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Zwanzig Jahre danach - Essay | Deutsche Einheit | bpb.de

Deutsche Einheit Editorial Zwanzig Jahre danach - Essay Diskurse der deutschen Einheit Deutschland nach der Wiedervereinigung Von der privilegierten und blockierten zur zukunftsorientierten Transformation Wirtschaft in Ostdeutschland im 21. Jahrhundert Deutsche Kultur im Einigungsprozess Hoytopia allerorten? Von der Freiheit zu bleiben

Zwanzig Jahre danach - Essay

Konrad Weiß

/ 9 Minuten zu lesen

Auch Zeitzeugen sind nicht davor gefeit, die Geschichte berichtigen zu wollen. Aber dass sich manche Legenden als unausrottbar erweisen würden, das schien vor zwanzig Jahren undenkbar.

In der Nacht zum 3. Oktober 1990, als die Wiedervereinigung vollzogen wurde, stand ich am Rande einer lauten Menschenmenge auf dem Pariser Platz in Berlin. Ich hatte am Abend in Leipzig einen Vortrag gehalten und war dann, so schnell es mein alter Dacia hergab, nach Berlin gefahren: Ich wollte um Mitternacht am Brandenburger Tor sein. Mehr als ein Jahr lang hatte ich auf diesen Augenblick hingearbeitet: in der Bürgerbewegung Demokratie Jetzt, am Runden Tisch, in der Volkskammer. Auch wenn der Weg zur Einheit ein anderer war, als ich ihn mir gewünscht und vorgestellt hatte, auch wenn der Einigungsvertrag in vielen Punkten so problematisch war, dass ich ihn zuletzt in der Volkskammer abgelehnt hatte - das Ziel, die Wiedervereinigung, war auch meines gewesen. Und nun stand ich Unter den Linden, während aus der Ferne vom Reichstag her Bruchstücke erst der Reden, dann der Nationalhymne herüberklangen und das Brandenburger Tor von einem Feuerwerk illuminiert wurde.

Ich betrachtete aufmerksam die Menschen um mich herum, die auf ganz verschiedene Weise an dem Ereignis teilhatten. Die einen still für sich und mit Tränen in den Augen. Andere versuchten ungeübt die neue Nationalhymne mitzusingen - so mancher, wie mir schien, sang mit den alten Worten. Andere waren fröhlich und ausgelassen. Nur wenige, die wohl dem Bier schon zu reichlich zugesprochen hatten, störten den Augenblick mit Grölen. Und ich fragte mich also: Wie wird das wiedervereinigte Land, dieses Neuland, wohl sein?

Es muss uns nicht verwundern, hatte ich am Abend in Leipzig gesagt, was mit uns Deutschen geschieht. So verlaufen doch alle Abenteuer: Sie beginnen mit der Eruption der Energien, strahlen auf andere aus und ziehen viele in ihren Bann. Der Gipfel wird bezwungen, die Siege werden laut und glücklich gefeiert. Doch bald beginnt der mühsame Alltag, in dem die Liebe, die Abenteuer, die Revolutionen ersterben. Und je langsamer die Schritte werden, desto mehr klammern wir uns an die kostbaren Erinnerungen, verkünden und verteidigen unsere gewonnene Weisheit, ohne dass wir mit derselben Kühnheit an sie glaubten.

Jetzt, zwanzig Jahre später, weiß ich: Ich habe Recht behalten, und ich habe mich geirrt. Für mich ist das Jahr zwischen Friedlicher Revolution und Wiedervereinigung noch immer ganz nah und lebendig und etwas ganz und gar Einmaliges. Aber ich bin auch demütiger geworden und weiß, dass Transformationen, auch wenn das früher nicht so hieß, in der Geschichte eher die Regel denn die Ausnahme sind. Die Zeitgenossen der Freiheitskriege oder der Märzrevolution werden ihre Revolutionen mit der gleichen Begeisterung, dem gleichen Gefühl der Einmaligkeit erlebt haben wie wir die unsere. Es gibt genug Zeugnisse dafür. Doch auch ihre Leidenschaft ist irgendwann erkaltet, auch ihre Ideen und Ideale haben manchmal zu anderem geführt, als sie gewollt hatten. Das mindert unser Erleben nicht, es ordnet es ein. "Es ist nicht wahr/daß Geschichte/gefälscht wird/Sie hat sich großenteils/wirklich/falsch/zugetragen/Ich kann das bezeugen:/Ich war dabei", heißt es in einem Gedicht von Erich Fried, das immer auf meinem Schreibtisch liegt. Und: "Doch leicht begreiflich/daß jetzt/die verschiedenen Seiten/verbesserte Fassungen/nachliefern/die das Geschehene/nicht/so sehr berichten/wie berichtigen wollen."

