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"Besser als gestern, schlechter als morgen" - Essay | Spanien | bpb.de

Spanien Editorial "Besser als gestern, schlechter als morgen" - Essay Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise Zwischen "Nation" und "Nationalität": das Baskenland und Katalonien Die spanische EU-Ratspräsidentschaft 2010 - eine Bilanz Bröckelt die "geistige Reserve des Okzidents"? Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur

"Besser als gestern, schlechter als morgen" - Essay

Walter Haubrich

/ 9 Minuten zu lesen

Durch den beispiellosen Bauboom bis 2008 ist in Spanien eine riesige Immobilienblase entstanden, die inzwischen geplatzt ist. Doch der Optimismus vieler Menschen ist ungebrochen.

Einleitung

Im Kern des Madrider Stadtviertels Chamartín, links und rechts von der prächtigen Castellana-Allee zwischen dem Stadion von Real Madrid und dem großen Platz von Kastilien, scheint sich die derzeitige Wirtschaftskrise bisher kaum ausgewirkt zu haben. Die teuren Restaurants mit den großen Gärten sind in den heißen Sommernächten bis in die Morgenfrühe voll besetzt. Die Frauen aus der Madrider Oberschicht führen ihre luftigen und eleganten Sommerkleider aus; doch es sind nicht nur die Wohlhabenden, welche an dem Brauch, ihre Freunde zumindest einmal alle zwei Wochen zum Abendessen einzuladen, festhalten. Auch wer weniger Geld hat, lässt sich die traditionelle spanische Großzügigkeit nicht nehmen; nur, dass er halt in ein preiswertes Restaurant einlädt, wo er dann allerdings nicht auf die Madrider trifft, die ständig in der Zeitung stehen und im Fernsehen erscheinen.

In einem Land mit einer Arbeitslosenquote von über 20 Prozent und einem zweistelligen Staatsdefizit mag die Konsumfreude der Bevölkerung überraschen; doch sie entspricht einem grundsätzlich positiven Lebensgefühl und einem durchweg optimistischen Blick in die nahe Zukunft. Man fragt sich im Ausland, warum es bei einer so hohen Arbeitslosigkeit nicht zu mehr Protesten in der Bevölkerung kommt und weshalb es die großen Gewerkschaften in dieser Situation so schwer haben, einen Generalstreik zu Wege zu bringen. Darauf gibt es eine einfache Antwort: Viele der Arbeitslosen arbeiten - in der Schattenwirtschaft. Sie erhalten damit außer ihrem Arbeitslosengeld noch einen Arbeitslohn. Schlecht geht es derzeit vor allem den ausländischen Bauarbeitern, die zum großen Teil aus Iberoamerika und Nordafrika eingewandert sind. Noch schlimmer dran sind die Bauarbeiter aus Osteuropa. Nach dem großen Bauboom der Jahre bis 2008 wird nun zu wenig gebaut. Die Bauarbeiter aus den spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas werden zum großen Teil jetzt, nach kurzer Umschulung, bei der Altenpflege und im Gaststättengewerbe eingesetzt; weil sie die gleiche Muttersprache wie die Spanier haben, gelingt es vielen, sich rasch auf den Wechsel einzustellen.

Ungezügelter Bauboom

In den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts wurden in Spanien so viele Wohnungen gebaut, wie in den anderen vier großen Ländern der Europäischen Union - Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien - zusammen. Die Bauwirtschaft wurde in diesen Jahren neben dem Tourismus zum wichtigsten Pfeiler des imponierenden spanischen Wirtschaftswachstums von durchschnittlich über drei Prozent pro Jahr. Über 80 Prozent der inzwischen mehr als 46 Millionen Spanier leben in Eigentumswohnungen. Da nur die wenigsten Spanier zur Miete wohnen möchten, ist es ein wichtiges Ziel sparsamer Eltern aus dem Mittelstand, ihren Kindern zur Hochzeit eine zumindest schon angezahlte Wohnung zu schenken. Die Hypotheken sind gewöhnlich sehr langfristig und die meisten Familien brauchen das ganze Leben, um sie abzuzahlen.

