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Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende? | China | bpb.de

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Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende?

Tobias ten Brink

/ 15 Minuten zu lesen

Wer die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft verstehen will, muss sich mit den Besonderheiten dieses Systems auseinandersetzen. Dabei werden Entwicklungsdynamiken und Widersprüche sichtbar, die den weiteren Erfolg behindern können.

Einleitung

Die Wirtschaftsentwicklung der Volksrepublik China gilt als die erfolgreichste auf der Welt. In absehbarer Zeit wird das Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Erde aufrücken. Die chinesische Entwicklung überragt statistisch betrachtet seit 1978, dem Beginn der Reformpolitik, jeden anderen langen Aufschwung in der Geschichte der Moderne. Eine Steigerung des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens von etwa sechs Prozent konnte selbst in Japan nicht über einen derart langen Zeitraum erreicht werden, zumal er nicht annähernd so viele Menschen betraf. China ist nicht mehr nur die "Werkstatt der Welt", sondern wird selbst zum Innovationsmotor. Freilich verläuft das Wachstum ähnlich wie in anderen Ökonomien zyklisch, wenn auch auf einem höheren Niveau. Phasen mit besonders hohen Wachstumsraten des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von zehn Prozent und mehr wurden von schwächeren abgelöst. Und auch wenn sich tatsächlich massenhafte Wohlstandssteigerungen nachweisen lassen, fallen diese doch immer noch bescheiden aus. Um die Dynamik ebenso wie die Destabilisierungsgefahren der chinesischen Wirtschaft zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf ihre Spezifika.

Neue Spielart des Kapitalismus

Mitte der 1970er Jahre - am Ende der sogenannten "Kulturrevolution" - befand sich die chinesische Gesellschaft in einer tiefen Krise. Mit dem Beginn des Reformprozesses 1978 begann die chinesische Machtelite unter Führung des Reformflügels um Deng Xiaoping, das Land in einem Trial-and-Error-Verfahren zu restrukturieren. In mehreren Reformphasen durchlebte es tief greifende Veränderungen. Resultat ist eine bislang einmalige Transformation eines kommandowirtschaftlichen Systems in ein stärker über den Markt gesteuertes Entwicklungsmodell.

Wesentliche Merkmale des Wachstumserfolgs Chinas müssten eigentlich jeden Verteidiger des freien Marktes verstummen lassen: Die Wirtschaft ist durch eine hohe staatliche Interventionsdichte gekennzeichnet, im Unterschied zu den Transformationsländern des Ostblocks wurde auf vorschnelle Liberalisierungen verzichtet und noch dazu regiert die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). Das Erbe einer bürokratischen Kommandowirtschaft, der herrschenden Partei und die Rolle eines industriellen Spätentwicklers haben - unter den besonderen Bedingungen der ostasiatischen Wachstumsregion und einer Phase fortgeschrittener Transnationalisierung der Weltwirtschaft - eine neuartige Spielart des Kapitalismus hervorgebracht. Diese Variante kann als marktliberaler Staatskapitalismus bezeichnet werden: Ein marktliberaler, unternehmerischer Geist ist mit einem umfassenden Staatsinterventionismus verbunden, der sich an makroökonomischen Erfolgsparametern orientiert.

Ein Bezug auf die offizielle Losung der KPCh, die das Land zur "sozialistischen Marktwirtschaft" erklärt hat, greift hier zu kurz. Die Staatsintervention sowie das Staatseigentum stellen keine Negation kapitalistischer Eigentumsverhältnisse dar, sondern fungieren als eine Form der partikularen Verfügung über ökonomische und politische Macht. Typische Merkmale kapitalistischer Wirtschaften wie der Zwang zur Akkumulation des Kapitals, eine rücksichtslose Wachstumsorientierung (und damit das Fehlen qualitativer, sozial-ökologischer Kriterien des Wachstums) sowie ausgeprägte soziale Gegensätze haben die chinesische Ökonomie zu einem Mekka des globalen Kapitalismus gemacht, ohne dass diese jedoch ein und dieselben Charakteristika wie liberale Kapitalismen westlicher Prägung aufweist. Im Folgenden werden drei Dimensionen des neuen chinesischen Kapitalismus beschrieben.

