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Offene Koordinierung in der EU-Rentenpolitik

Niklas Schrader

/ 13 Minuten zu lesen

Beleuchtet wird die "Offene Methode der Koordinierung" in der Rentenpolitik. Die gemeinsamen Ziele der EU werden zwar umgesetzt, die OMK spielt im nationalstaatlichen Politikprozess aber kaum eine Rolle.

Einleitung

Seit ihrer Einführung im Jahr 2001 ist die "Offene Methode der Koordinierung" (OMK) Gegenstand reger Forschungstätigkeit in den Sozialwissenschaften. Der Grund hierfür liegt vermutlich in der Neuartigkeit dieser Regierungsmethode im Institutionengefüge der Europäischen Union (EU). Die Regierungen der Mitgliedstaaten standen vor dem Problem, dass man sich ein stärkeres Engagement der EU in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wünschte, um auf das selbstgesteckte Ziel, Europa bis 2010 zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen", hinzuarbeiten. Eine Zentralisierung von legislativen Kompetenzen war jedoch aufgrund von fundamentalen Interessenunterschieden politisch nicht durchsetzbar. In einigen Politikbereichen wird deshalb nunmehr ein Regierungsinstrument angewandt, das sich auf die "weichen" Formen von Gesetzgebung konzentriert: Die OMK setzt auf die Formulierung von gemeinsamen, aber unverbindlichen Zielen, auf die vergleichende Evaluation der Umsetzung dieser Ziele (benchmarking) sowie auf die Stimulation des politischen Diskurses in und zwischen den Mitgliedstaaten.

Zum tatsächlichen Einfluss dieser Methode existieren nach wie vor unterschiedliche Meinungen. Während einige von einer "schleichenden Zentralisierung" in der Sozialpolitik oder von einem Schritt auf der "Fusionsleiter" hin zu mehr Integration ausgehen, sehen andere in der Methode nur ein Placebo, das keinerlei Relevanz für die nationalstaatliche Politik hat und lediglich ein Mittel zur Wahrung der Souveränität der Mitgliedstaaten darstellt. Dieser Beitrag versucht unter Heranziehung empirischen Materials eine Antwort auf die Frage nach der Effektivität der OMK in einem Kernbereich der Sozialpolitik, der Rentenpolitik, zu finden.

Modus operandi und Theorie

Auf dem EU-Gipfel in Lissabon im Jahr 2001 wurde die OMK offiziell eingeführt und durch folgende Elemente definiert: Festlegung von Leitlinien für die Union mit einem Zeitplan für deren Verwirklichung; ggf. Festlegung quantitativer und qualitativer Indikatoren und Benchmarks als Mittel für den Vergleich; Umsetzung der Leitlinien in nationale und regionale Politik unter Berücksichtigung der nationalen und regionalen Unterschiede; regelmäßige Überwachung und Bewertung durch Rat und Kommission. Anders als bei der klassischen Rechtsetzung wird auf einheitliche und verbindliche Gesetzgebung für alle Mitgliedstaaten verzichtet. Auf EU-Ebene werden Leitlinien formuliert; zu deren Umsetzung können die Staaten frei innerhalb ihres jeweiligen nationalen Kontextes handeln. Dabei setzt die OMK auf "sanften" Druck auf die nationalen Regierungen. In der umfassenden theoretischen Literatur zur OMK wird auf verschiedene Einflusskanäle verwiesen (Vgl. Tabelle in der PDF-Version).

