Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Zwischen "Nation" und "Nationalität": das Baskenland und Katalonien | Spanien | bpb.de

Spanien Editorial "Besser als gestern, schlechter als morgen" - Essay Spanien in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise Zwischen "Nation" und "Nationalität": das Baskenland und Katalonien Die spanische EU-Ratspräsidentschaft 2010 - eine Bilanz Bröckelt die "geistige Reserve des Okzidents"? Der öffentliche Umgang mit der Franco-Diktatur

Zwischen "Nation" und "Nationalität": das Baskenland und Katalonien

Walther L. Bernecker

/ 17 Minuten zu lesen

Das Verhältnis zwischen dem politischen Zentrum und den einzelnen Regionen des Landes ist in Spanien traditionell konfliktbeladen. Die regionalen Autonomiebestrebungen sind nach wie vor sehr stark vorhanden.

Einleitung

Das Verhältnis zwischen dem politischen Zentrum und den einzelnen Regionen des Landes ist in Spanien seit der Frühen Neuzeit konfliktbeladen. In der jüngsten Geschichte hat der Wandel von der franquistischen Diktatur (1939-1975) zu einer parlamentarischen Demokratie zuerst zu einer Verschärfung des Problems, dann jedoch zu einer Entspannung geführt; das Ende des Ost-West-Konfliktes und das Wiederaufleben der nationalen Frage in Europa haben allerdings sehr rasch deutlich werden lassen, dass Spanien noch lange mit dem Problem des peripheren Nationalismus wird leben müssen. Heute ist die Frage, wie sich die Beziehungen zwischen dem (spanischen) Staat, den (verschiedenen) Nationalitäten und den (autonomen) Regionen weiterentwickeln werden, völlig offen.

Ausbruchsversuche aus dem staatlichen Gehäuse Spanien oder zumindest mehr oder minder ausgeprägte Autonomisierungstendenzen hat es in der Geschichte etliche gegeben. Träger derartiger Bewegungen waren vor allem Regionen und ethnische Minderheiten, denen im zentralistisch verwalteten Staat keine oder nicht ausreichende Entfaltungsmöglichkeiten gegeben wurden. In den vergangenen Jahrzehnten haben diese substaatlichen Einheiten dem Nationalstaat klassischer Prägung erhebliche Schwierigkeiten bereitet; sie reklamierten (und reklamieren) für sich das Recht auf eigene Institutionen und Verwaltungskompetenzen. In einigen Fällen bestreiten sie auch den Anspruch des Zentralstaates, ein "Nationalstaat" zu sein: Spanien sei nicht als Willens- oder Kulturnation entstanden, so das Argument, sondern aus der dynastischen Verbindung der beiden Königshäuser Kastilien und Aragonien hervorgegangen. Katalanen und Basken etwa behaupten vielmehr selbstbewusst von sich selbst, eine Nation zu sein, die allerdings (noch) über keinen eigenen Staat verfüge.

Im spanischen Fall gelang es von den peripheren Regionalismen nur den Katalanen und den Basken, den Durchbruch zur politischen Massenbewegung und den Kampf um "nationale" Rechte zu erreichen. Vier Aspekte erklären die (im Vergleich zu anderen Regionen wie Galicien oder Andalusien) unterschiedliche Entwicklung Kataloniens und des Baskenlandes: Erstens ist auf die Diskrepanz zwischen relativer ökonomischer Überentwicklung dieser peripheren Regionen und ihrer politischen Entrechtung hinzuweisen; zweitens verfügen Katalanen und Basken über eigene Sprachen; drittens gab es in diesen Regionen weit in die Geschichte zurückreichende administrativ-politische Strukturen und Institutionen; viertens waren hier die Repressions- und Frustrationsraten besonders, allerdings unterschiedlich intensiv ausgeprägt.

Der Zentralismus des Franco-Regimes traf nicht nur Katalonien und das Baskenland, sondern alle Regionen gleichermaßen, wenn auch die übrigen Landesteile ihre politische Unterordnung deshalb als nicht so gravierend empfanden, weil sie ohnehin über keine Tradition lokaler oder regionaler Selbstverwaltung verfügten. Für das gesamte spanische Staatsterritorium gilt jedoch: Die bürokratische Zentralisierung nahm nach dem Bürgerkrieg (1936-1939) bisher ungekannte Ausmaße an. Diese rigide Verwaltungsstruktur sollte bis zum Tode Francos (1975) im Wesentlichen beibehalten werden. Die Reaktion der Regionen auf den extremen Zentralismus war unterschiedlich: Während sich der größte Teil der Regionen im bürokratischen Verwaltungsautoritarismus des Franquismus einrichtete, gingen Katalonien und das Baskenland Sonderwege.

