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Die zweite Begründung der europäischen Integration - Essay | Europa nach Lissabon | bpb.de

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Die zweite Begründung der europäischen Integration - Essay

Ludger Kühnhardt

/ 15 Minuten zu lesen

Die EU durchläuft eine Phase der Konsolidierung. In der Tiefe aber vollzieht sich ein grundlegender Vorgang, der als zweite Begründung der europäischen Integration bezeichnet werden kann.

Einleitung

Am 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten. Er beendet ein Jahrzehnt intensiver Beratungen über die Revision der vertraglichen und institutionellen Grundlagen der Europäischen Union (EU). Das Inkrafttreten des Vertrags beendet mancherlei Unsicherheit über den Fortgang der Institutionen und Entscheidungsfindungsprozesse in der EU. Das politische Gestaltungsleben in der EU wird durch die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon nicht unbedingt einfacher. Aber nun herrscht Klarheit über die Regeln, mit denen die EU durch die nächsten Phasen eines Prozesses geht, dem man mit Fug und Recht als zweite Begründung der europäischen Integration bezeichnen kann.

Die ursprüngliche Begründung der europäischen Integration hatte im Friedens- und Aussöhnungsprojekt ihren Kern, beginnend mit der deutsch-französischen Aussöhnung und endend in der friedlichen und freiheitlichen Vereinigung Europas nach dem Ende des Kalten Kriegs. In der nun begonnenen Phase ihrer zweiten Begründung findet die europäische Integration den stärksten Antrieb in der Behauptung Europas im Zeitalter der Globalisierung und in dessen Mitgestaltung durch eine weltfähig gewordene EU. Die ursprünglichen Prozesse der europäischen Integration vollzogen sich als Eliteprojekt, vorangetrieben durch die regierenden Akteure in den Mitgliedstaaten der EWG bzw. der EU. In der nun begonnenen Phase ihrer zweiten Begründung findet die europäische Integration ihren wichtigsten Auftrag darin, das Verhältnis der europäischen Institutionen zu den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu erneuern. Vor diesem Hintergrund haben die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 - ein gutes halbes Jahr, bevor der Vertrag von Lissabon ratifiziert wurde - drei wesentliche Ergebnisse hervorgebracht:

  1. Die Institutionen der EU sind stabil. Sie funktionieren mit und ohne Vertragsreformen, und sie sind zur erforderlichen Selbsterneuerung fähig. Nach einem Jahrzehnt erratischer Vertragsrevisionen ist die EU hinsichtlich ihrer institutionellen Reformen in eine dezidierte Phase der Konsolidierung eingetreten. Dies muss kein Schaden für den weiteren Fortgang der europäischen Integration sein, bestimmt aber das künftige Tempo und die bevorstehende Richtung. Die europäische Integration wird in den kommenden Jahren von Vorsicht, von Konsolidierung und Neujustierung bestimmt sein, nicht von großen Sprüngen oder der Verfolgung umfangreicher oder gar spektakulärer Integrationsprojekte.

  2. Die Distanz zwischen dem Europa der Institutionen und dem der Bürger bleibt. Die niedrige Beteiligung bei den Europawahlen war Ausdruck dieser Distanz, die ihre wichtigste Ursache in fehlenden intermediären Strukturen zwischen dem Europa der Institutionen und dem der Bürger hat. Vor allem haben die 7. Direktwahlen zum Europäischen Parlament erneut deutlich gezeigt, woran es vor allem fehlt: an einem einheitlichen europäischen Wahlrecht und an europäischen Parteien, die mit explizit unterschiedlichen, aber jede Partei europaweit verbindenden Ordnungskonzepten um das Vertrauen der Wählerschaft werben können.

  3. Die Mehrheit der Unionsbürgerinnen und -bürger, die an die Wahlurnen gegangen sind, haben sich für eine moderat konservative Ausrichtung der künftigen europäischen Politik entschieden. Im Lichte der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise sind Sicherheit und Berechenbarkeit die Hauptantriebe des Wählerverhaltens. Antieuropäische Sentiments wurden zuweilen von den Medien stärker inszeniert als an den Wahlurnen bestätigt. Gleichwohl hat sich das euroskeptische Lager und jenes, das nationale Identitätswahrung vor europäische Gemeinschaftsbildung stellt, ebenso konsolidiert wie die exponiert linke, kapitalismuskritische Strömung in der europäischen Gesellschaft.