Die Banken und besonders die Sparkassen vergaben ziemlich leichtfertig Hypotheken und bleiben jetzt auf vielen dieser langfristigen Kredite sitzen. Die Gastarbeiter, vor allem die aus Lateinamerika, haben die Vorliebe der Spanier für Eigentumswohnungen übernommen und sich dabei ebenfalls hoch verschuldet, was in Zeiten großer Arbeitslosigkeit auch soziale Probleme schaffen kann. Die Preise im Immobiliengeschäft waren bis 2008 stärker gestiegen als in jedem anderen Land Europas.

Unzählige Hotels und Apartmentanlagen wurden in den vergangenen Jahren an den Küsten gebaut, in den Hauptgebieten des ausländischen Tourismus. Der hektische Bauboom vor allem an der Mittelmeerküste hat viel Kritik im Land und jenseits der Grenzen hervorgerufen. Viele Bürgermeister kleiner Städte mussten sich wegen Korruption verantworten, weil sie für Umwidmungen in Bauland hohe Geldsummen von Immobilienfirmen und Bauunternehmen angenommen hatten. Auch in der Nähe der Landeshauptstadt Madrid sind in manchen Dörfern in großen Blöcken Zehntausende von Wohnungen gebaut worden. Sie sind für Pendler gedacht, die in Madrid arbeiten, wo das Bauland und die Wohnungen beträchtlich teurer sind. Viele Wohnungen, zum Beispiel 30.000 in dem teuren Ferienort Marbella, wurden illegal auf städtischen Grünflächen errichtet und sind für die einheimische Bevölkerung größtenteils unerschwingliche Spekulationsobjekte. Besonders die Region Valencia hat sich auf das Umwidmen von landwirtschaftlichen Zonen in Baugrund spezialisiert. In dem bis dahin 10.000 Einwohner zählenden Ferienort Benicásim wurden auf diese Weise zwei Quadratkilometer für einen Golfplatz und 3.000 Wohnungen gewonnen.

Jeder noch so kleine Ort an der Mittelmeerküste möchte heute einen Golfplatz haben. Lokalpolitiker und Bauunternehmer verteidigen diese Projekte mit dem Argument, Golfspieler seien meistens wohlhabend, garantierten somit "Qualitätstourismus" und ließen viel Geld in ihren Ferienorten. Golfplätze brauchen allerdings viel Wasser, und das ist in der Region Valencia bekanntlich knapp. Bei den großen Demonstrationen gegen die geplante Ableitung von Wasser aus dem Ebro nach Valencia hörte man im Landesinnern häufig den leicht demagogischen Satz: "Unser Ebro-Wasser gehört nicht den reichen Golfspielern an der Küste."

Offene Baustellen

Zurück nach Madrid: Mitten im Herzen des eleganten Stadtviertels ragen seit Monaten vier Kräne unbewegt über die Dächer. Dort, am Paseo de la Castellana, sollte bis Ende 2010 ein Großprojekt fertig sein: ein Fünf-Sterne-Hotel, daneben Einzelapartments und Luxusläden. Die fünfstöckigen Parkplätze in den Kellern sind fertig, ebenso wie sechs Stockwerke nach oben. Doch dann ging dem Bauherrn das Geld aus, und die Banken vergaben keine Kredite mehr. Seit acht Monaten stehen die Kräne still, nur von Zeit zu Zeit erscheinen einige Arbeiter und kehren den Staub weg. Dabei ist der Bauherr kein Unbekannter, seiner Firma gehören Immobilien in 40 Städten der Iberischen Halbinsel und in Miami. Das halbfertige Hochhaus in Chamartín ragt als Symbol für das Ende des Baubooms über die Castellana-Allee. Spanier kommentieren, wenn sie an der Bauruine vorbeigehen mit leichter Ironie, manchmal auch mit Schadenfreude, den Wandel in der Bauwirtschaft. Einige hundert Meter weiter nach Norden ragen vier hohe Türme auf dem ehemaligen Trainingsgelände von Real Madrid in die Wolken. Mit dem Verkauf dieses Areals auf dem wertvollsten Bauboden Madrids hatte Florentino Pérez, Vereinspräsident von Real Madrid und Inhaber des größten Bauunternehmens in Europa, ein besonders gutes Geschäft gemacht.

