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Die Zukunft der Städte | Stadtentwicklung | bpb.de

Stadtentwicklung Editorial Die Zukunft der Städte Stadt, Solidarität und Toleranz Heimischsein, Übernachten und Residieren - wie das Wohnen die Stadt verändert Rekonstruktion! Warum? Gentrifizierung im 21. Jahrhundert Auf Angst gebaut

Die Zukunft der Städte

Walter Siebel

/ 16 Minuten zu lesen

Bestimmte Merkmale der europäischen Stadt werden durch gegenwärtige Entwicklungen infrage gestellt: Die Stadt als Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben, als politisches Subjekt und Stadtentwicklung als Wachstumsprozess. Der Beitrag benennt Trends, welche die europäische Stadt stärken können.

Einleitung

Von Stadt allgemein lässt sich nicht vernünftig sprechen. Zu verschieden sind die Wirklichkeiten, die sich hinter dem kurzen Wort Stadt verbergen. Was hat eine Stadt wie Bombay mit seinen fast 14 Millionen Einwohnern und seinen Slums gemeinsam mit einer wohlgeordneten deutschen Stadt wie Freiburg, und was verbindet das heutige Essen mit jenem vorindustriellen Kleinstädtchen von rund 4.000 Einwohnern, das um 1800 Essen darstellte? Deshalb ist, wenn im Folgenden von der Zukunft der Stadt die Rede ist, allein von der europäischen Stadt und am Beispiel der deutschen (Groß-)Städte die Rede. Selbst bei solchermaßen eingeengter Betrachtung zeigen sich vielfältige Unterschiede, die sich in Zukunft wahrscheinlich noch vertiefen werden.

Die europäische Stadt

Europäische Stadtgeschichte ist Emanzipationsgeschichte. Darin besteht das Einmalige der europäischen Stadt. Der griechischen Polis "lag etwas zugrunde (...), wofür wir in der Weltgeschichte zuvor kein zweites Beispiel finden: Freiheit. (...) Einmal (...) lief es ganz anders. Da war es keine Monarchie und kein herrschaftsgeübter Adel, sondern eine relativ breite, über hunderte von selbständigen Gemeinden sich verteilende Schicht von Freien, von ,Bürgern', die sich ihre Welt formte". Und Verwandtes wiederholt sich im Mittelalter. Max Weber hat das historisch Einmalige der europäischen Städte, die sich seit dem 11. Jahrhundert auf dem Kontinent bilden, mit Marktwirtschaft und politischer Selbstverwaltung definiert. Die Städter lösen sich aus den Verbänden von Sippe und feudaler Herrschaft und verschwören sich zur Bürgerschaft einer Stadt. Gleichzeitig treten sie aus den geschlossenen Kreisläufen der Hauswirtschaft heraus, um ihren täglichen Bedarf auf dem städtischen Markt zu decken. Die europäische Stadt des Mittelalters ist ein revolutionärer Ort, Ort der ökonomischen Emanzipation des Bourgeois zu freiem Tausch auf dem Markt, und Ort der politischen Emanzipation des Citoyens zu demokratischer Selbstverwaltung.

Das für die bürgerliche Gesellschaft typische Gegenüber von Markt als öffentlichem und Betrieb/Wohnung als privatem Raum hat Hans Paul Bahrdt zur Grundlage seiner Definition von Stadt gemacht. Die europäische Stadt - so Bahrdt - ist charakterisiert durch die Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit. Diese Polarität und die Unübersichtlichkeit und Anonymität der großen Stadt, die sich im Zuge der industriellen Urbanisierung des 19. Jahrhunderts entwickelt, sind Voraussetzungen der sozialen Emanzipation des Individuums aus den unentrinnbaren Kontrollen dörflicher Nachbarschaft. Die moderne Großstadt wird zum Ort von Individualisierung.