Einer der unzweifelhaften Gewinner der institutionellen Reformprozesse seit den 1980er Jahren ist das Europäische Parlament. Die Erweiterung des Entscheidungssystems der qualifizierten Mehrheit im Europäischen Rat - mit dem Reformvertrag von Lissabon auch in den so wichtigen Fragen der Innen- und Rechtspolitik - hat das Parlament in den meisten Fragen der europäischen Politik als vollumfänglichen Mitgesetzgeber etabliert. Ein großes Defizit bleibt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die im Kern zwischenstaatlich organisiert bleibt. Ein zweites großes Defizit bleibt in Bezug auf Steuer- und Finanzierungsfragen, die weiterhin der Einstimmigkeit und damit dem Primat des Europäischen Rates unterliegen. In der EU gilt mithin noch immer die Umkehrung des Motivs, das seinerzeit den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ausgelöst hat: representation without taxation.

Das Europäische Parlament ist Zug um Zug in seiner Rolle als wirkungsvolle Autorität in der europäischen Politik gewachsen. Zu diesem Selbstverständnis gehört auch, dass es sich in Bezug auf die Bedeutung von Symbolpolitik innovativ und wegweisend zeigt: Obgleich die Symbole der EU aus dem Lissabonner Vertrag herausseziert wurden, werden Staatsgäste im Parlament konsequent mit ihrer nationalen und mit der Europahymne (Beethovens "Ode an die Freude") empfangen; neben ihnen und dem jeweiligen Parlamentspräsidenten befinden sich die Fahnen der EU und des Gastlandes.

In der inneren Logik der politischen Entscheidungsabläufe hat das Europäische Parlament seinen etablierten und geachteten Platz gefunden. Es wird kein Machtarrangement und keine relevante inhaltliche Entscheidung mehr getroffen, ohne dass das Parlament formell oder informell einbezogen worden ist. Die Kluft zwischen diesem Machtfaktor und seiner Wahrnehmung, vor allem aber auch seiner Anerkennung in der europäischen Öffentlichkeit, ist frappierend. Sie gehört zu den zentralen Defiziten, mit denen die europäische Einigung heute konfrontiert ist. Es bleibt zwingend, über die allgemein postulierte Konsolidierung der EU hinaus die Kluft zwischen den Unionsbürgern und den Institutionen der Integration, vor allem dem diese Bürger am unmittelbarsten repräsentierenden Parlament, zu überwinden. Ein Schlüssel dazu bleibt, worüber schon seit Jahren und Jahrzehnten räsoniert wird: die stärkere Politisierung der europäischen politischen Diskurse, mehr Kontroversen um politische Standpunkte, Ordnungsvorstellungen und Zukunftsoptionen.

Deutsche Befindlichkeiten

Überlagert wurde dieser mögliche Ausblick auf die Zukunft der EU im größten Mitgliedsland durch das Urteil des höchsten deutschen Gerichts über die Rechtmäßigkeit des Reformvertrags von Lissabon: Am 30. Juni 2009 erklärte das Bundesverfassungsgericht den Vertrag für grundgesetzkonform, verlangte aber ein verbessertes Zustimmungsgesetz durch den Deutschen Bundestag, in dem dieser seine Rechte gegenüber der europäischen Ebene stärker zu betonen habe. Andernfalls drohe ein Verlust an parlamentarischer Substanz der deutschen Demokratie. Sogleich begannen lebhafte, zumeist europakritische Diskussionen um die Auslegung des Urteils. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu übersehen, dass die derzeit wieder reflexartig vorgetragene Kritik an der EU - nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Mitgliedstaaten - selten Raum für Abwägungen in einer Reihe von fundamentalen Einzelfragen wie den folgenden lässt.

Rechtseinheit.

