weil er zwar vorgibt, Anwalt der Armen und Entrechteten zu sein, die Masse der in den Elendsvierteln lebenden Landsleute aber nur als Wahlvolk betrachtet, das seine Macht abzusichern hilft. Ihre Lebensbedingungen hat auch er bisher nicht entscheidend verbessert.

Die Unabhängigkeitsvermessung der Goethe-Institute brachte, wie kaum anders zu erwarten, nur bruchstückhafte Ergebnisse. Sie reichen aber aus für die Diagnose, dass Simon Bolívars Jamaika-Brief eine schöne Utopie geblieben ist - und ein bewegendes Dokument von literarischer Qualität. An die Stelle der Abhängigkeit von den früheren Kolonialmächten sind neue Abhängigkeiten getreten. Am deutlichsten wird das eben an dem Bolívar-Imitat Chávez: Auch wenn er, meist in unflätiger Weise, über das "Imperium" der USA wettert und die Loslösung vom übermächtigen Nachbarn im Norden propagiert - wirtschaftlich ist er von ihm abhängig geblieben. Das wird gerade dann deutlich, wenn er wieder einmal droht, die Erdöllieferungen in die USA einstellen zu wollen. Es ist eine leere Drohung, weil das venezolanische Erdöl wegen seiner besonderen Beschaffenheit praktisch nur in bestimmten Raffinerien in den Südstaaten Nordamerikas verarbeitet werden kann.

Außer Chávez attackiert bestenfalls sein gelehrigster Famulus, der bolivianische Präsident Evo Morales, auf ähnlich herausfordernde Weise die USA. Er ist andererseits aber pragmatisch genug, um da, wo vor allem wirtschaftliche Vorteile herauszuholen sind, doch wieder Kompromisse zu schließen und die Hand aufzuhalten. Das Verhältnis der lateinamerikanischen Staaten zu Nordamerika hat sich, möglicherweise angetrieben von Chávez' aggressivem Antiamerikanismus, aber auch unabhängig davon, in den vergangenen Jahren gewandelt. Von wenigen Ländern (wie etwa Kolumbien) abgesehen, wird Washington nirgendwo mehr als führende Macht in der Region respektiert. Die meisten Regierungen pflegen zwar artig die notwendigen Kontakte zum großen Bruder, sie umarmen ihn bisweilen auch, gehen aber zugleich, wo immer sich die Möglichkeit dazu bietet, auf Distanz zu ihm.
Der Unabhängigkeitsprozess hat in Lateinamerika einen bisweilen recht naiv anmutenden Nationalismus entstehen lassen, der die Eigenständigkeit der Staaten betont und Integrationsbestrebungen regelrecht entgegenwirkt. Das ist immer dann leicht zu erkennen, wenn sich Nachbarstaaten wegen minimaler Differenzen - etwa beim Streit über Zollabgaben für Autoteile oder Hühnerbeine - zusammenraufen müssen. Dann ist jeder sich selbst der Nächste. Wenn eine Regierung ohne vorherige Konsultationen etwas zum Nachteil oder gar Schaden eines anderen Landes beschlossen hat, so gilt das als "souveräne Entscheidung", in die der andere nicht hineinzureden hat.

Chávez betreibt gar ein Doppelspiel. Einerseits ist er schnell mit der Mutmaßung bei der Hand, die "Souveränität" und "Würde" seines Landes würden verletzt, wenn angeblich ausländische Kräfte seine "revolutionäre" Politik zu torpedieren trachten. Andererseits mischt er sich selbst unverfroren in die Entscheidungs- und vor allem Wahlprozesse anderer Länder ein, indem er etwa Präsidentschaftskandidaten, die ihm genehm sind, hofiert oder sogar offen Wahlpropaganda für sie betreibt. Für ihn ist das keine Einmischung, weil er sich selbst ja als Anführer einer länderübergreifenden revolutionären "bolivarischen" Bewegung sieht. Es hat immer wieder Versuche gegeben, die südamerikanischen Staaten zu einem Verbund zusammenzuschließen, der zumindest entfernt an das Modell der Europäischen Union erinnern sollte. Stets ist bei solchen Vorstößen von einer gemeinschaftlichen Währung, einem gemeinsamen Parlament und anderen ähnlich hoch gesteckten Zielen die Rede, doch spätestens wenn es wieder um Strafzölle oder die Verteidigung der nationalen Rohstoffreserven geht, sind alle guten Vorsätze vergessen. Immer neue Namen sind für derlei Zusammenschlüsse erfunden worden. Das bislang haltbarste Etikett trägt den Titel "Unasur". Das Hauptziel dieser Initiative besteht darin, einen Verbund zu bilden, in dem man "unter sich" ist und die USA außen vor bleiben. Hin und wieder wird das "Unasur"-Bündnis als Ersatz- oder gar Nachfolge-Institution der "Organisation Amerikanischer Staaten" (OAS) gehandelt. Doch davon ist es weit entfernt. Der Gerechtigkeit halber muss man allerdings feststellen, dass es sich bei verschiedenen Gelegenheiten bei der Bewältigung von Krisen in einzelnen Mitgliedsländern, wie etwa Bolivien, bewährt und dass es in der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit gewisse Fortschritte erzielt hat.