Regionalistischer Widerstand

Im Zuge der politischen und ökonomischen Bestrafung Kataloniens und des Baskenlandes wurde nach dem Bürgerkrieg der wirtschaftliche Einfluss beider Regionen so weit wie möglich eingedämmt, beide Landesteile mussten in Form hoher Steuerabflüsse erhebliche finanzielle Opfer für die Entwicklung des restlichen, weit weniger industrialisierten Spanien erbringen. Trotz massiver Behinderungen entwickelten sich beide Regionen ökonomisch erfolgreich. In der baskischen Provinz Guipúzcoa erfolgte die eigentliche Industrialisierung sogar erst jetzt, in den 1950er und 1960er Jahren. Dabei handelte es sich hauptsächlich um kleine und mittlere Betriebe, die sich zum größten Teil im Hinterland der Provinz ansiedelten, somit in einer Region, die mit Einzelgehöften, dörflichen Gemeinschaften und stark verwurzeltem Katholizismus noch stark traditionell geprägt war. Auch die Provinzen Alava und Navarra wurden industrialisiert. Die Industrialisierung löste einen gewaltigen strukturellen Wandel aus: Viele neue Industriebetriebe siedelten sich im Hinterland Guipúzcoas, vor allem in der Goierri-Gegend, an.

Eine ähnliche Entwicklung wie das Baskenland durchlief Katalonien nach dem Bürgerkrieg; auch hier kann von einer erneuten Phase beschleunigter Industrialisierung gesprochen werden. Die Zahl der im landwirtschaftlichen Sektor Beschäftigten schrumpfte, der schnell expandierende tertiäre Sektor nahm laufend neue Arbeitskräfte auf. Die 1950er und 1960er Jahre waren eine Periode wachsenden Wohlstands; das Durchschnittseinkommen gehörte im spanischen Vergleich zu den höchsten, und hinsichtlich anderer Modernisierungsindikatoren war Katalonien nach wie vor an der Spitze. Auch die mediterrane Region zog als wirtschaftlicher Wachstumspol einen breiten Strom von Zuwanderern aus anderen Teilen Spaniens an.

Auf ihre systematische Diskriminierung und auf die Negierung ihrer kulturellen Eigenständigkeit reagierte die Bevölkerung beider Regionen zunächst in ähnlicher Weise. Sie verweigerte etwa dem Regime die politische Anerkennung, indem sie sich bei Volksabstimmungen weit mehr der Stimme enthielt, als dies in anderen Regionen geschah; dies war vorerst die einzige politische Möglichkeit, eine Protesthaltung zu artikulieren. Oft gerieten auch religiöse Feste zu politischen Ausbrüchen kollektiven Unmuts. Eine andere Form der kulturell-ethnischen Selbstbehauptung war der Rückzug in die "zivile" Gesellschaft, das Engagement in Vereinen, Clubs, Gesellschaften und Verbänden, die scheinbar unpolitisch waren, deren Aktivitäten und Dynamik aber Ausdruck eines lebendig gebliebenen und konsequent gepflegten Bewusstseins regionaler Eigenart waren. Viele dieser Organisationen entwickelten sich zu Durchgangsstationen und politischen Sozialisationsinstanzen oppositioneller Nationalisten.

Im Gegensatz zu diesen Formen des eher passiven Ungehorsams, unterschieden sich das Baskenland und Katalonien wesentlich in den Artikulationsformen des aktiven, auf die Wiederherstellung der Autonomie hin orientierten Widerstandes. Während sich in Katalonien nämlich der Kampf im Wesentlichen auf die Bewahrung und Verteidigung der Regionalsprache und -kultur konzentrierte, war es im Baskenland die Geheimorganisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna, "Baskenland und Freiheit"), die durch Gewaltaktionen und zunehmende Terroraktionen die Zentralregierung in erhebliche Bedrängnis brachte, schließlich sogar klar in die Defensive verwies. Der kollektive politische Protest nahm im Baskenland heftigere und dauerhaftere Formen an als in jedem anderen Landesteil.