Ohne den acquis communautaire, den gemeinschaftlichen Rechtsbestand in der EU, wären die Vorzüge des Gemeinsamen Marktes nicht vorstellbar, dem Deutschland einen erheblichen Teil seines Wohlstands verdankt. Über 60 Prozent des deutschen Außenhandels gehen in die Partnerländer. Ohne gemeinsame Regeln, die nicht mit politischer, sondern mit rechtlicher Verbindlichkeit hergestellt werden und mithin den Primat des Europarechts erfordern, wäre der Gemeinsame Markt kaum vorstellbar. Dass in Einzelfragen eine Abwägung der Rechtsebenen erfolgen muss, ist aus dem nationalen Bundesstaat allbekannt und weniger spektakulär, als in Sachen EU und der Rolle des Europäischen Gerichtshofs immerfort getan wird. Der Disput ergibt wenig Sinn als Grundsatzstreit um den Primat des Europarechts oder denjenigen des nationalen Rechts. In Einzelfällen kann sowohl eine Rückverlagerung von Kompetenzen auf die nationale Ebene erfolgen wie in Einzelfällen eine aufsteigende Kompetenzverlagerung auf die europäische Ebene vernünftig sein. Dies ist eine einzelfallspezifische Abwägungsfrage, aber kein theologisches Glaubensdiktum, das durch eine rechtsdogmatische Außerkraftsetzung des Primats des Europarechts beantwortet werden könnte. Die Kompetenzabwägung wird weder durch einen europäischen Vertrag noch durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil oder durch eine Reanimation der nationalen Parlamentsautorität mit finaler Wirkung zu beantworten sein. Das Hin und Her im Ringen um Kompetenzen, das für jede föderative Struktur, in der auf mehreren Ebenen regiert wird, symptomatisch ist, wird auch in der EU anhalten. Es überrascht daher kaum, dass sich sogleich auch einige Bundesländer zu Wort gemeldet und ein stärkeres Mitspracherecht in europäischen Fragen eingefordert haben.

Gerechtigkeit.

In der deutschen Diskussion wird die Gerechtigkeitsfrage allzu häufig auf ihre verteilende Dimension reduziert. Das ebenso zentrale Strukturelement ausgleichender Gerechtigkeit wird gerne in den Hintergrund gedrängt. Es stimmt, dass Deutschland mit 17 Prozent der EU-Bürgerschaft nur 13 Prozent der Stimmen im Europäischen Parlament hat und dass Deutschland 20 Prozent zum EU-Budget beisteuert, aber nur 12 Prozent an Rückflüssen erhält. Zu selten aber wird darauf hingewiesen, dass in jeder föderativen Ordnung der Schutz der kleineren Teile und die Solidarität mit den schwächeren Teilen stets Vorbedingung für das Funktionieren des Ganzen sind. Niemand käme etwa in den USA auf die Idee, dass Nebraska weniger Senatoren stellen solle als das bevölkerungsreichere Kalifornien.

Zahlmeistervorurteil.

87 Euro pro Kopf der Bevölkerung zahlen die Deutschen an die EU. Gemessen an den Vorteilen des Gemeinsamen Marktes, der Exportgewinne und der reduzierten Transaktionskosten infolge der Gemeinschaftswährung sind diese Kosten zumindest gegen den Nutzen der EU zu rechnen. Stattdessen aber werden sie wieder und wieder als Argument gegen "die nicht gleichheitsgerechte Union" ins Feld geführt. Aus den deutschen Diskussionen sollte doch hinreichend erkannt sein, dass die "Angleichung der Lebenschancen", von der das Grundgesetz spricht, nicht zu einer statischen, das heißt: zu einer verteilenden Gerechtigkeit führen kann, ohne Bürokratismus und Innovationskosten zu evozieren. Im Übrigen: In Zeiten der wirtschaftlichen Schwächung sinkt automatisch der deutsche Anteil am EU-Budget. Weder bei der Stimmgewichtung oder der Sitzverteilung noch in den Haushaltsfragen ist ein böswilliger antideutscher Mechanismus am Werk. Vielmehr ist die EU ein komplexes, fein ziseliertes System föderativen Regierens auf mehreren Ebenen und unter Akteuren mit einer asymmetrischen Verteilung von Bevölkerung und Wirtschaftskraft. Dabei kann es immer nur zu Annäherungswerten an die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit kommen. Alles andere zu suggerieren, wäre illusionär.