Glück und Gefährdung: Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft

Der Erfolg Chinas hängt zu einem großen Teil mit Faktoren zusammen, die nicht von der chinesischen Machtelite beeinflusst wurden, sondern die vielmehr auf günstigen weltwirtschaftlichen und ostasiatischen Konstellationen beruhten: Im Gegensatz zu anderen "staatssozialistischen" Gesellschaften konnte die Nation von der in den 1970er Jahren einsetzenden Globalisierungsphase profitieren.

Der Versuch, die Wirtschaft auf den Export auszurichten, war auf ausländische Direktinvestitionen (ADI) und technisches Wissen angewiesen. Die Nähe zur ostasiatischen Wachstumsregion diente diesem Interesse. Der ostasiatische Raum und die innerasiatischen Handels- und Produktionsketten bildeten ein entscheidendes externes Moment in der weltwirtschaftlichen Einbindung Chinas. Die von vorübergehend oder dauerhaft im Ausland lebenden Überseechinesen gebildeten Geschäftsnetzwerke in Ostasien spielten dabei ab den 1980er Jahren eine besonders wichtige Rolle in der Industrialisierung Chinas. Sie ebneten den erst in den 1990er Jahren steigenden ausländischen Investitionen aus anderen Quellen den Weg.

Von diesem Zeitpunkt an gründete die bedeutende Zunahme der ADI auf einer speziellen Situation, die nicht allein mit den niedrigen Arbeitskosten in China erklärt werden kann: eine in den 1990er Jahren mitunter als "Anlagenotstand" deklarierte Überakkumulation von Kapital in den klassischen Produktionszentren. Zu viel Kapital stand gewissermaßen wenigen lohnenden Investitionen gegenüber, weshalb die Investitionsquote in Europa, Nordamerika und Japan entsprechend gering war.

Seit Mitte der 1990er Jahre konnten die USA und China ihr Wachstum auf zwei unterschiedlichen, jedoch voneinander abhängigen Wegen erzielen. Während in den USA große Anteile des BIP-Wachstums auf den schuldenfinanzierten Konsum und weniger auf Investitionen zurückzuführen waren, verlief der chinesische Aufschwung spiegelverkehrt: Er beruhte auf einer beispiellos hohen Investitionsquote und einer vergleichsweise geringen internen Konsumquote. Die relative Bedeutung der Investitionen nahm noch zu, von etwa 30 Prozent des BIP zu Beginn der 1990er Jahre auf annähernd 40 Prozent nach 2000. Große Mengen an liquiden Mitteln im "Norden" (das heißt in den traditionellen Industriestaaten) stellten die Versorgung mit Geldanlagen sicher und heizten den Investitionsboom weiter an. Zudem fungierten die alten Zentren des globalen Kapitalismus als Endabnehmer von Exportgütern.

Die Unternehmen der entwickelten Volkswirtschaften (auch in Ostasien) schufen sich vor diesem Hintergrund neue Wettbewerber in dem Maße, wie sie selbst versuchten, von der chinesischen Dynamik zu profitieren. Das Ergebnis ist eine Restrukturierung der Wettbewerbsverhältnisse auf den internationalen Märkten, da die chinesische Staatsführung nicht nur ADI begünstigte, sondern auch selbst beziehungsweise vermittelt durch chinesische Konzerne zum Global Player aufstieg.

Bis heute erzielt die chinesische Volkswirtschaft weltweit die höchsten BIP-Wachstumsraten, wenngleich auch auf Kosten anderer Exportwirtschaften. Allerdings bringt die extrem hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt erhebliche Gefährdungen mit sich. Die globale Krise 2008/2009 und das Ende des Konsumbooms in den OECD-Ländern zogen Kriseneffekte in den auf diese Verbrauchermärkte orientierten chinesischen Branchen nach sich. Die Ausfuhren verringerten sich im Jahr 2009 um ein Viertel. Bei der vorwiegend für den Weltmarkt produzierenden Elektronik- und Textilindustrie, aber auch in anderen Sektoren, ging die Zahl der Entlassungen in die Millionen. Dazu kam, dass durch die Kreditkrise die finanziellen Ressourcen für ausländische Investitionen geringer wurden.