Davor, die Geschichte nicht berichten, sondern berichtigen zu wollen, sind weder Historiker noch Politiker gefeit, erst recht nicht Zeitzeugen. Aber dass in unserer rationalen Welt die Legenden so lebhaft wuchern und sich manche als schier unausrottbar erweisen würden, das habe ich mir damals in der Nacht vor dem Brandenburger Tor wirklich nicht träumen lassen.

Zu diesen hartnäckigen Legenden gehört, die Bürgerbewegungen des Herbstes 1989 hätten einen "Dritten Weg" gewollt und seien allesamt Einheitsgegner gewesen. Nun hat es sicher unter uns Einheitsskeptiker gegeben; die gab es auch in der CDU und erst recht bei den Sozialdemokraten. Die große Mehrheit der Bürgerrechtler aber wollte die Einheit. Doch wir wollten sie auf dem zweiten Weg, den das Grundgesetz dafür vorgesehen hatte, dem konstitutionellen Weg nach Artikel 146. Die Mehrheit in beiden deutschen Parlamenten und die beiden Regierungen aber hatten sich für die administrative Variante entschieden, also den Beitritt nach Artikel 23. Beide Wege waren denkbar, beide waren legitim. Wir hatten gehofft, dass der von uns präferierte Weg den Ostdeutschen manche Verwerfung ersparen könnte. Und dass der demokratische Prozess einer Verfassungsdebatte zu mehr Mündigkeit und zur nachhaltigen Aneignung demokratischer Ideen und Werte führen würde. Tatsache ist jedenfalls, dass die Mehrheit der Deutschen im Osten wie im Westen es dann anders wollte als die Mütter und Väter der Friedlichen Revolution.

Unser Ziel im Herbst 1989 war es gewesen, die Macht der Kommunisten zu brechen und die DDR zu demokratisieren. Aus dem Unrechtsstaat eine Rechtsstaat zu machen, in dem Freiheit herrscht und die Menschen- und Bürgerrechte respektiert werden: Dafür die Voraussetzungen zu schaffen, war unsere Aufgabe in den Bürgerbewegungen und am Runden Tisch. Daran haben wir bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990 unbeirrt gearbeitet. Mit dem Tag der ersten freien Wahl in der DDR hatten wir unser Ziel erreicht. Danach, so geht eine zweite Legende, hätten die Regierungen Kohl und de Maizière alles Weitere erledigt. Dass aber die Wiedervereinung von beiden Parlamenten, von der Volkskammer und vom Deutschen Bundestag, aktiv gestaltet wurde, ist zu wenig bekannt und wird kaum gewürdigt. Es war eben kein bloßer administrativer Vorgang, sondern ein demokratischer Prozess. Es hat in beiden Parlamenten die Ausschüsse Deutsche Einheit gegeben, die federführend waren. Und beide Parlamente hatten ein gewaltiges Arbeitspensum zu leisten.