Bis Mitte der 1960er Jahre hatte die ETA ziemlich klare Vorstellungen von den politischen und gesellschaftlichen Zielen ihres Kampfes sowie von der einzuschlagenden Taktik entwickelt. Ihr wichtigstes Ziel war ein nach innen wie nach außen souveräner baskischer Staat, in dem die französischen und die spanischen Baskenprovinzen zu einem Staatsgebilde vereinigt sein sollten; dessen künftige Gesellschaftsordnung sollte sozialistisch sein. Die ETA verfolgte somit sowohl ein nationalistisches als auch ein sozialistisches Ziel. Diskussionen darüber, welchem dieser beiden Fernziele die Priorität zukomme, führten zu mehreren Spaltungen der Organisation. Durch Attentate auf Amtsträger und Sicherheitskräfte sollte der Staat zu repressiven Maßnahmen provoziert werden, um dadurch der aufständischen Bewegung immer mehr Anhänger zuzutreiben. Das Kalkül war, dass die Situation im Baskenland für die Masse der Bevölkerung schließlich so unerträglich werden würde, dass sich das Volk irgendwann gegen seine "Unterdrücker" erheben würde, um die Spirale von Aggression und Repression, von Terror und Gegenterror zu beenden.

Vom Zentralstaat zum Staat der Autonomen Gemeinschaften

Schon bald nach Francos Tod, als die Autonomieforderungen der einzelnen Regionen unüberhörbar wurden, sah sich die Regierung zur Erwägung der Frage gezwungen, ob es nicht angebracht sei, anstelle individueller Lösungen für einzelne Regionen eine konstitutionelle Formel mit allgemeiner Gültigkeit zu finden. Derartige Überlegungen drängten sich auf, da es nach 1975 zu einem rapiden Anwachsen regionalistischen Eigenwillens und föderalistisch-autonomistischer Bestrebungen auch in Landesteilen kam, in denen ihnen früher kein großes politisches Gewicht zugekommen war. Die Lösung konzentrierte sich schon bald auf eine integrale Regionalisierung des Landes, also auf eine regionalpolitische Neuordnung Gesamtspaniens. Die politische Dezentralisierung führte schließlich zu einem tiefgreifenden Wandel der politischen, administrativ-institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen von Spaniens Demokratie. Heute gliedert sich das Land in 17 politisch autonome Regionen, die "Autonomen Gemeinschaften" (Comunidades Autonomas).

Die Verfassung von 1978 sah eine regionalistische, keine föderalistische Lösung der Autonomiefrage vor. Jede "Nationalität" und "Region" hat das Recht auf Selbstverwaltung. Dabei sollte der Begriff "Nationalität" ursprünglich den Basken, Katalanen und Galiciern vorbehalten bleiben, die sich von den übrigen Spaniern nicht nur historisch, sondern auch sprachlich-kulturell und zum Teil ethnisch unterscheiden.

Seit ihrem Beginn wurden die Autonomieverhandlungen von den unterschiedlichsten Reaktionen begleitet, die von überwiegender Ablehnung und Warnung vor weitergehender Dezentralisierung (durch einen Teil der Streitkräfte) über die Forderung nach umfassender Autonomie oder Errichtung eines Bundesstaates (zeitweilig etwa durch die Sozialistische Arbeitspartei PSOE) bis hin zu offen separatistischen Bestrebungen (etwa durch die ETA) reichten. Wer in den 1980er Jahren auf die bis dahin zurückgelegten Etappen der Autonomieregelung zurückblickte, konnte zum einen die wenig konsequente, oft widersprüchliche Haltung der Zentralregierung, zum anderen die von Region zu Region unterschiedliche Problemlage feststellen, die jede Prognose auf diesem überaus vielschichtigen und komplexen Gebiet unmöglich machte.

Rechtsnatur und Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften

Artikel 2 der spanischen Verfassung von 1978 enthält sowohl das Prinzip der "unauflöslichen" Einheit der Nation als auch das Recht auf Autonomie: Diese Norm geht über eine reine Dezentralisierung hinaus; allerdings definiert die Verfassung weder "Nationalität" noch "Region". Auch nach der Verfassung bleibt Spanien, trotz der Verankerung des Regionalismus, ein Einheitsstaat. Auch wenn die Unabhängigkeit der Autonomen Gemeinschaften verfassungsrechtlich gesichert ist, verfügen diese über keine eigenen Staatsqualitäten, sondern besitzen lediglich abgeleitete Staatsgewalt.