Hinzu tritt ein weiterer Aspekt der tiefen Einbettung in globale Produktions- und Konsumtionsketten. Viele Industriestätten des chinesischen Festlandes fungieren als Produktionsplattformen für Endprodukte. Als Bestandteil globaler, meist von amerikanischen, europäischen oder ostasiatischen Markenfirmen dominierter Produktionsverbünde, die zum Beispiel das Apple iPhone in China zusammenbauen lassen, ist die Volkswirtschaft daher den Rhythmen des globalen Kapitalismus direkt ausgesetzt. Viele der chinesischen Exporte sind gegenwärtig nur in dem Sinne "chinesisch", dass sie in China zusammengefügt wurden. Dies bedeutet: Den Großteil der Profite erzielen die multinationalen Konzerne, nicht die lokalen Produzenten oder Zulieferer. Zusätzlich machen Erstere den einheimischen Herstellern auf dem chinesischen Binnenmarkt das Leben schwer - ein Sachverhalt, der in der Krise an Bedeutung gewonnen hat, wie bereits der chinesische Markenführer unter den Computerherstellern, Lenovo, feststellen musste.

Vorteile und Schwachstellen: Der fragmentierte Parteistaat

Das System der Volksrepublik zeichnet sich entgegen der hierzulande immer noch existierenden Legende eines von der KPCh von oben nach unten totalitär beherrschten Einheitsstaates durch eine bemerkenswerte Kombination zentraler und dezentraler Macht aus. Ein durch kapitalistische Imperative wie Nützlichkeitserwägungen und Profitinteressen geprägtes Beziehungsgefüge verschiedener Entscheidungsstrukturen ist entstanden. Dieses Mehrebenensystem ist zugleich Ausdruck und Förderer einer regionalisierten Binnenwirtschaft. Die hierdurch resultierende Konkurrenz der politischen Instanzen unterhalb der Zentralregierung, die sich gegenseitig bei der Einwerbung von Investitionen überbieten, fördert sowohl dynamische als auch problematische Wirtschaftsentwicklungen.

Zwar besitzt der Zentralstaat weiterhin eine entscheidende Rolle. Er stellt grundlegende Rahmenbedingungen der Kapitalakkumulation bereit - über die Verwaltung und die Rechtsetzung über die Schaffung wirtschaftlicher Infrastruktur im Transport-, Energie- und Kommunikationssektor bis zur Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Auch kontrolliert er wichtige Konzerne und, was noch wichtiger scheint, die größten Banken. Dies hat der Pekinger Regierung einen erheblichen wirtschaftspolitischen Spielraum verschafft, was die gewaltigen Konjunkturprogramme, die im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 2008 aufgelegt wurden, bezeugen.

Die Funktionen des Staates sind jedoch seit Ende der 1970er Jahre verstärkt auf den subnationalen politischen Ebenen konzentriert worden. Die Koexistenz von 22 Provinzen, fünf Autonomen Regionen, vier regierungsunmittelbaren Städten mit dem Status einer Provinz (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing) und zwei Sonderverwaltungszonen (Macao, Hongkong) stellt ohnehin ein disparates Gebilde dar. Darüber hinaus machen die fünf relevanten Regierungsebenen - Zentralregierung, Provinzen, Bezirke, Kreise und Gemeinden - eine Detailsteuerung unmöglich.

Weil die lokalen Staatsapparate auf ihrem Hoheitsgebiet verstärkt wirtschaftliche Leistungen mittels Kontrolle von und direkter Intervention in Firmen anregen, interpretieren dies China-Forscher als einen wesentlichen Rahmen der Wachstumsdynamik. Regierungsbeamte fördern nicht nur, sondern ersetzen gewissermaßen auch wirtschaftliche Aktivitäten. Dabei unterstützen enge Beziehungen (guanxi), aber auch Korruption und Bestechung die Allianzen zwischen (privaten, halbstaatlichen, staatlichen) Unternehmern, Partei und Staat. Etwa 90 Prozent der reichsten 20000 Chinesen verfügen über sehr gute, häufig verwandtschaftliche Beziehungen zu hohen Regierungs- oder Parteifunktionären.