Aus politisch-ökonomischem Blickwinkel ist die OMK häufig als eine Form des politischen Benchmarking bezeichnet worden. Aus der Betriebswirtschaftslehre stammend, sieht dieses Konzept den systematischen Vergleich von ökonomisch operierenden Einheiten mithilfe vergleichbarer Kennzahlen vor. In einer Gruppe von Staaten ist es ein Instrument zur Verstärkung von Konkurrenz und Anpassungsdruck und gleichzeitig eine Art Informationsfilter, um anhand der Vergleichsdaten optimale Entscheidungen zu treffen. Für nationale Regierungen bedeutet dies, dass sie sich vor der Wählerschaft für ihre Performanz im Vergleich mit anderen Ländern rechtfertigen müssen. Allerdings setzt dies ein gewisses Maß an öffentlicher Wahrnehmung des Verfahrens und der dabei gewonnenen Informationen voraus - ist das Verfahren weitgehend unbekannt, dürfte es wirkungslos bleiben. Darüber hinaus kann der OMK-Prozess eine Legitimationsbasis für politische Reformen bieten: Er kann von politischen Entscheidungsträgern zur Strategie der blame avoidance genutzt werden. Sie können die Verantwortung für ihre Entscheidungen von sich auf andere bzw. auf den abstrakten Prozess abwälzen.

Aus der Perspektive der deliberativen Demokratietheorie wird in der OMK ein Instrument des kommunikativen Austauschs von Wissen, Argumenten und Interpretationsmustern zwischen den Mitgliedstaaten gesehen. Diese verändern politische Strategien nicht durch einfache Anpassung an den erfolgreichsten Konkurrenten, sondern durch gegenseitiges Lernen und besseres Verstehen politischer Zusammenhänge. Kerstin Jacobsson betont, dass die Effektivität der OMK auf "diskursiven regulativen Mechanismen" beruht. Sie ist danach ein institutionalisiertes Verfahren zur Etablierung gemeinsamer sprachlicher und paradigmatischer Rahmen für das Verstehen und Definieren von politischen Problemen und Lösungen. Auch hier ist ein hohes Maß an öffentlicher Wahrnehmung und Debatte sowie eine breite Partizipation in den Nationalstaaten essentiell für einen Effekt der OMK als "diskursiver Regulierungsmechanismus".

Umsetzung der Ziele in der EU

Bei den meisten der von der EU beschlossenen Leitlinien der Rentenpolitik handelt es sich um allgemeine Vorgaben, aus denen zunächst keine Handlungsanweisungen abzuleiten sind, etwa die Sicherung eines "angemessenen Lebensstandards" für Ältere, die Förderung der Solidarität zwischen den Generationen oder die Gleichbehandlung der Geschlechter. Zwei Ziele enthalten allerdings einen weitaus eindeutigeren politischen Auftrag an die Regierungen der Mitgliedstaaten. Dies ist zum einen die Verlängerung des Erwerbslebens und die Schaffung "wirksame[r] Anreize für die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitskräfte". Zum anderen wird das Ziel formuliert, dafür zu sorgen, dass "private und staatliche kapitalgedeckte Rentensysteme Rentenleistungen mit der erforderlichen Effizienz, Kostengünstigkeit, Nachhaltigkeit und Sicherheit bieten". Dies impliziert eine Abkehr von der Vorstellung, dass allein das staatliche (umlagefinanzierte) Rentensystem für die Alterssicherung sorgen soll.

In den rentenpolitischen Leitlinien der EU ist somit eine abgeschwächte Form des von der Weltbank propagierten Mehrsäulenmodells zu sehen, das eine Verteilung der finanziellen Absicherung im Alter auf staatliche, betriebliche und private Systeme vorsieht, wobei der staatlichen Säule lediglich die Aufgabe der Armutsvermeidung zugeschrieben wird. Die Leitlinien behalten das Prinzip der Verteilung auf mehrere Säulen bei, wenngleich deren Gewichtung offengelassen wird. Diese beiden Ziele, die Verlängerung des Erwerbslebens und die Entwicklung zum Mehrsäulensystem, greifen am stärksten in die institutionellen und ideologischen Grundlagen der nationalen Rentensysteme ein. Die Untersuchung der Umsetzung wird sich deshalb auf diese Ziele konzentrieren.