Gemäß Artikel 147 der Verfassung sind die Autonomiestatute die Grundordnungen der Autonomen Gemeinschaften. Da diese aber keine Verfassungshoheit besitzen, muss bei jeder Statutänderung der Zentralstaat mitwirken. Es gibt auch kein allgemeines Homogenitätskriterium für die Autonomiestatute, die Aufteilung der Staatsaufgaben zwischen dem Zentralstaat und den Autonomen Gemeinschaften ist daher ausgesprochen komplex. Von Anfang an wiesen die Gemeinschaften unterschiedliche Zuständigkeitsniveaus auf ("dispositives Prinzip"), was wiederum zu einer außerordentlich hohen Zahl an Kompetenzkonflikten vor dem Verfassungsgericht führte. In Bezug auf die Ungleichheit der Autonomen Gemeinschaften wird deshalb im Fall Spaniens auch von einem "asymmetrischen Staat" gesprochen.

In den Jahren nach 1978 gelang es den Autonomen Gemeinschaften immer wieder, ihre Kompetenzen zu erweitern. Die Zweideutigkeiten und der Streit um Zuständigkeiten resultierten aus der wenig eindeutigen spanischen Verfassung, die zwar andeutet, dass Spanien eine "Nation von Nationen" sei, die aber nicht zu einer deutlichen Anerkennung des plurinationalen Charakters des Staates gelangt.

Radikalisierungstendenzen

Wenige Jahre nach den Autonomiepakten von 1992, die eine Homogenisierung der Kompetenzen der Autonomen Gemeinschaften erreichen sollten, begannen 1998 die peripheren Nationalismen, das gesamte System der territorialen Staatsorganisation in Frage zu stellen. Sie traten nunmehr für eine neue Interpretation der Selbstregierung ein, die sie als Souveränität oder zumindest als mit dem Zentralstaat zu teilende Souveränität deuteten. Vorreiter waren abermals das Baskenland und Katalonien. Die baskische Regierung ging dabei am weitesten: Sie schlug vor, das Baskenland in einen "mit Spanien assoziierten Freistaat" umzuwandeln. Auch die Katalanen strebten ein neues Autonomiestatut an, das nach vielen politischen Auseinandersetzungen 2006 schließlich verabschiedet wurde.

Seit Beginn dieses Jahrhunderts mehrten sich in verschiedenen Autonomen Gemeinschaften die Forderungen nach einer Reform der Autonomiestatute. Größere Steuerkompetenzen, eine eigene Vertretung bei den europäischen Gremien und eine Stärkung der Kooperations- und Ausgleichsmechanismen zwischen den Autonomen Gemeinschaften waren unter anderem die Ziele.

Der sozialistische Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero (Regierungschef seit 2004) machte die Frage der Reform der Autonomiestatute zu einem Kernstück seiner Regierungstätigkeit. So schuf er zur intensiveren Zusammenarbeit die "Konferenz der Präsidenten" (Conferencia de Presidentes), ein regelmäßiges Konsultationstreffen der regionalen Regierungschefs mit dem spanischen Ministerpräsidenten. Inzwischen sind zwar noch längst nicht alle Fragen geklärt, die Überarbeitung der Autonomiestatute ist allerdings ein gutes Stück vorangekommen. So erhielt zum Beispiel Andalusien in seinem neuen Statut die Bezeichnung "Nationalität" zugesprochen; auch die Balearen wurden als "historische Nationalität" anerkannt. Die Kanarischen Inseln erstreben wegen ihrer "ultraperipheren Lage" weitere Sonderrechte. Die Überarbeitung des baskischen Statuts ruht, da der Vorstoß der baskischen Regierung für eine "freie Assoziierung" vom Parlament in Madrid abgelehnt wurde.