Doch der Wettbewerb zwischen den lokalen Staatsapparaten (auch und gerade innerhalb von Provinzen etwa zwischen Stadtregierungen), die massive Staatsintervention und die Regionalisierung der Wirtschaft ziehen auch negative Effekte nach sich. So sind Probleme der Überinvestition von Produktionskapazitäten und der Dopplung von Investitionen festzustellen, die aus der anarchischen Konkurrenz resultieren. Die Gefahr besteht, dass eine Stagnation der ADI und ein Nachlassen der Wirkung des großen Konjunkturprogramms zu einer Verschärfung etwa des Problems der Überschusskapazitäten oder Büroleerstände führt, zumal die Konjunkturspritzen diese Tendenzen noch beschleunigen können. Ferner erschweren die beträchtlichen regionalen Unterschiede in den Entwicklungsniveaus des Landes eine stabile Entwicklung. Hoch entwickelte städtische Zentren und große, agrarisch geprägte, rückständige Gebiete bilden ein regelrecht gespaltenes Akkumulationsmodell.

Dennoch wird das aktuelle Krisenmanagement "mit chinesischen Charakteristika" als ein großer Erfolg gewertet. Mittels enormer finanzieller Ressourcen leiteten der Zentralstaat (nicht zuletzt auf Grundlage der umfangreichen Währungsreserven) und die lokalen politischen Instanzen fiskal-, zins- und kreditpolitische Maßnahmen ein, die bisher (August 2010) einen Einbruch der Wachstumsraten unter die kritische Rate von etwa sieben bis acht Prozent verhindern konnten. (Unterhalb dieser Rate könnten mehrere Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte pro Jahr nicht mehr in die städtischen Arbeitsmärkte integriert werden.) Das im Gefolge der Krise aufgelegte und nur teilweise von der Zentrale finanzierte Konjunkturpaket in Höhe von circa 4600 Milliarden Yuan (etwa 460 Milliarden Euro) dient dem weiteren Aufbau wirtschaftlicher und sozialpolitischer Infrastrukturen (Schienennetz, Autobahnen, Gesundheits- und Bildungswesen) und der technologischen Modernisierung. Neben die fiskalpolitischen Stimuli traten geldpolitische Maßnahmen. Während in liberalen Volkswirtschaften die (private) Kreditvergabe einbrach, konnte die chinesische Regierung den großen Staatsbanken nicht nur vorgeben, dass, sondern auch in welcher Richtung sie Geld zu verleihen hatten.

Doch die mittelfristigen Folgen dieser Krisenlösungsstrategie erscheinen ungünstig. Der Staat setzt darauf, dass die weltweite Konjunktur wieder anzieht, doch bislang hat sich diese Erwartung nicht in erhofftem Maße erfüllt. Aktuelle Investitionen könnten sich also bald als Überinvestitionen, die Kredite sich als faule Kredite herausstellen. Auch der Immobilienmarkt gilt als Sorgenkind. Der Staat versucht nun, die erheblich ausgeweitete Kreditausgabe wieder zu drosseln. Doch auch dies funktioniert nicht immer wie gewünscht. Bis zum Sommer 2010 wuchs sie immerhin noch einmal um 15 Prozent. Folge werden (wieder einmal) notleidende Kredite sein, die das Finanzministerium und andere Staatsorgane wie der Staatsfonds Huijin bearbeiten müssen.

Ende des Niedriglohnmodells?

Eine schier endlose Zahl sehr niedrig entlohnter Menschen, die häufig als sozial deklassierte Wanderarbeiter auf der Suche nach Arbeit umherziehen, war jahrzehntelang das Rückgrat der chinesischen Wirtschaftsentwicklung. Doch diese Konstellation kann nicht unbegrenzt andauern. Erst jüngst, im Juni 2010, kam in einer Reihe aufsehenerregender Arbeitskämpfe zum Ausdruck, dass diese Grundlage des chinesischen "Wirtschaftswunders" - hohe Ausbeutungsraten und eine extreme Ungleichheit - zur Disposition steht. Neueren Schätzungen zufolge verfügen 0,4 Prozent der Haushalte über 70 Prozent des Reichtums. Der Lohnanteil am BIP ist von 53 Prozent im Jahr 1992 auf etwa 40 Prozent im Jahr 2006 gesunken.

Aufgrund der erheblichen Nachfrageausfälle im Exportsektor und der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte verweist die Staatsführung seit einiger Zeit verstärkt auf die Notwendigkeit, den Binnenmarkt zu stärken. Um dies zu erreichen, müssten sowohl die Löhne erheblich angehoben wie auch die sozialen Sicherungssysteme massiv ausgebaut werden. Dadurch aber, so Kritiker, stünde ein zentraler Wettbewerbsvorteil Chinas, die niedrigen Arbeitskosten und Steuern, die den Export beflügeln und Investitionen anziehen, infrage.