Hierfür wurde ein Datensatz herangezogen und modifiziert, der an der Humboldt-Universität zu Berlin entstanden ist und der die Rentenpolitik in der EU-15, also den "alten" Mitgliedstaaten, zwischen 1980 und 2004 zusammenfasst. Er berücksichtigt 92 Reformen, 21 davon im Zeitraum von 2001 bis 2004, also nach Einführung der OMK. Ob eine Reform im Einklang mit den EU-Zielen steht, wurde anhand eines Punktevergabesystems bewertet. Für das Ziel "Verlängerung des Erwerbslebens" ist dies etwa bei der Schaffung eines Anreizes für eine Verzögerung des Ruhestands der Fall. Beim Ziel "Förderung privater und staatlicher kapitalgedeckter Systeme" führten die Schaffung von finanziellen Anreizen für die private Alterssicherung oder die Stärkung der Kapitaldeckung im staatlichen Rentensystem zu einer höheren Punktzahl. Aus einer Zusammenführung der einzelnen Werte für alle Staaten wurde ein jährlicher "Reformaktivitätsindex" gebildet, anhand dessen man die Intensität ablesen kann, mit der in der EU-15 Reformen im Sinne der OMK-Ziele getätigt wurden (Vgl. Abbildung in der PDF-Version.

Zunächst ist festzustellen, dass sich der Index überwiegend im positiven Bereich bewegt, was bedeutet, dass die Rentenpolitik in den untersuchten Ländern vornehmlich im Sinne der gemeinsamen Ziele verläuft. In den frühen 1980er Jahren gab es insgesamt wenige Reformen. Teilweise überwogen sogar Reformen, die den heutigen EU-Zielen entgegengesetzt sind. Zum Ende der 1980er und Anfang bis Mitte der 1990er Jahre ist eine gesteigerte Reformaktivität festzustellen. Diese erste "Hochphase" zeigt, dass die rentenpolitischen Ziele der EU keinesfalls neuartig sind. Als Beispiele hierfür lassen sich die schwedische Rentenreform von 1994 oder die "Amato-Reform" von 1992 in Italien heranziehen. In Schweden wurde mit der Schaffung eines Rentenfonds, in den ein Teil der Beiträge zur Rentenversicherung eingezahlt wird, ein teilweiser Einstieg in das Kapitaldeckungsverfahren im staatlichen Rentensystem vorgenommen. In Italien wurde das gesetzliche Rentenalter erhöht sowie eine indirekte Subvention für nicht-staatliche Rentensysteme eingeführt.

Nach Einführung der OMK ist ebenfalls eine höhere Reformaktivität zu beobachten. Hierzu hat auch Deutschland beigetragen, etwa durch die "Riester-Reform" von 2001, mit der eine private, steuersubventionierte Rentensäule eingeführt wurde, oder die "Rürup-Reform" von 2004, mit der der Zugang zur Frühverrentung für Arbeitslose und Teilzeitbeschäftigte erschwert wurde. Weitere Beispiele sind Finnland, wo 2003 ein flexibles Renteneintrittsalter eingeführt wurde, verbunden mit einer Berechnungsformel, die längeres Arbeiten mit deutlich höheren Leistungen belohnt, und Großbritannien, das 2004 ebenfalls ein Anreizsystem für längeres Arbeiten einführte sowie die Sicherheit und Übertragbarkeit von betrieblichen Rentensystemen verbesserte. Schweden und Dänemark, die oft als "Vorbilder" erfolgreicher Wohlfahrtsstaatsreformen angesehen werden, weisen unter der OMK keine entsprechende Reform auf. Diese Länder haben schon in früheren Zeiten umfassende Umstrukturierungen des Rentensystems vorgenommen. Die Verteilung der Alterssicherung auf mehrere Säulen ebenso wie die Verlängerung des Erwerbslebens ist dort bereits weiter fortgeschritten als anderswo. Neben der erwähnten Reform in Schweden entwickelte Dänemark in den 1990er Jahren ein quasi-obligatorisches betriebliches Rentensystem; auch hier ist ein Teil der staatlichen Rente kapitalfinanziert.