Entwicklungen im Baskenland

In den Jahren der transicion (Übergang vom Franquismus zur Demokratie, 1975 bis 1982) hatte die ETA eine Doppelstrategie entwickelt, um ihr politisches Ziel, die Unabhängigkeit des Baskenlandes, zu erreichen: Neben den Terrorismus trat der Versuch der politischen Durchsetzung der Institutionen. Der zu diesem Zweck gegründeten "Patriotischen Sozialistischen Koordinationsgruppe" (Koordinadora Albertzale Sozialista, KAS) gehörten auch (neben der ETA selbst) die Jugendorganisation Jarrai, die nationalistische Gewerkschaft LAB und einige weitere Gruppierungen an. In den folgenden Jahren vertrat die KAS zumeist die von der ETA propagierten Maximalforderungen, kämpfte aber auch für (von großen Teilen der baskischen Bevölkerung unterstützte) kurzfristige Ziele wie Zusammenlegung der baskischen Gefangenen, Amnestie oder Rückzug zentralstaatlicher Polizeikräfte aus dem Baskenland.

Seit die Autonome Region Baskenland über eine eigene Polizei verfügt (Ertzaintza, seit 1982), ist diese immer wieder Opfer von Attentaten geworden. Was früher ein Konflikt zwischen dem Baskenland und der Zentralregierung war, wurde nunmehr auch eine innerbaskische Auseinandersetzung. Lange Zeit war zum ETA-Terror geschwiegen worden, teils aus angeblichem Verständnis, teils aus Angst. In den vergangenen Jahren hat sich allerdings eine immer breitere Widerstandsfront gegen das radikal-nationalistische Lager und dessen Gewalttaten gebildet.

Als ein Großteil der baskischen Bevölkerung die ETA-Terrorakte sichtbar verurteilte und sich vom politischen Arm der ETA, der Partei Herri Batasuna (baskisch: "Volksunion"), abzuwenden schien, andererseits die polizeilichen Maßnahmen zur Zerschlagung mehrerer ETA-Kommandos geführt hatten, änderten die separatistischen Linksnationalisten ihre Taktik. So wurden immer wieder Nachfolgeorganisationen der illegalisierten radikal-nationalistischen Parteien gegründet, die das Recht auf Selbstbestimmung des baskischen Volkes, eine demokratische Lösung des Gewaltproblems, mehr soziale Gerechtigkeit und die Vereinigung aller Basken forderten (einschließlich derer in der nur teilweise baskischen Provinz Navarra und in Frankreich).

Im Herbst 1999 sollte das Baskenproblem eine dramatische Wendung nehmen: Zum 20. Jahrestag des Erlasses des Autonomiestatuts von 1979 erklärten die nationalistischen Parteien das Statut von Gernika für beendet; die Autonomieregelung für das Baskenland wurde als oktroyierte Regelung abgelehnt, da sie "Unterordnung" bedeute; angekündigt wurde ein "Souveränitätsprojekt", das dem Baskenland eine gleichberechtigte Verhandlungsbasis einräumen sollte. Im Januar 2000 sprach sich der Parteitag der regierenden Baskischen Nationalistischen Partei (PNV) für eine Souveränitätspolitik neuer Art aus. Damit ließ sie 20 Jahre Politik auf der Grundlage des Autonomiestatuts hinter sich.

Im September 2002 verkündete der baskische Ministerpräsident Juan José Ibarretxe schließlich seinen Plan, den er eine "Initiative für das Zusammenleben" nannte. Für das Baskenland sah der Plan den Status "freier Assoziierung" an Spanien vor. Der verfassungsrechtlich bedenklichste Teil des Ibarretxe-Plans bestand im baskischen Selbstbestimmungsanspruch. Das baskische Volk - so hieß es im Plan - "ist kein untergeordneter Teil des Staates"; es verfüge vielmehr über eine "originäre Souveränität" und das "Recht, befragt zu werden, um über seine eigene Zukunft in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht zu entscheiden". Die Verfassung von 1978 übertrug die Souveränität aber "dem spanischen Volk"; außerdem proklamierte sie die "unauflösliche Einheit der spanischen Nation", so dass Verfassungsrechtler den Ibarretxe-Plan als unvereinbar mit der spanischen Verfassung werteten. Entsprechend wurde der Plan von der überwältigenden Mehrheit der Sozialisten und Konservativen im gesamtspanischen Parlament abgelehnt.