Dem Vorschlag, die Unterkonsumtion zu bekämpfen, und dem Ziel, eine "harmonische Gesellschaft" zu schaffen, also eine Art sozialpartnerschaftlicher Interessenausgleich, stehen erhebliche Hindernisse im Weg. Zwar werden offiziellen Angaben zufolge etwa 20 Prozent des Konjunkturpaketes für Sozialausgaben verwendet, doch dies kann eine Umorientierung auf den Binnenmarkt allein kaum garantieren. Gleichzeitig verlagern ausländische Großkonzerne Teile ihrer Produktion in die nördlichen, zentralen und westlichen Provinzen, um von den dortigen "Vorteilen", das heißt im Klartext: niedrigeren Arbeitskosten, zu profitieren.

Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob neue Bestimmungen etwa zur Heraufsetzung des Mindestlohns in den Provinzen auch wirklich implementiert werden. Einige Strömungen innerhalb der Machtelite (etwa in den Regierungen der reichen Ostprovinzen) sehen die Krise als "Chance" zur Modernisierung der Wirtschaft. Ihre Politik läuft auf die Schließung kleinerer Firmen und die Konzentration des Kapitals in größeren Unternehmenskonglomeraten hinaus, womit die Industrie modernisiert werden soll. Eine Eindämmung sozialer Ungleichheiten erscheint in diesem Szenario eher unwahrscheinlich.

Tatsächlich fehlt dem Versprechen, den Binnenkonsum zu stärken, in der Realität der chinesischen Arbeitsbeziehungen eine essenzielle Voraussetzung: die Vertretungskompetenz und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerkschaften. Im System der Arbeitsbeziehungen des "sozialistischen" China besitzen die (von Marx und anderen) eigentlich vorgesehenen Träger einer nach-kapitalistischen Gesellschaft lediglich einen Platz als machtlose, ausführende Objekte. In vielen Industriesektoren liegen die Basislöhne gegenwärtig nur bei etwa 50 Prozent des Gesamtlohns. Die Ableistung von Überstunden und Prämien als Lohnergänzung zeugt von der schwachen Verhandlungsposition der Lohnabhängigen. Damit einher geht eine heftige Konkurrenz zwischen den Mitarbeitern, die Gewerkschaften eigentlich zu überwinden trachten. Doch kollektive Verhandlungen über Löhne, Arbeitsrechte und Arbeitsbedingungen fehlen genauso wie branchenweite Tarifverträge: Die Regelung des Lohnverhältnisses ist auf der Ebene der einzelnen Unternehmen konzentriert. Bislang agieren die großen Staatsgewerkschaften (sofern sie überhaupt im Betrieb präsent sind) bei der Regulierung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen vorwiegend als Co-Manager und Organisatoren von Freizeitaktivitäten. Ihre enge Anbindung an den Parteistaat verhindert eine unabhängige Interessenvertretung der Beschäftigten.

Demgegenüber kontrollieren die Arbeitgeber die wichtigsten volkswirtschaftlichen Ressourcen und besitzen häufig - das betrifft nicht nur die Manager der Staatsunternehmen - den Status eines politischen Kaders, was ihre Einflussmöglichkeiten erhöht. Ein Interesse an einer grundlegenden politischen Umwälzung haben sie nicht.

Der Parteistaat tritt diesem Ungleichgewicht zwar rhetorisch entgegen. Doch seine ausgleichende Stimme weist in diesem Zusammenhang eher auf eine grundlegende Aufgabe des Staates in kapitalistischen Systemen gegenüber unternehmerischen Partikularinteressen hin. Das offensichtliche Ziel des Parteistaates besteht darin, rechtliche Normen zur Regulierung des Lohnarbeitsverhältnisses zu institutionalisieren.

In den letzten Jahren haben die Widerstände jedoch zugenommen. Die Arbeiter entwickeln (wie in vielen anderen Ländern zuvor) soziale Ansprüche. Neben den bereits vom Staat eingeräumten Klagemöglichkeiten sind neue Formen der kollektiven Gegenwehr entstanden. Die lokale Einhaltung der Arbeitsgesetze hängt vom sozialen Druck ab, was sich teilweise in erfolgreichen Klagen etwa bezüglich der Auszahlung ausstehender Löhne manifestiert.