Der Überblick zeigt, dass die Mitgliedsländer unter der OMK Schritte unternehmen, um die gemeinsamen Ziele umzusetzen. Eine Annäherung der Politikziele und eine Tendenz zu entsprechenden Reformen ist allerdings bereits in den 1990er Jahren zu verzeichnen. Über die Effektivität der OMK bzw. ihre Rolle im nationalen politischen Entscheidungsprozess kann auf dieser Basis noch keine Aussage getroffen werden. Dies soll am Fallbeispiel der deutschen Rentenpolitik beleuchtet werden, und zwar unter Heranziehung der oben beschriebenen Schlüsselvariablen: die strategische Ausnutzung, die öffentliche Wahrnehmung und Debatte sowie die Partizipation.

Umsetzung der OMK in Deutschland

Wer nimmt Bezug? Die strategische Ausnutzung der OMK.

Wichtige rentenpolitische Reformschritte in Deutschland unter der OMK waren das Altersvermögensgesetz und das Altersvermögensergänzungsgesetz ("Riester-Reform"), das Rentenversicherungs-Nachhaltigkeitsgesetz ("Rürup-Reform"), das Alterseinkünftegesetz sowie die Anhebung der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung.

Die "Riester-Reform" war von Anfang an ein Projekt zur Annäherung an das Mehrsäulenmodell. Eingeführt wurde eine private, kapitalfundierte Zusatzrente auf freiwilliger Basis, verbunden mit Kürzungen bei der gesetzlichen Rente und Maßnahmen wie der Einführung eines Anspruchs auf Entgeltumwandlung für Arbeitnehmer. Mit der "Rürup-Reform" von 2004 wurde der "Nachhaltigkeitsfaktor" in die Rentenanpassungsformel aufgenommen. Dieses Instrument führt zu Kürzungen bei der Rentenanpassung, wenn in der Rentenversicherung die Anzahl von Rentnern im Verhältnis zu Erwerbstätigen wächst. Gleichzeitig wurde das Mindestalter für den Renteneintritt bei Arbeitslosen oder nach Altersteilzeit von 60 auf 63 Jahre angehoben und somit der Weg in den frühzeitigen Ruhestand erschwert. Mit dem zeitgleich verabschiedeten Alterseinkünftegesetz wurden ein Wechsel des Besteuerungssystems auf die nachgelagerte Besteuerung von Renteneinkünften vollzogen sowie weitere Verbesserungen bei der staatlichen Förderung der "Riester-Rente" vorgenommen. Schließlich ist als jüngste, weitreichende Reform im deutschen Rentensystem die schrittweise Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre zu nennen, die 2007 festgeschrieben wurde.

Die deutschen Reformmaßnahmen werden in den Gemeinsamen Berichten von Rat und Kommission im Hinblick auf die EU-Ziele positiv bewertet, auch wenn weiterhin finanzielle Risiken gesehen werden. Für die Bundesregierung könnten deshalb sowohl die EU-Ziele als auch die Gemeinsamen Berichte eine Legitimationsgrundlage für die eingeschlagene Richtung der Rentenpolitik darstellen. Für eine strategische Rolle der OMK gibt es jedoch nur wenige Anzeichen. Allenfalls vereinzelte öffentliche Äußerungen weisen darauf hin: So betonte etwa Bundeskanzler Gerhard Schröder Ende 2002, dass die EU-Kommission die Riester-Reform gelobt habe und deshalb dieser Weg weiter verfolgt werden solle. In ähnlicher Weise nahm er 2003 in einer Regierungserklärung zum Reformprogramm "Agenda 2010", welches auch die Rentenpolitik einschließt, Bezug auf das europäische Sozialmodell und die damit verbundenen, mit den EU-Partnern abgestimmten strukturellen Reformen. Als Handlungsimperativ werden die Ziele der OMK dabei allerdings nicht genannt, nur der Stabilitäts- und Wachstumspakt mit seinen fiskalpolitischen Vorgaben findet Erwähnung.