Zwischen 2006 und 2010 änderte sich das politische Klima grundlegend: Zum einen war die Polizei mit ihren Aktionen gegen die ETA wiederholt erfolgreich und die Untergrundorganisation durch interne Spaltungen derart geschwächt, dass 2010 kein Zweifel mehr daran bestand, dass die ETA so kraftlos war wie noch nie zuvor. Zum anderen erlebte das Baskenland im Frühjahr 2009 einen historischen Politikwechsel. Die aus den Regionalwahlen geschwächt hervorgegangene PNV musste - zum ersten Mal überhaupt im Baskenland - die Regierungsgewalt an die Sozialisten abtreten, die eine von den Konservativen tolerierte Minderheitsregierung unter Ministerpräsident Patxi Lopez bildeten. Seither ist an der baskischen Nationalismusfront Ruhe eingekehrt, das politische Leben hat sich "normalisiert". Inzwischen sind sogar wieder spanische Flaggen an institutionellen Gebäuden zu sehen, und die Freistaats- und Referendumspläne sind von der politischen Agenda verschwunden.

Entwicklungen in Katalonien

Während das Baskenland einen allmählichen Normalisierungsprozess durchlebte und die ständige Nationalismusanspannung nachließ, verschärfte sich die Situation in Katalonien. Von den zahlreichen Statutenreformen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in Angriff genommen wurden, erregte der katalanische Fall 2005 die leidenschaftlichsten Diskussionen. Nach vielen Debatten verabschiedete das katalanische Parlament schließlich am 30. September 2005 den Entwurf des neuen Autonomiestatuts mit einer Mehrheit von fast 90 Prozent. Als dieser Entwurf der Verfassungskommission des spanischen Parlaments vorgelegt wurde, stellte diese fest, dass eine ganze Reihe von Reformformulierungen nicht mit der spanischen Verfassung in Einklang zu bringen war. Es folgte eine intensive Überarbeitung des Entwurfs, die im Frühjahr 2006 abgeschlossen wurde. In den Grundfragen konnten die in Madrid regierenden Sozialisten überraschenderweise mit dem katalanischen Parteienbündnis CiU (Convergència i Unio, "Konvergenz und Union") Übereinstimmung herstellen, was andererseits jedoch zur Entfremdung des katalanischen Koalitionspartners ERC (Esquerra Republicana de Catalunya, "Republikanische Linke Kataloniens") von den Sozialisten führte.

Die Hauptauseinandersetzungen drehten sich um Fragen der Kompetenzzuweisung und der Finanzierung sowie um die politisch äußerst kontrovers debattierte Frage, ob Katalonien eine "Nation" oder nur eine "Nationalität" sei. Während die Katalanen - und zwar alle Parteien - auf der Definition als Nation bestanden, lehnten die Vertreter der Zentralregierung unter Hinweis auf die Verfassung, die diese Bezeichnung nur der spanischen Nation vorbehält, eine derartige Terminologie ab - auch in der Befürchtung, dass die Katalanen daraufhin einen eigenen Staat für ihre Nation fordern könnten. Katalanen weisen zwar darauf hin, dass sie den Begriff "Nation" nicht primär staatspolitisch, sondern vor allem historisch-kulturell auffassen. Andererseits benutzen sie ihn aber zur Rechtfertigung weitreichender Selbstbestimmungsansprüche.

Ende März 2006 verabschiedete das spanische Parlament den Entwurf des neuen katalanischen Autonomiestatuts. Ein Vergleich der ursprünglichen Bestimmungen, wie sie im September 2005 vom katalanischen Parlament verabschiedet worden waren, mit der schließlich erzielten Endfassung lässt die Hauptdivergenzen zwischen den nationalistischen Parteien Kataloniens und den gesamtstaatlich orientierten Sozialisten erkennen: Im Bereich des Symbolischen hatte der ursprüngliche katalanische Statutentwurf formuliert: "Katalonien ist eine Nation." Die Endfassung des Textes lautete demgegenüber: "Katalonien als Nationalität übt seine Selbstregierung in der Form einer Autonomen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit der Verfassung und mit dem vorliegenden Statut aus, das seine grundlegende Identitätsnorm darstellt." Der Begriff "Nation" kommt nur noch in der Präambel vor, in der es heißt: "Das Parlament Kataloniens hat sich das Fühlen und Wollen der Bürger Kataloniens zu eigen gemacht und mit großer Mehrheit Katalonien als Nation definiert. Die spanische Verfassung erkennt in ihrem zweiten Artikel die nationale Realität Kataloniens als eine Nationalität an." Gestrichen wurde auch die Formulierung: "Katalonien hält Spanien für einen plurinationalen Staat." Nach langen Debatten akzeptierte die PSOE schließlich, dass die Symbole Kataloniens als "national" bezeichnet werden. Artikel 8 heißt daher: "Katalonien, das in Artikel 1 als Nationalität definiert wird, hat als nationale Symbole die Flagge, den Feiertag und die Hymne."