Die Regierung befürchtet nun, vereinzelte Unruhen könnten in einen sozialen Flächenbrand münden. Das Regime weiß um die Explosivität sozialer Proteste, die Älteren unter den Mächtigen haben das Jahr 1989 noch in wacher Erinnerung, als eine studentisch geprägte Demokratiebewegung in eine Revolte der städtischen Bevölkerung und vieler Belegschaften überging und nur noch mittels Waffengewalt gestoppt werden konnte. Bei den Streiks im Sommer 2010 bei Zulieferern von Toyota oder Honda wurden offensive Forderungen wie nach besserer Bezahlung gestellt, die beteiligten Arbeiter hielten Versammlungen ab und wählten eigene Delegierte. Die sozialen Versprechen der Regierung, so befürchten Teile der Machteliten, könnten sich nunmehr zu allzu "unrealistischen" Ansprüchen der Arbeiter verselbstständigen.

Marktliberaler Staatskapitalismus chinesischer Prägung

In den letzten Jahrzehnten kombinierten die chinesischen Machteliten in Politik und Wirtschaft erfolgreich die Selbsterhaltungsinteressen des Parteistaates mit der Umorientierung auf die Kräfte des Marktes. Die Doppelstruktur von Partei und Staat hat sich vor dem Hintergrund einer günstigen weltwirtschaftlichen Lage alles in allem als erstaunlich flexibel erwiesen. Auch wenn innerhalb der Machteliten Zentrifugalkräfte wirken, schafft deren relative Homogenität einen Spielraum für die Initiierung und Implementierung neuer Politiken. Es existiert ein Fortschrittsglaube, der an die Hochzeiten der Moderne erinnert und in neuartiger Weise zugleich auf die Vorzüge der "wissenschaftlichen" Planung und der einzelunternehmerischen Schöpferkraft setzt.

Es stellt sich allerdings heraus, dass genau diejenigen Merkmale, die als Quellen des wirtschaftlichen Erfolgs gelten - wie die streng nach quantitativem Wachstum strebenden lokalen Entwicklungsstaaten sowie eine angebotsorientierte, Lohn- und Verteilungsfragen kaum berücksichtigende und den Ausbau zivilgesellschaftlicher Strukturen gering schätzende Politik -, in sich ihre krisenhaften Schattenseiten tragen. Während die Dezentralisierung der politischen Regulierung einen Trend zur Überinvestition und Dopplung von Investitionen beschleunigt, gefährdet die soziale Polarisierung das Wachstum der inneren Nachfrage. Eingeklemmt zwischen dem öffentlichen Versprechen, den Konsum zu stärken und die soziale Sicherung auszubauen, womit nicht zuletzt die wachsenden Ansprüche der arbeitenden Bevölkerung befriedigt werden sollen, und dem fortdauernden Glauben an die mit niedrigen Löhnen verbundenen Wettbewerbsvorteile, schwankt die Staatsführung zwischen ausgleichend-autoritativen und desorganisiert-despotischen Formen des Krisenmanagements.

Die Wohlstandsmehrung in breiten Bevölkerungsschichten und die hiermit verbundenen individuellen Aufstiegsmotivationen bildeten bis heute die Grundlage der Herrschaftssicherung und -stabilisierung. Wenn dies infrage gestellt wird, droht auch der chinesische Entwicklungsweg vor ernsthafte Zerreißproben gestellt zu werden.

Es lag unter anderem an der hohen internationalen Nachfrage, dass die chinesische Wirtschaft seit den 1990er Jahren keinen ernsthaften Einbruch erlebt hat. In der gegenwärtigen Krise hat sich dieser Faktor abgeschwächt und die Exportwirtschaft belastet. Dass die hohe Wachstumsrate nicht empfindlich gestört wurde, ist seitdem vor allem den Rettungsaktionen des Staates zu verdanken - und der Tatsache, dass es an keinem anderen Ort der Erde bessere Wachstumsaussichten gibt. Auch deshalb strahlt der Stern Chinas weiter.