Die Strategie der blame avoidance ist hier durchaus erkennbar, der von der EU ausgehende Handlungsimpuls bleibt jedoch diffus. Zudem scheint das Interesse der Politiker an der koordinierten Rentenpolitik der EU weiter gesunken zu sein: In den Presse- und Regierungserklärungen der Bundesregierung zu den weiteren Rentenreformen sucht man vergebens nach einer Bezugnahme auf die EU-Ziele bzw. auf den Koordinierungsprozess. Auch in der parlamentarischen Arena fehlt bei der rentenpolitischen Debatte der Bezug zur OMK. In den Gesetzentwürfen zu den genannten Reformen und den dazugehörigen Begründungen sowie in den entsprechenden Protokollen der parlamentarischen Beratungen werden die EU-Ziele oder die Stellungnahmen von Rat und Kommission nicht ein einziges Mal erwähnt.

Wer nimmt Notiz? Öffentliche Wahrnehmung und Debatte der OMK.

Da es keine repräsentativen Erhebungen zum Bekanntheitsgrad der rentenpolitischen OMK gibt, kann die Intensität der Berichterstattung in deutschen Leitmedien als Indikator für die öffentliche Aufmerksamkeit und den Diskurs Aufschluss geben. Hierzu wurde eine Stichwortsuche in den beiden auflagenstärksten überregionalen Qualitätszeitungen, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" (FAZ) und der "Süddeutschen Zeitung" (SZ), vorgenommen. Zunächst ist festzustellen, dass die OMK in der Rentenpolitik nur in geringem Ausmaß ihren Weg in die Presseberichterstattung gefunden hat: In beiden Zeitungen wurden über neun Jahre verteilt 29 Artikel gefunden. Zum Vergleich: Sucht man nach den Stichworten "EU" und "Stabilitäts- und Wachstumspakt", sind für denselben Zeitraum allein im Archiv der FAZ 368 Artikel zu finden.

Auch die zeitliche Entwicklung der Berichterstattung gibt wenig Anlass zur Zuversicht. Hier lässt sich eine leichte Steigerung bis zur Mitte des Jahrzehnts feststellen. Danach scheint das Interesse der Medien wieder zurückgegangen zu sein. Im Jahr 2009 ist kein einziger Artikel mehr zu finden. Die Annahme, dass die OMK langfristig zu einer Anregung der europäisierten sozialpolitischen Debatte in den Mitgliedstaaten führt, lässt sich nicht halten. Die Entstehung öffentlichen Reformdrucks auf die nationalen Regierungen durch die OMK bleibt somit ebenfalls unwahrscheinlich.

Neben den Massenmedien sind die nationalen Parlamente "Arenen" des öffentlichen Diskurses. Doch auch dort ist die Debatte über die OMK quasi nicht vorhanden. Über die nationalen Strategieberichte der Bundesregierung findet im Bundestag keine Aussprache statt. Die Berichte werden als sogenannte Unterrichtungsdokumente an die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat weitergeleitet. Die Stellungnahmen des Bundesrats dazu werden auf Empfehlung des Europaausschusses in der Regel ohne weitere Beratung beschlossen. Die Gemeinsamen Berichte von Rat und Kommission werden nicht direkt an Bundestag oder Bundesrat weitergeleitet oder gar in Plenum oder Ausschüssen debattiert.

Wer nimmt teil? Partizipation in der OMK.

Partizipation im institutionellen Rahmen der OMK ist auf mitgliedstaatlicher Ebene in erster Linie bei der Erstellung der nationalen Strategieberichte möglich. In Deutschland werden diese von der Europaabteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales ausgearbeitet, bevor sie auf den Kabinettstisch gelangen. Nach eigener Auskunft werden dabei die Bundesländer, die Sozialpartner, die Träger der Rentenversicherung, der betrieblichen Altersvorsorge sowie die Verbände im Bereich des Banken- und Versicherungswesens eingebunden. Die tatsächlichen Einflussmöglichkeiten sind allerdings gering.