Ein weiterer Stein des Anstoßes war (und ist) immer wieder die Sprachpolitik. Gerade auf diesem Gebiet reklamiert Katalonien Souveränität, was dazu führt, dass die nordöstliche Region katalanische Sprachnormen in der Verwaltung und im öffentlichen Leben rigide durchsetzt und außerdem versucht, das Katalanische in den Rang einer offiziellen EU-Sprache erheben zu lassen. In der Praxis stoßen die katalanische Sprachpolitik und der Anspruch zum Beispiel der kastilisch-andalusischen Zuwanderer, ihre Kinder auf Kastilisch unterrichten zu lassen, aufeinander und führen zu erheblichen Konflikten. Vor diesem Hintergrund wurde die Debatte über die Regelung der Sprachenfrage im neuen Statut mit besonderem Interesse verfolgt. Im katalanischen Entwurf hatte es geheißen: "Alle Personen in Katalonien haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen Katalanisch und Spanisch zu benutzen sowie das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." In der überarbeiteten Endfassung hieß es: "Alle Personen haben das Recht, die beiden offiziellen Sprachen zu benutzen", und die Bürger "haben das Recht und die Pflicht, sie zu kennen." Allerdings dürfe es "wegen des Gebrauchs der einen oder der anderen Sprache" zu keiner Diskriminierung kommen. Zur Gleichrangigkeit der Sprachen heißt es: "Das Katalanische ist die offizielle Sprache Kataloniens"; "auch das Kastilische ist offizielle Sprache."

Die Diskussion über die Reform des katalanischen Autonomiestatuts hielt die spanische Politik viele Monate lang in Atem. Dass schließlich ein Kompromiss gefunden werden konnte, der eine klare parlamentarische Mehrheit erlangte, wurde von (fast) allen politischen Lagern als Erfolg bezeichnet. Lange konnten sich die Katalanen allerdings nicht an ihrem neuen Autonomiestatut erfreuen. Die oppositionelle Volkspartei stellte nämlich vor dem Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit von nicht weniger als 114 (der insgesamt 223) Artikel des neuen Statuts in Frage. Das von Flügelkämpfen geschwächte Verfassungsgericht benötigte ganze vier Jahre, bis es schließlich Mitte 2010 ein Urteil fällte: Der weitaus größte Teil des neuen Autonomiestatuts wurde für verfassungsgemäß erklärt, aber an einigen ganz empfindlichen Stellen wurden die Grenzen aufgezeigt, die Autonomiestatute nicht überschreiten dürfen: So wurde der Begriff "Nation" in der Präambel fr "rechtlich bedeutungslos" erklärt, und bei der "bevorzugten Stellung" des Katalanischen als offizielle Sprache sowie der Justiz- und Steuerhoheit der Region wurden Einschränkungen verfügt.

Alle in Katalonien vertretenen Parteien - auch die dort regierenden Sozialisten - reagierten empört auf den Richterspruch. Am 10. Juli 2010 demonstrierten über eine Million Menschen in Barcelona gegen das Urteil. Besorgt wiesen politische Beobachter darauf hin, dass durch diese Entwicklung die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien zunehmen würden. Das Urteil des Verfassungsgerichts hat somit das Problem des katalanischen Nationalismus einer Lösung nicht näher gebracht; es hat vielmehr die Spannungen verschärft.