Gegenüber der sechsstöckigen Bauruine, auf der anderen Seite der Castellana, wird Madrid in der Nacht besonders lebhaft. Da breiten sich Diskotheken, Nachtclubs sowie Cabarets nach Berliner Vorbild aus und es werden "erotische Tänze" und "nackte, böse Mädchen" auf den Häuserwänden annonciert. Besitzer und Angestellte solcher Lokale klagen, im Gegensatz zu Restaurants und Tavernen, über geringeren Zulauf, seitdem die Finanz- und Wirtschaftskrise auch von der Regierung zugegeben wird. Das Publikum dieser Lokale scheint sich an den alten Madrider Grundsatz zu halten, wonach man "jeden Tag essen und trinken muss; alle Vergnügungen danach seien Luxus für Leute mit viel Geld, darauf könnte man notfalls verzichten." Die leichten Mädchen, die in diesen Nachtlokalen arbeiten, kommen fast proportional zu den Gastarbeitern in Spanien aus aller Welt an; an der Spitze die Rumäninnen, dann Südamerikanerinnen und Marokkanerinnen.

Die Spanier hatten bis zum Jahr 2009 kaum Geld gespart und das, was übrig war, zu neuen Einkäufen oder zur Zurückzahlung von Krediten benutzt. Der damals steigende Konsum half mit, das Wirtschaftswachstum hoch zu halten. Mit der Finanzkrise begannen auch die Spanier zu sparen. So wächst der innere Konsum derzeit nur um 0,3 Prozent im Halbjahr, weniger als in anderen großen Ländern der Europäischen Union. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat in Spanien später begonnen als im übrigen Europa, und sie wird wohl auch erst später überwunden werden. Spaniens Industrie erzeugt außer Automobilen keine Produkte, die leicht exportiert werden können und von den neuen bevölkerungsreichen Großmächten, den ehemaligen Schwellenländern China, Indien und Brasilien, unbedingt gebraucht werden. Das macht es für Spanien schwieriger die Krise zu überwinden als etwa für Deutschland.

Die Säule der spanischen Wirtschaft, die nicht einstürzen wird, ist der Fremdenverkehr - ohne die spanischen Unterkünfte würde der Tourismus in Europa zusammenbrechen. Ein Beispiel verdeutlicht diese Situation: Die spanische Insel Mallorca hat mehr Unterkünfte zur Verfügung als ganz Griechenland. In der Krise hat sich die Zahl der ausländischen Besucher - im Sommer vor allem auf dem Festland, im Winter auf den Kanarischen Inseln - nur geringfügig verringert. Die Touristen geben allerdings im Urlaub weniger aus, auch sie sind sparsamer geworden.

Spanien wird - vor allem durch den Tourismus - immer mehr zu einem Land der Dienstleistung. Dies zuzugeben, wird für viele Spanier, die noch von einem großen Industriestaat träumen, nicht leicht sein. Doch sowohl die Einheimischen als auch zunehmend die Ausländer lernen immer mehr die spanische Lebensformen zu schätzen: den herzlichen Umgang der Menschen miteinander, selbst im Gespräch mit Unbekannten bei einem Gläschen Wein, die abwechslungsreiche, auf regionale Unterschiede gestützte Küche und das fast ständige Sonnenwetter tragen zu einer beachtlichen Lebensqualität bei.

Sportliche Erfolge stärken das an sich nicht stark ausgebildete Nationalbewusstsein und helfen, die Arbeitsleistung und die geringe Produktivität ein wenig zu steigern. In diesem Sommer der Krise konnten die Spanier die Erfolge des Tennisspielers Rafael Nadal feiern. Er war nach einer langen Verletzung mit den Grand-Slam-Titeln von Wimbledon und Paris schnell wieder zur Nummer Eins der Weltrangliste geworden. Ebenso freute man sich über den Madrider Alberto Contador, der zum dritten Mal die Tour de France gewann - Radsport ist nach Fußball der populärste Sport in Spanien. Jedoch am meisten und am lautesteten freute sich ganz Spanien - einschließlich der sonst auf ihre Eigenständigkeit bedachten Basken und Katalanen - über den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft durch ihre Nationalmannschaft, die seit dem Ende der Diktatur "La Roja" (die Rote) genannt wird - wenn auch nicht aus politischen Gründen, sondern wegen der Farbe des Trikots.