Union.

Die EU ist bewusst als Union konzipiert, und es ist geboten, gelegentlich daran zu erinnern. Von der EU als "Staat" spricht niemand außer jenen, welche die EU in die Schranken weisen oder gar diskreditieren wollen. Als Union ist die EU per se ein aus unterschiedlichen Teilen zusammengesetztes Gemeinwesen und insofern eine lose Föderation. Die Frage lautet nicht, ob sie Föderation ist oder nicht, sondern wie lose oder wie zentralisiert sich die föderale Struktur darstellt. Dieses Verhältnis wird in allen Föderationen und Unionen dieser Welt immer wieder im Alltag des Ringens um Interessen, Rechtsdeutung und Kompetenzabwägung austariert. Auch in der EU ist genau das der Fall. Die Dämonisierung dieser normaldemokratischen Vorgänge durch die Behauptung, die Staatswerdung Europas müsse verhindert werden, ist übertrieben und unsachlich. In der EU besteht ein System des Regierens auf mehreren Ebenen, zwischen denen das Ringen um Interesse, Einfluss und Ausgleich immer dazugehören wird. Das ist das genuin Neue an der EU, die eben genau deshalb kein Staat sein will, sein muss und sein wird.

Zukunftsfragen

Die 2009 begonnene Wahlperiode des Europäischen Parlaments und das 2010 begonnene Mandat der Kommission setzen ein am Ende eines teilweise faszinierenden, schließlich aber auch zermürbenden und ermüdenden institutionellen Reformprozesses. Das Wort des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso, Europa müsse ein Europa der Resultate werden, bleibt der wichtigste Maßstab für die institutionellen Akteure. Damit ist noch nichts über die strategische Sinnhaftigkeit von Entscheidungen ausgesagt, die lediglich dem Diktum des Willens zum Resultat folgen, möglicherweise aber keine sinnvollen und nachwirkenden strategischen Effekte hervorbringen können. Die EU muss in eine neue und breit angelegte Strategiediskussion eintreten, wie sie die weitere Entwicklung der europäischen Gesellschaft befördern will.

Dazu ist an allererster Stelle das nötig, was den meisten Mitgliedstaaten schon abhanden gekommen ist und erst recht auf der Ebene der EU intellektuelle Mangelware ist: ein europäisches Gesellschaftsbild, welches das Bewusstsein für transnationale Solidarität stärken kann. Diffus sind häufig die Bausteine des Menschenbilds in Europa geworden. Damit aber fehlen entscheidende Ecksteine für den Bau eines Gesellschaftsbilds. Politik droht pragmatisch, vielleicht sogar opportunistisch und populistisch zu werden.

Die Diskussion über Ursachen und Folgen der Weltwirtschafts- und Finanzkrise hat zu zwei unterschiedlichen Akzentuierungen der Argumentationslinien in Europa geführt. Auf der einen Seite wird von Marktversagen ausgegangen, das die Stärkung der Autorität und der Gestaltungsreichweite des Einzelstaates erforderlich mache bzw. legitimiere. Die EU wird dabei gewöhnlich als Ebene der Koordination und der regulatorischen Unterstützung gesehen. Auf der anderen Seite stehen die Stimmen jener (offenbar der Minderheit in Europa), welche die Ursachen der Krise in einem langjährigen Staatsversagen sehen. Regulatorische Maßnahmen, auch rechtliche Sanktionen werden akzeptiert, wo nötig, doch stets mit dem Ziel der Wiederherstellung der Marktfähigkeit und nicht mit dem Ziel der Selbstermächtigung des Staates. Auch in dieser Perspektive bleibt die Ebene der EU der Referenzpunkt für Koordination und Regulation. Zugleich aber wird der Neuvermessung der Stärke des Nationalstaats um den Preis eklatanter Verschuldung und ungebührlicher Eingriffe in die Elementarkategorien marktwirtschaftlicher Ordnungsbegriffe widersprochen (Ablehnung von Verstaatlichung, Begrenzung von Staatssubventionen, Skepsis gegenüber protektionistischen Aktionen und gegenüber der Tabuisierung von Insolvenzen im Namen sozialer Gerechtigkeit und von undurchschaubarem Arbeitsplatzschutz).