Parlamentarier waren überdies Mitglied in der Verhandlungskommission zum Einigungsvertrag; ich war es für das damals noch nicht konstituierte Land Brandenburg. Das Ergebnis allerdings war für mich so unbefriedigend, dass ich den Einigungsvertrag in der Volkskammer abgelehnt habe. Einer meiner wesentlichen Kritikpunkte war, dass keine umfassende und abschließende Regelung für die Rückgabe des in der Zeit des Nationalsozialismus zwangsweise "arisierten" Eigentums getroffen worden war. Und dass das Rehabilitierungsgesetz der Volkskammer für die Opfer des SED-Regimes im wiedervereinigten Land nur in Bruchstücken fortgelten sollte. Ein anderer lag darin, dass wesentliche Nachbesserungsaufträge der Volkskammer, insbesondere zum Eigentumsrecht, zu sozialen Rechten und zur Neuordnung des Rundfunks, unberücksichtigt geblieben waren. "Ich will die Einheit Deutschlands", sagte ich damals im Plenum, "und ich habe engagiert dafür gearbeitet. Aber dieser Vertrag hat in seiner endgültigen Fassung so wesentliche Mängel, daß er in vielem den Bürgerinnen und Bürgern, denen ich Rechenschaft schuldig bin, schadet."

Die dritte und hartnäckigste der seit zwanzig Jahren wuchernden Legenden und zugleich die merkwürdigste aber lautet, die erst in PDS, dann in Linkspartei umbenannte SED sei die legitime Vertreterin ostdeutscher Interessen und die wahre Hüterin sozialer Gerechtigkeit. Das ist nun wirklich eine "verbesserte" Fassung der Geschichte, die schwer zu ertragen ist. Allerdings ist diese Legende kein Wildwuchs, wie viele naiv meinen, sondern das Ergebnis gezielter Agitation und Propaganda, jahrelang geschickt gestreut und unters Volk gebracht. Bereits in ihrem Programm aus dem Jahr 1993 behauptete die PDS unverfroren: "Die Ursprünge unserer Partei liegen im Aufbruch des Herbstes 1989 in der DDR" - als hätte es nie eine SED gegeben, als sei die PDS nicht die politische und juristische Nachfolgerin und Nutznießerin der DDR-Staatspartei. Die Relativierung der eigenen totalitären Vergangenheit setzt sich fort und ist auch noch im jüngsten Programmentwurf der Linkspartei zu finden. Ich habe mich immer gefragt, warum so viele Ostdeutsche die Nachfolger einer Partei, deren Terror sie jahrzehntelang zu ertragen hatten, trotz der offensichtlichen Demagogie immer noch wählen. Und wie sie den gewissenlosen Kadern von gestern heute ein soziales Gewissen zubilligen können.

Eine andere Facette dieser Geschichtsklitterung ist das schwindelerregende Tempo bei der Transformation der Blockparteien, also der kommunistischen CDU, der LDPD, der Bauernpartei, der NDPD, zu demokratischen Parteien. Ihre Exkulpation haben sie nur deshalb so billig bekommen, weil sie als Mehrheitsbeschaffer gebraucht wurden. Die Auseinandersetzung mit ihrer roten Vergangenheit haben sie bis heute nicht geleistet. Das hat zum Niedergang und Ansehensverlust der demokratischen Parteien im wiedervereinigten Deutschland beigetragen. Ich habe Elektriker gelernt, und weiß, dass auf der einen Seite eines Transformators nur das herauskommt, was auf der anderen, stärker oder schwächer, eingespeist worden ist. Und dass man die Transformation jederzeit umkehren kann. Auch wenn man technische Prozesse nicht auf gesellschaftliche übertragen sollte, richtig ist jedenfalls, dass das Heute immer auch vom Gestern abhängig ist.

In den vergangenen zwanzig Jahren sind Bibliotheken vollgeschrieben worden mit Analysen und Berichten, was beim Einigungsprozess und danach alles falsch gemacht worden ist. Natürlich gab und gibt es Defizite. Natürlich wurden Fehler, auch gravierende, gemacht. Aber das, was wir gewonnen haben, wiegt ungleich schwerer, allem voran die Freiheit. Wer wie ich die längste Zeit seines Lebens in einem Land gelebt hat, in dem der Staat sich anmaßte, alles, aber auch wirklich alles für "seine" Untertanen zu regeln und zu entscheiden, ihnen willkürlich Vorschriften zu machen und beliebig Grenzen zu setzen, sie zu gängeln, sie abhängig und unmündig zu halten, der weiß, dass es kein höheres Gut für den Menschen gibt als die Freiheit. Ich möchte schreien, wenn ich heute von Achtzehnjährigen höre, wie großartig die DDR und ihr Sozialismus gewesen seien, wie sicher, sozial und gerecht es dort zugegangen sei. Dass wir es nach der Friedlichen Revolution nicht geschafft haben, das Feuer der Freiheit für alle lebendig zu halten, deprimiert mich zutiefst.