Lateinamerika leidet noch immer vor allem unter dem Caudillismo, jener Sucht, die manche Politiker befällt und sie glauben lässt, sie seien die Einzigen, die ihr Land aus dem Elend führen können und die dabei doch hauptsächlich persönliche Neigungen und nicht selten die eigene Tasche bedienen. Populismus und Günstlingswirtschaft breiten sich auf diese Weise immer wieder von Neuem aus. Caudillos, die besonders laut betonen, sie repräsentierten "das Volk", polarisieren meist ebendieses Volk: Wer nicht ihrer Meinung ist, bleibt von den Segnungen ihrer Politik ausgeschlossen oder wird gar verfolgt. Schon deshalb gibt es in den betreffenden Ländern kein gesundes demokratisches Gleichgewicht mehr zwischen Regierung und Opposition. Der Machtwechsel zwischen beiden Lagern wird dort, wo Präsidenten sich für unentbehrlich halten und, wie im Fall von Chávez, sich sogar die Möglichkeit der Wahl ins Amt auf Lebenszeit eröffnet haben, nach Kräften zu verhindern versucht. Damit wird auch der Impuls für die Entwicklung einer gesunden demokratischen Streitkultur unterdrückt. Das Verteufeln und die Verunglimpfung des politischen Gegners feiern unterdessen fröhliche Urständ.

In den vergangenen zweihundert Jahren hatten die meisten Länder Lateinamerikas immer wieder schwere Rückschläge in der gedeihlichen Entwicklung ihrer Gesellschaften zu verzeichnen. Bürgerkriege und Diktaturen haben nicht nur das Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit pervertiert, sondern auch einen gewaltigen Blutzoll gefordert. Demokratische Regierungen sind oft schon nach kurzer Zeit gestürzt worden. Sie haben sich aber auch immer wieder als unfähig erwiesen, interne Konflikte auf einvernehmliche und friedliche Weise zu lösen. Seit dem Ende der Diktaturen in den 1980er Jahren erlebt Lateinamerika die bisher längste Phase relativer demokratischer Prosperität. Die scheinbar stabilen Demokratien geraten aber schon wieder in Gefahr, ausgehöhlt zu werden - durch Kräfte, die nicht nur die jeweilige politische Führungsschicht, sondern die gesamte Gesellschaft wie schleichendes Gift zu zersetzen drohen - durch die allgegenwärtige Korruption und die Macht der Drogenbanden und -kartelle.
Die Unabhängigkeitsbewegung hat in fast allen lateinamerikanischen Ländern nicht zuletzt eine pseudoreligiöse Heldenverehrung entstehen lassen. Im Sog der Zweihundertjahrfeiern hat sich dieser Kult um Befreier, Erretter, Erlöser und Revolutionäre aufs Neue verstärkt. Der peruanische Fotograf Fernando Gutiérrez hat im Unabhängigkeitsprojekt der Goethe-Institute die lateinamerikanische Spielart von Personenkult und Heldenverehrung auf wirkungsvolle Weise ad absurdum geführt. Gutiérrez hat einen Nachkommen des Admirals Miguel Grau, der im Pazifik-Krieg 1879 vergeblich gegen Chile gekämpft hat und gefallen ist, als Admiral Grau mit dem imposanten Backenbart wiederauferstehen lassen und ihn historisch uniformiert. Mit ihm ist er dann in einem alten VW-Bus die Pazifikküste von der peruanischen Hauptstadt Lima bis ins chilenische Talcahuano hinuntergefahren. An historischen Orten hat er mit seinem falschen und doch richtigen Admiral Grau eine Reihe grotesker Performances veranstaltet, in denen die Zeit der Bruderkämpfe der zwei einst "unabhängig" gewordenen Länder Südamerikas beschworen, zugleich aber mit Fastfood und Clownerie parodiert und in reichlich Bier ertränkt wurde.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Weniger Zeit als Raum/und dennoch//gibt es manche Räume nur eine Minute lang//und für bestimmte Zeiten findet sich kein Ort.

Dr. phil., geb. 1949; Lateinamerika-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Buenos Aires/Argentinien. E-Mail Link: j.oehrlein@faz.de