Es wird eine Testfrage für Europa werden, ob sich die EU als Zukunftsraum volkswirtschaftlich und ordnungspolitisch so aufstellt, dass sie von einem Begriff der Ordnung der Freiheit ausgeht, oder ob sie sich von einem Begriff der Ordnung der Sicherheit leiten lässt. Soziale Grundsicherung ist elementares Solidaritätsgebot in modernen Gesellschaften. Soziale Gerechtigkeit aber kann nicht länger als neidinduzierte Umverteilungsgerechtigkeit definiert werden, wenn Europa ein dynamischer und kreativer Raum sein will, der im Wettbewerb mit den anderen dynamischen Räumen der Erde bestehen und zugleich seine Aufgaben der sozialen Solidarität und Inklusion im Innern erfüllen will. Ein Europa, das nur mehr als Mangelgesellschaft Ressourcenumverteilung und die Neuauflage etatistischer Grundkonzepte betreibt, gefährdet die Zukunft seiner Kinder und Jugendlichen, auch wenn es das Gegenteil anstrebt.

Die andere große Solidaritätsanfrage an die europäische Gesellschaft ergibt sich aus der Zuwanderung. Solidarität mit dem Fremden und Offenheit in der Anerkennung gesellschaftlicher und kultureller, vor allem auch religiöser Vielfalt sind zentrale Stichworte, die in diesem Zusammenhang auf die Probe gestellt werden. In diesem Themenfeld zeigt sich der Mangel an einem europäischen Normbegriff und an einem Universalismusbegriff, der auf Europa selbst bezogen werden kann, besonders eklatant. Einwanderer kommen in ein spezifisches europäisches Land, nicht in ein allgemein definiertes Europa. Wie sollen sie Europäer werden, wenn von ihnen erwartet wird, Deutscher, Spanier oder Däne zu sein? Besonders komplex sind die Implikationen dieser Frage für die Akzeptanz islamischer Migrationsgemeinschaften in den Staaten der EU. Es kann nur um die Option gehen, in einem gemeinsamen Rechtsraum zu leben, anstatt islamische Sonderrechtsräume zu etablieren (und sei es nur durch die Akzeptanz der Scharia im Familienrecht). Dies wäre das Ende der gesellschaftlichen Einheit und der kulturellen Friedensfunktion des allgemein verbindlichen Rechts. Andererseits ist es schwierig für Zuwanderer, nationale Sonderentwicklungen und europäische Gemeinschaftsnormen zu trennen, wenn dies vielen Europäern in ihren einzelnen Nationalstaaten schon kaum gelingt.

Hier liegt ein weites, unbearbeitetes Feld der Neuvermessung eines an Rechtseinheit, Kultur- und Kultusfreiheit, an Vielfalt und Gemeinwohlverpflichtung ausgerichteten Zusammenlebens vor. Die mühevolle, aber würdige Aufgabe der Entwicklung eines europatauglichen Gesellschaftsbegriffs steht erst an seinem Anfang: methodisch, kategorial, in Bezug auf die Reichweite seiner Geltungskraft.

Inspirieren und gestalten

Die EU wird es sich nicht leisten können, die gegenwärtige Phase der Konsolidierung vorbeiziehen zu lassen, ohne gestalterische Akzente zu setzen. Die 2010 eingesetzte EU-Kommission und das seit 2009 amtierende Parlament stehen vor der Herausforderung, jenseits bisher erprobter Wege und Rituale der europäischen Politik neue Impulse zu geben. Dazu müssen sie sich einerseits selbstkritisch befragen (und befragen lassen), andererseits den Willen projizieren, das heißt: inspirieren und gestalten zu wollen. Für ein System des Regierens, das auf Konsens, Harmonie und Ausgleich angelegt ist, bleibt dies die Quadratur des Kreises. Die Schwierigkeiten, die mit diesem Neuaufbruch verbunden sind, zeigen sich im Rückblick: Die Perspektive europaweiter politischer Parteien wird seit Jahren diskutiert, ebenso die Frage nach einem europäischen Wahlrecht oder die Frage einer Direktwahl des EU-Präsidenten.