Zu dem, was die Ostdeutschen gewonnen haben, gehören Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Respektierung der Menschenrechte. Ich halte es für fatal, wenn dem der Verlust des Arbeitsplatzes oder soziale Unsicherheit entgegengehalten wird. Denn die "sozialen Errungenschaften" der DDR hatten einen unverantwortlich hohen Preis: Die Arbeitsplätze waren nur deshalb sicher, weil die Wirtschaft total reguliert war und sich das Angebot nicht an der Nachfrage orientierte, sondern an Parteitagsbeschlüssen. Die Mieten waren nur deshalb so billig, weil die Häuser niemandes Eigentum waren und verfielen. Das Gesundheits- und Sozialwesen schien nur deshalb für alle gleich, weil die Parteifunktionäre und Regimegünstlinge ihre zahlreichen großen und kleinen Privilegien sorgfältig verbargen. Und wenn Menschen in der DDR sich wohlgefühlt haben, weil der Staat für sie dachte und handelte und ihnen ein Auskommen gab, dann zeugt das nur davon, wie sehr sie in den Jahrzehnten der Diktaturen deformiert worden waren.

Zum großen und unschätzbaren Gewinn der Einheit zählt für mich, dass wir Stabilität und Frieden haben und eingebunden sind in die Gemeinschaft der Europäer. Ich habe in den Jahren nach dem Krieg schmerzlich genug erfahren müssen, was es heißt, Deutscher zu sein. Ich bin dankbar für die Solidarität, die wir Ostdeutschen in der Friedlichen Revolution aus den ehemaligen Feindländern erfahren haben, von Israelis, Polen und Russen, von Franzosen und Amerikanern. Die Nacht des Mauerfalls war für mich die erste Nacht des Friedens. Und ich war und bin dankbar, dass wir Ostdeutschen, anders als unsere ost- und mitteleuropäischen Freunde, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union so bald bekommen haben. Während Polen oder Ungarn oder Litauer gewaltige Opfer bringen mussten, um die Voraussetzungen für die Aufnahme zu schaffen, wurde sie uns geschenkt: Mit dem Tag der Wiedervereinigung waren wir Mitglied. Auch das haben heute viele vergessen oder wollen es nicht mehr wahrhaben.

Als ich vor zwanzig Jahren vor dem Brandenburger Tor stand, konnte ich mir nicht vorstellen, dass so viele Ostdeutsche so bald die gewonnene Freiheit und Demokratie gering schätzen würden. Dass sie sich diese kalte, graue, enge DDR schön reden und ihr nachtrauern würden. Aber auch das gehört offenbar unausweichlich zu jedem Transformationsprozess. Ich hoffe zwar, dass der unsere, der Weg vom Totalitarismus zur Demokratie, unumkehrbar ist. Aber ich bin mir längst nicht mehr sicher, dass Menschen wirklich aus der Geschichte lernen können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Erich Fried, Die Engel der Geschichte, in: Gesammelte Werke, Berlin 1993, Bd. 2, S. 491.

  2. Volkskammer der DDR, 10. Wahlperiode, 36. Tagung vom 20.9.1990, S. 1751; online: http://webarchiv.bundestag.de/volkskammer
    /dokumente/protokolle/1036.pdf (15.6.2010).

  3. PDS (Hrsg.), Programm der Partei des Demokratischen Sozialismus, Berlin 1993, S. 1.

Geb. 1942; bis 1990 Regisseur im DEFA Studio für Dokumentarfilme, Berlin; 1989 Mitbegründer und Sprecher der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt"; Abgeordneter der frei gewählten Volkskammer und des Deutschen Bundestags; seit 1995 freier Publizist, Kreuzstraße 18b, 13187 Berlin. E-Mail Link: k.weiss@bln.de