Wie bereits deutlich wurde, sind Bundestag und Bundesrat kaum in den Prozess der OMK involviert. Dies gilt auch für die Erstellung der Strategieberichte. Beide Parlamentskammern können zu den Berichten Stellung nehmen, ohne über deren Inhalt mitentscheiden zu können. In einer Stellungnahme des Bundesrates wird kritisiert, dass die Länder nicht ausreichend beteiligt seien und über den Inhalt bis zuletzt im Unklaren gelassen würden. Zudem fänden sich die unterschiedlichen Positionen der Länder nicht in den Strategieberichten wieder.

Eine Untersuchung, in der die Ausarbeitung der deutschen Strategieberichte im Bereich der sozialen Eingliederung als Beispiel für den partizipativen Charakter der OMK auf nationaler Ebene analysiert wird, kommt zu dem Schluss, dass dieser Prozess weitgehend von der Ministerialbürokratie dominiert und kontrolliert wird. Subnationale Akteure sowie Nichtregierungsorganisationen wie etwa die Sozialpartner werden nur sporadisch einbezogen. Mit fortschreitender Zeit macht sich Desillusionierung unter den zivilgesellschaftlichen Akteuren bezüglich der Beteiligung an der Strategiedebatte im Rahmen der OMK breit. Dies ist für die rentenpolitische OMK insofern von Belang, als dass die Felder der sozialen Eingliederung und der Rentenpolitik von 2005 an "zusammengelegt" wurden, die Strategieberichte also beide Politikbereiche enthalten.

Fazit

Die Wirkung der OMK muss grundlegend in Frage gestellt werden - sie ist kein effektives Regierungsinstrument. Zwar gehen die Reform-Outputs durchaus in die Richtung der EU-Ziele. Ein Trend zu entsprechenden Reformen in Europa bestand allerdings schon seit Anfang der 1990er Jahre.

Das Fallbeispiel Deutschland zeigt darüber hinaus, dass die OMK keine relevante Rolle im nationalstaatlichen Politikprozess spielt. Aus politisch-ökonomischer Perspektive kann argumentiert werden, dass durch den geringen Wahrnehmungsgrad der OMK kein öffentlicher Handlungsdruck auf die Regierung zur Verbesserung ihrer Performanz in der Rentenpolitik entstehen kann. Zudem wird die OMK von politischen Entscheidungsträgern kaum strategisch genutzt. Aus deliberativ-demokratischer Perspektive lässt sich konstatieren, dass die OMK kaum zur Verstärkung des transnationalen Austauschs von Ideen und Argumenten beiträgt. Eine nennenswerte Debatte in den politischen "Arenen der Öffentlichkeit" über europäische Zielsetzungen in der Rentenpolitik und über EU-Berichte zu den mitgliedstaatlichen Reformpolitiken findet praktisch nicht statt. Auch eine Verbreiterung des rentenpolitischen Diskurses durch eine umfassende Partizipation an der Ausarbeitung von Reformstrategien zeichnet sich nicht ab.

Angesichts dieser Befunde drängt sich die Frage auf, warum die Regierungen der Mitgliedstaaten die OMK überhaupt eingeführt haben. Es liegt nahe, dass die Mitgliedstaaten bereits bestehende nationalstaatliche Präferenzen und Ziele auf die europäische Ebene übertragen haben. In diesem Falle wäre die OMK lediglich ein Instrument des upload von politischen Präferenzen. Der download in Richtung der mitgliedstaatlichen Politik bleibt aus. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten zu einem institutionalisierten Verfahren der Interaktion mit den EU-Institutionen verpflichtet, jedoch verschleiert dies lediglich die Verteidigung der nationalstaatlichen Souveränität in der Sozialpolitik. Mittelfristig besteht deshalb wenig Aussicht auf eine Stärkung des sozialpolitischen Profils der EU durch die OMK. Maßnahmen zur institutionellen Verbesserung der Methode wie etwa die stärkere Einbindung der nationalen Parlamente sind auch mit dem neuen Lissabon-Vertrag nicht getroffen worden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Beitrag basiert auf den Ergebnissen meiner Master-Abschlussarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin (2009) im Fach Sozialwissenschaften, online: www.sowi.hu-berlin.de/lehrbereiche/
    comppol/veroeff/maschrader. (6.4.2010).