Immer wieder verfangen sich die Akteure der europäischen Politik in selbstgesetzten Rahmenbedingungen ihres Handelns. Dies ist einerseits ein großer Schutzmechanismus gegenüber politisch-institutioneller Willkür. Es ist andererseits die Quasi-Garantie für Langsamkeit, ja Lethargie und Innovationshemmung. Das Ergebnis: Europa will sein, was es nicht werden kann, solange es nicht wird, was es sein muss.

Das Ganze wird derzeit als Reiz-Reflex-Schema verhandelt: Die EU erwartet Reize, um reflexartig reagieren zu können. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Akteure von dieser Attitüde lösen und nach dem gestalterischen Auftrag fragen, der ihnen übertragen worden ist: der Ordnung des freien menschlichen Zusammenlebens einen Rahmen zu geben, der zur Erneuerung befreit, indem er zugleich das Bewahrenswerte sichert und das schützt, was sich nicht selbst schützen kann. Europa vor seiner Zukunft - in gewissem Sinne hat die europäische Integration erst begonnen. Sie ist, wie alle Ordnungen des Politischen, ein tägliches Plebiszit. Der Frieden ist zum europäischen Testfall geworden.

Es bleibt eine völlig offene Frage, ob sich um die Diskurse, die vor diesem Hintergrund zu führen wären, europäische politische Parteien etablieren werden. Sie sind aber die zwingende Voraussetzung, um die europaweite und kontroverse Debatte um Zukunftsfragen des europäischen Gesellschaftsmodells aus den Sphären des Feuilletons in die Arena des Politischen, des Ringens um Interessen, Macht und Konsens zu überführen. Insofern bleibt Politik der europäische Testfall.

Europas Identität ist ein historisch gewachsenes, verschachteltes Gebäude. In einer historischen Betrachtungsperspektive lässt sich ein über zweitausendjähriger Diskurs nachzeichnen und mit all seinen Spannungen, Transformationen und Brüchen rekonstruieren. Europa als politische Kategorie ist einerseits unaufhebbar in diesen Identitätstraditionen verankert, andererseits als Union gegen viele der Identitätsstränge gesetzt. Europa ist kulturell das Gewordene, Europa ist politisch das zu Werdende (wobei diese Dimension immer auch der Kultur eigen ist). Der gebotene Brückenschlag erfordert eine Neubestimmung der politischen Kultur Europas, zumal im Zeitalter der Globalisierung.

Zentral wird dabei die Frage sein, ob Europa einen zeitgemäßen Begriff seines spezifischen Universalismus erarbeiten kann. In der Kulturgeschichte Europas standen die großen Leitbegriffe in Kultur, Theologie und Politik, in Kunst und Literatur stets für einen universalen Anspruch. Europa definierte Begriffe, Normen, Dogmen als inhärent universalistisch. Im Zeitalter des Relativismus, der Selbstzweifel und der postmodernen Kulturtheorien ist dieser Anspruch arg in die Defensive geraten, ja häufig sogar diskreditiert worden. Im Zeitalter der Globalität aber sollte auch in Europa neu nach dem Begriff des Universalismus und seiner Universalisierbarkeit gefragt werden.