Schlussbemerkung

Die Einrichtung einer mittleren Koordinations- und Politikebene in Form der Autonomen Gemeinschaftsregierungen hat einen wichtigen Beitrag zum friedlichen Übergang Spaniens in die Demokratie geleistet, entspricht darüber hinaus dem Bedürfnis einer entwickelten Gesellschaft nach Dezentralisierung oder Regionalisierung (unabhängig von den Forderungen regionalistischer oder nationalistischer Bewegungen). Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes schien - trotz aller fortbestehenden Probleme - ein friedlicher und ausgehandelter Ausgleich zwischen Zentralstaat und Regionen möglich zu sein. An eine Abschaffung des erreichten Autonomiemodells denkt in Spanien heute niemand; die große Mehrheit der Bevölkerung ist auch - sieht man von den konfliktiven Regionen Baskenland und Katalonien ab - mit dem Grad an erreichter Selbstverwaltung im Wesentlichen einverstanden. Der Hauptzweck der nationalistischen Bewegungen, das Überleben der jeweiligen Identität zu sichern, dürfte erreicht sein. Das Fortbestehen der baskischen, katalanischen oder galicischen Nationalität ist durch die Existenz von Regierungen und Institutionen sichergestellt, die über weit mehr Kompetenzen verfügen, als je eine nicht-zentralstaatliche Exekutive hatte. Wenn das Ziel von Nationalismus darin besteht, die Selbstregierung der eigenen Ethnie zu erlangen, um das Überleben der kollektiven Identität sicherzustellen, dann waren die verschiedenen nationalistischen Bewegungen im spanischen Staat zweifellos erfolgreich.

Der spanische "Staat der Autonomien" hat in den vergangenen drei Jahrzehnten trotz vieler offener Fragen erkennen lassen, dass auch in einem Europa der alten, neuen Nationalismen multikulturelle und multinationale demokratische Staaten eine Chance haben können. Damit es aber unter derartigen Umständen zu einem friedlichen Miteinander kommt, müssen die Staaten ihr Bestreben aufgeben, "Nationalstaaten" im klassischen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Sinne des Wortes zu sein; die substaatlichen Nationalbewegungen wiederum sollten ihre sämtlichen Energien nicht unbedingt auf die Erreichung eines eigenstaatlichen Gehäuses verlegen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zu der sehr umfangreichen Literatur zum katalanischen und baskischen Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Gerhard Brunn, Die Organisationen der katalanischen Bewegung 1859-1959, in: Theodor Schieder/Otto Dann (Hrsg.), Nationale Bewegung und soziale Organisation, Bd. 1, München 1978, S. 281-571; Jordi Solé-Tura, Nacionalidades y nacionalismos en España: autonomía, federalismo, autodeterminacion, Madrid 1985; Rafael Acosta España et al., La España de las Autonomías, 2 Bde., Madrid 1981.

  2. Vgl. Salvador Giner, La estructura social de España, Madrid 1980, S. 58ff.

  3. Zum Vergleich der Widerstandsformen Kataloniens und des Baskenlandes vgl. Peter Waldmann, Katalonien und Baskenland. Historische Entwicklung der nationalistischen Bewegungen und Formen des Widerstands in der Franco-Zeit, in: ders./Walther L. Bernecker/Francisco Lopez-Casero (Hrsg.), Sozialer Wandel und Herrschaft im Spanien Francos, Paderborn 1984, S. 155-192.

  4. Vgl. Fernando Fernández Rodríguez (Hrsg.), La España de las Autonomías, Madrid 1985; Peter Thiery, Der spanische Autonomiestaat. Die Veränderung der Zentrum-Peripherie-Beziehungen im postfrankistischen Spanien, Saarbrücken 1989; José Juan González Encinar/Dieter Nohlen (Hrsg.), Der Staat der Autonomen Gemeinschaften in Spanien, Opladen 1991.

  5. Vgl. Diputacion Provincial de Cordoba (Hrsg.), Nacionalismo y regionalismo en España, Cordoba 1985.

  6. Zum Separatismus-Problem im Baskenland und zu ETA vgl. Robert S. Clark, The Basque Insurgents. ETA 1952-1980, Madison 1984; Peter Waldmann, Militanter Nationalismus im Baskenland, Frankfurt/M. 1990.

  7. Vgl. Juan J. Linz, Spanish Democracy and the Estado de las Autonomías, in: Robert A. Goldwin et al. (eds.), Forging Unity out of Diversity. The Approaches of Eight Nations, Washington 1989, S. 260-303.

  8. Die Entwicklung der Nationalismusproblematik im vergangenen Jahrzehnt ist zusammengefasst bei Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 320-330.

  9. Vgl. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983.

Dr. phil., geb. 1947; Professor für Auslandswissenschaft (romanischsprachige Kulturen) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Findelgasse 9, 90402 Nürnberg. E-Mail Link: bernecker@wiso.uni-erlangen.de