Der Sommer 2010 drohte anfangs schlimm zu werden für Spanien, als sich gleich nach dem Bankrott Griechenlands die sogenannten internationalen Finanzmärkte und die angelsächsische Wirtschaftspresse Spanien als nächstes Ziel ihrer Angriffe aussuchten. Zwei deutsche Zeitungen verbreiteten sogar die sofort von Madrid und Brüssel dementierte Falschmeldung, dass Spanien beim Hilfsfonds der Europäischen Union eine hohe Geldsumme beantragt habe. Inzwischen hat sich die Situation Spaniens auf den Finanzmärkten wieder gebessert.

Beim internationalen Stresstest europäischer Banken im Juli 2010 erzielten die spanischen Großbanken besonders gute Ergebnisse. Man vergisst gern in Deutschland, dass die spanischen Geldinstitute Banco de Santander und Banco de Bilbao die beiden größten Banken der Eurozone sind. Allerdings sind viele spanische Sparkassen reformbedürftig und müssen fusionieren. Die Tatsache, dass so gut wie jede der 50 spanischen Provinzen zumindest eine eigene Sparkasse hat, ist auf die Dauer unhaltbar. Gerade die schwächsten dieser Sparkassen hatten in der Hochkonjunktur besonders viele Hypotheken und Kredite in ihren Heimatprovinzen verteilt, auf deren Rückzahlung sie jetzt noch warten.

Beziehungen zu Iberoamerika

Wichtig wurden für viele Spanier auch die zahlreichen von ihrer Regierung geförderten Begegnungen mit den ehemaligen Kolonien in Lateinamerika. Mit den spanischsprachigen Ländern dort und mit den portugiesischsprachigen Brasilien und Portugal hat Spanien die Iberoamerikanische Gemeinschaft ins Leben gerufen. Die Staats- und Regierungschefs dieser 24 Länder treffen sich einmal im Jahr in einem jeweils anderen Land und beschließen Projekte der Zusammenarbeit - vorwiegend im Bereich von Kultur und Erziehung.

Spanien gibt fast 90 Prozent seiner Entwicklungshilfe nach Iberoamerika und ist auch in den vergangenen Jahren das Land, welches das meiste Geld in Mittel- und Südamerika investiert. In der Europäischen Union macht Spanien sich gerne zum Fürsprecher lateinamerikanischer Interessen. Zwischen den Menschen in Iberoamerika und Spanien gibt es so gut wie keine Ressentiments aus kolonialen Zeiten. Die Unabhängigkeitskriege, deren 200. Wiederkehr in diesem Jahr in Iberoamerika und bezeichnenderweise auch in Spanien begangen wird, waren für gewöhnlich nur kurz, denn das Spanien des 19. Jahrhunderts war einfach zu schwach, um großen Widerstand leisten zu können. Außerdem waren manche der Befreier Spanier, wie etwa der General José de San Martín (1778-1850).

In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Menschen auf Arbeitssuche aus Südamerika nach Spanien gekommen, ihre gute Aufnahme wird von zahlreichen Spaniern als Dankespflicht betrachtet; in den Jahren nach dem spanischen Bürgerkrieg (1936 bis 1939) haben besonders Argentinien, Mexiko und Chile viele spanische Intellektuelle und Künstler, die von Franco vertrieben worden waren, aufgenommen und ihnen Arbeit gegeben. Die iberoamerikanische Expansion vergrößert Spaniens Bedeutung in der Weltpolitik, wo es gern als eine mittlere Macht angesehen werden würde.

Die nächsten Jahre werden für Spanien nicht einfach werden. Um die Situation von 2007 innerhalb Europas wieder zu erreichen, müssen die Spanier, und zwar alle, hart arbeiten. Dann werden die Bauruinen aus Chamartín verschwinden und die Büros in den Hochhäusern dieses Stadtviertels wieder voll besetzt sein. Das Vertrauen in die Zukunft besteht jedenfalls weiter - auf die Frage, wie es ihnen denn gehe, antworten die meisten Spanier mit dem Satz: "Besser als gestern und schlechter als morgen."

Geb. 1935; Journalist und Autor; über dreißig Jahre lang Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in Madrid/Spanien. E-Mail Link: walter@haubrich.es