Dabei präsentiert sich Europa heute in einem eigenwilligen Zwitterzustand. Auf der einen Seite hat sich die europäische Politik in eine Rhetorik des Prozesshaften versteift: Alles ist im Fluss, jedes Thema lässt sich durch multilaterale Prozesse irgendwie managen, so lautet eine weit verbreitete Doktrin. Auf der anderen Seite projiziert Europa, ausgehend von der Erfahrung des europäischen Binnenmarkts, seine Normen als technische Standards mit universalem Geltungsanspruch. Kein Dokument zu Welthandelsfragen oder zur Partnerschaft mit irgendeiner Weltregion, bei der nicht - von phytosänitären (pflanzengesundheitlichen) bis zu Copyright- und Klimaschutz-Normen - europäische Standards angerufen werden. Norm-Universalismus ist zum Markenzeichen der EU geworden.

Dies entlastet offenkundig von der Aufgabe, Normbegründungen oder Zielprojektionen mitzuliefern. Man konzentriert sich auf die Definition von "Standards" und entledigt sich damit der Frage, welche inhärenten Normen und Werte diesen zugrunde liegen oder welche Normen und Werte aus ihrer Anwendung erfolgen könnten. Dies mag Methode sein. Vielleicht ist es auch nur Gedankenlosigkeit, vornehme Zurückhaltung oder das kluge Umschiffen von innereuropäischen Bruchlinien des Denkens.

Es ist leicht, in China auf Normen für Steckdosen hinzuweisen, aber offenbar sensibel, die dort grassierende Kinderarbeit als Norm- und Wertproblem anzusprechen. Es ist leicht, im Gasgeschäft mit Russland auf technische Normen zu achten, aber sensibel, auf Defizite im russischen Rechtssystem aufmerksam zu machen. Es ist leicht, im Dialog mit Afrika auf allgemeine Normen der good governance zu verweisen, die sich auch in jedem UNO-Dokument wiederfinden, aber sensibel, die Frage nach strikten Kontroll- und Evaluierungsmethoden aufzuwerfen. Dieser Widerspruch kann nicht von Dauer sein, wenn Europa ein globaler Akteur sein will. Die Projektion eigener Interessen, Werte und Normen geht über technische Standards, inklusive technische politische, hinaus. Es erfordert ein Plädoyer für die normativen Gründe des technisch Gewünschten und mithin eine aktualisierte, auch sprach- und diskussionsfähige Darlegung der Universalansprüche europäischer Normen und Werte. Davon war lange nicht mehr die Rede. Europa hat Überprüfungs- und Erneuerungsbedarf, der weite Teile des geistig-kulturellen Hintergrundes und Resonanzbodens des Zeitalters der Globalität berührt.

Diese Gedanken mögen auf den ersten Blick abstrakt und akademisch erscheinen. Bei Lichte besehen haben sie große Auswirkungen auf die heute primär funktionalistisch reflektierte Globalisierungsthematik. Auf Dauer wird Globalität nur gelingen, wenn nicht nur technische, sondern in einer immer enger zusammenfindenden Welt auch normative, ethisch-moralische und geistig-kategoriale Standards etabliert werden können. Inmitten der Konsolidierung des politischen Projekts der europäischen Integration rückt mithin eine gewichtige geistig-kulturelle Frage in den Mittelpunkt der Aufgaben, vor denen Europa steht.

Es wird darauf ankommen, dass nicht rückwärtsgewandte Antworten gefunden werden, die Kultur in Antithese zum Politischen sehen. Es kommt vielmehr darauf an, den Blick nach vorne zu bewahren und die kulturelle Anfrage an Europa im Zeitalter der Globalität als eminent politische Frage, als zentrale Anforderung an die politische Kultur Europas zu begreifen. Antworten werden diskursiv erwachsen, wie üblich im Dialog, in der Kontroverse und in Bemühungen um synthetisierende Kompromisse. Aber eine EU als Wertegemeinschaft, die als Weltpartner globale Gestaltungsansprüche projiziert, wird sich im Bereich von Normen, Werten und Interessen nicht indifferent geben und auf technisch-funktionalistische Begriffe zurückziehen können. Europas Aufgaben sind noch längst nicht erfüllt - weder für sich selbst noch im Dialog mit den anderen Regionen, Kulturen und Partnern in aller Welt.

Dr. phil., geb. 1958; Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn und Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI), Walter-Flex-Straße 3, 53113 Bonn. E-Mail Link: l.kuehnhardt@uni-bonn.de