Zweifellos ist die chinesische Wirtschaftsentwicklung imposant - ein Gang durch die Metropolen des Landes oder die gigantischen Industrieparks und Fertigungsanlagen sagt mehr als tausend Worte -, doch widerspruchsfrei ist sie beileibe nicht. Einmal mehr zeigt sich, dass ein Kapitalismus ohne Krisen und soziale Widersprüche nicht zu haben ist. Das gilt auch für den marktliberalen Staatskapitalismus chinesischer Prägung.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. ausführlicher Tobias ten Brink, Strukturmerkmale des chinesischen Kapitalismus, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper, (2010) 1, online: www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp10-1.pdf (13.5.2010); Barry Naughton, The Chinese Economy: Transitions and Growth, Cambridge 2007; Christopher A. McNally (ed.), China's Emergent Political Economy: Capitalism in the Dragons's Lair, London 2007.

  2. Vgl. Hung Ho-fung, Rise of China and the global overaccumulation crisis, in: Review of International Political Economy, 15 (2008) 2, S. 149-179.

  3. Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; engl. Organisation for Economic Co-operation and Development.

  4. Vgl. Dali L. Yang, Remaking the Chinese Leviathan: Market Transition and the Politics of Governance in China, Stanford 2004; Zheng Yongnian, De Facto Federalism in China: Reforms and Dynamics of Central-local Relations, Singapur 2007.

  5. Auch die seit über einem Jahrzehnt wachsende Zahl der Privatisierungen und Privatunternehmen setzt die engen Beziehungen zwischen Partei, Staat und Unternehmen nicht außer Kraft. Das Privateigentum bleibt eingebettet in das (lokale) politische Umfeld. Viele ehemalige politische Kader der KPCh gingen in den 1990er Jahren den Weg des red capitalist. Vgl. Bruce J. Dickson, Integrating Wealth and Power in China: The Communist Party's Embrace of the Private Sector, in: The China Quarterly, (2007) 192, S. 827-854.

  6. Von einer Analyse der chinesischen Kapitalmärkte muss an dieser Stelle abgesehen werden. Eine rigide staatliche Kontrolle des Kapitalverkehrs und der Wechselkurse verhindert bislang eine tief greifende Integration in die globalen Finanzmärkte. Der Shanghai Stock Exchange A Shares Index (Index inländisch handelbarer Aktien) hat in der ersten Jahreshälfte 2010 deutlich an Wert eingebüßt.

  7. Im Jahr 2006 wies die Statistik 764 Millionen berufstätige Menschen auf, darunter etwa 320 Millionen in der Landwirtschaft, 200 Millionen im sekundären und 250 Millionen im tertiären Sektor. In den beiden letzteren Sektoren arbeiten etwa 200 Millionen Wanderarbeiter.

  8. Vgl. He Jianwu/Louis Kuijs, Rebalancing China's economy - Modeling a policy package, in: World Bank China Research Paper, (2007) 7, online: www.worldbank.org.cn/english/content/
    working_paper7.pdf (2.2.2010).

  9. Freilich stellt die Lohnhöhe nur einen Teil der tatsächlichen Kosten dar. Würden in den Metropolen Chongqing oder Wuhan keine niedrigen Steuern und durch moderne Infrastrukturen erzeugte sinkende Logistikkosten bestehen, würden große US-amerikanische oder taiwanesische Firmen wie HP oder Foxconn dort wohl kaum ansässig.

  10. Vgl. China Labour Bulletin 2009, Going It Alone: The Workers\' Movement in China (2007-2008), online: www.clb.org.hk/en/files/share/File/
    research_reports/workers_movement_07-08.pdf (5.6.2009).

  11. Diese neueren Entwicklungen unterstützen eine Strömung in den Staatsgewerkschaften, die eine größere Unabhängigkeit und eine Stärkung gewerkschaftlicher Vertretungskompetenz in den Betrieben anstrebt. Ebenso fordert eine kleine Zahl chinesischer Experten Reformen des Systems der Lohnfindung, um die "Lohnempfänger reich zu machen". Vgl. Boy Lüthje, Arbeitsbeziehungen in China: "Tripartismus mit vier Parteien?", in: WSI-Mitteilungen, (2010) 9, S. 473-479. Chinesische Soziologen veröffentlichten jüngst eine scharfe Kritik an den unwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen der Wanderarbeiter. Vgl. Appeal by Sociologists, Address to the Problems of New Generations of Chinese Migrant Workers, online: http://sacom.hk/archives/644 (12.7.2010).

Dr. phil., geb. 1976; Postdoctoral Fellow am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Paulstraße 3, 50676 Köln. E-Mail Link: tenbrink@mpifg.de