  2. Europäischer Rat, Schlussfolgerungen von Lissabon, Brüssel 2000, Ziffer 5.

  3. Michael W. Bauer/Ralf Knöll, Die Methode der offenen Koordinierung: Zukunft europäischer Politikgestaltung oder schleichende Zentralisierung?, in: APuZ, (2003) 1-2, S. 33-38.

  4. Wolfgang Wessels, Das politische System der Europäischen Union, Wiesbaden 2008, S. 385.

  5. So z.B. Armin Schäfer, A New Form of Governance? Comparing the Open Method of Co-ordination to Multilateral Surveillance by the IMF and the OECD, in: Journal of European Public Policy, 13 (2006), S. 70-88.

  6. Vgl. Europäischer Rat (Anm. 2), Ziffer 37.

  7. ZumBeispiel in Caroline de la Porte u.a., Social Benchmarking, Policy Making and New Governance in the EU, in: Journal of European Social Policy, 11 (2001) 4, S. 291-307.

  8. Vgl. Kent R. Weaver, The Politics of Blame Avoidance, in: Journal of Public Policy, 6 (1986) 4, S. 371-398.

  9. Kerstin Jacobsson, Soft Regulation and the Subtle Transformation of States: The Case of EU Employment Policy, in: Journal of European Social Policy, 14 (2004) 4, S. 355-370.

  10. Vgl. Rat der Europäischen Union, Gemeinsamer Bericht über Zielsetzungen und Arbeitsmethoden im Bereich der Renten, Brüssel 2001, S. 6f.

  11. Vgl. World Bank, Averting the Old Age Crisis, Oxford 1994.

  12. Hauptgrundlage des Datensatzes ist das Sammelwerk von Ellen M. Immergut u.a. (eds.), The Handbook of West European Pension Politics, Oxford 2007.

  13. Für eine genaue Beschreibung der Vorgehensweise siehe Anm. 1, S. 32-36.

  14. Die Berichte online: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=757&langId=de (20.2.2010).

  15. Vgl. Deutschland bewegt sich - Mehr Dynamik für Wachstum und Beschäftigung. Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder am 3.7.2003, online: http://archiv.bundesregierung.de/
    bpaexport/regierungserklaerung/
    84/497984/multi.htm (20.2.2010).

  16. Dies ergab eine Stichwortsuche in der Online-Datenbank der Bundesregierung (REGIERUNGonline), www.bundesregierung.de (20.2.2010).

  17. Vgl. BT-Drs. 15/2150, 15/2159, 16/4372.

  18. Vgl. PlPr 15/83, 16/86.

  19. Gesucht wurde mithilfe von Boole'schen Verknüpfungen nach der Stichwortkombination "EU" UND "Koordin*" UND ("Rente*" ODER "Alterssicherung*").

  20. Vgl. BRats-Drs. 501/02.

  21. Vgl. Dawid Friedrich, Policy Process, Governance and Democracy in the EU: The Case of the Open Method of Coordination on Social Inclusion in Germany, in: Policy & Politics, 34 (2006) 2, S. 367-383.

  22. Vgl. Claudio M. Radaelli, The Europeanization of Public Policy, in: Kevin Featherstone/ders. (eds.), The Politics of Europeanization, Oxford 2003, S. 34.

M.A., geb. 1981; Absolvent am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. E-Mail Link: niklas.schrader@gmx.de