Daraus lassen sich drei Charakteristika der europäischen Stadt gewinnen, die heute zwar nicht mehr auf die europäischen Städte beschränkt sind, aber die hier zum ersten Mal auftraten:

  1. Mit der Stadt verbindet sich von ihren Anfängen an die Hoffnung, als Städter ein besseres Leben führen zu können. Ohne diese Hoffnung gäbe es keine Städte, denn Städte entstehen und erhalten sich durch Zuwanderung. Insbesondere die europäische Stadt steht für das Versprechen, sich als ihr Bürger aus ökonomischen, politischen und sozialen Beengungen befreien zu können. Stadtluft macht frei.

  2. Die Stadt als demokratisch legitimiertes, handlungsfähiges Subjekt ihrer eigenen Entwicklung. Die Stadt Athen war eine Weltmacht. Die freien Reichsstädte des Mittelalters waren souveräne, staatsähnliche Gebilde. Die Stein-Hardenbergschen Reformen haben Anfang des 19. Jahrhunderts eine kommunale Selbstverwaltung etabliert, die im Grundgesetz der Bundesrepublik bekräftigt worden ist.

  3. Seit dem 19. Jahrhundert ist noch ein drittes Merkmal für die Entwicklung der europäischen Städte von entscheidender Bedeutung gewesen: Stadtentwicklung als Wachstumsprozess. In den 150 Jahren industrieller Urbanisierung war die Entwicklung der europäischen Stadt von Wachstum geprägt: der Zahl der Einwohner, der Arbeitsplätze, des Steueraufkommens, der Gebäude und bebauten Flächen.

Alle drei Charakteristika der europäischen Stadt sind heute gefährdet. Seit der Krise der altindustriellen Regionen ist das einheitliche Muster der Stadtentwicklung als Wachstumsprozess zerbrochen: Neben wenigen Städten und Regionen, die dem gewohnten Wachstumspfad weiterhin folgen können, gibt es solche, deren Entwicklung von Schrumpfen oder Stagnation geprägt ist. Es vertiefen sich soziale Spaltungen, die den Zusammenhalt der Stadtgesellschaft infrage stellen. Städte drohen von Orten der Integration zu Orten der Ausgrenzung zu werden. Angesichts der Aufgaben, vor die die Städte damit gestellt sind, müsste ihr Handlungsspielraum erweitert werden. Jedoch ist das Gegenteil der Fall, sodass von der europäischen Stadt als Subjekt ihrer eigenen Entwicklung kaum noch die Rede sein kann.

Spaltung zwischen den Städten

Seit dem 19. Jahrhundert sind mit der einsetzenden industriellen Urbanisierung in Deutschland die Städte gewachsen. Sie gewannen Einwohner und Arbeitsplätze, die neue Räume benötigten, also dehnten sich die Städte aus, und das Wachstum bescherte ihnen zugleich die finanziellen Mittel, um ihre wachsenden Aufgaben zu bewältigen. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Suburbanisierung: Bevölkerung und Arbeitsplätze wanderten aus den Städten ins Umland. Die Kernstädte verloren, aber die Stadtregionen wuchsen zunächst noch weiter. Doch galt das schon bald nicht mehr für die altindustriellen Regionen Ruhrgebiet und Saarland. Beginnend in den 1960er Jahren verloren sie massiv Arbeitsplätze. Also wanderten viele Menschen ab, vornehmlich in die expandierenden süddeutschen Arbeitsmärkte.

In den ostdeutschen Bundesländern verlaufen diese Entwicklungen noch weit dramatischer. Abwanderung in den Westen gepaart mit dem Rückgang der Geburten haben dazu geführt, dass manche Städte zwanzig und mehr Prozent ihrer Einwohner verloren haben. Im schlimmsten Fall werden im Jahr 2050 in den ostdeutschen Bundesländern nur noch 8,6 Mio. Menschen leben. Mit Ausnahme einzelner Stabilitätsinseln ist dort ein anhaltender "Desurbanisierungsprozess" zu erwarten.

Die zentrale Problematik dieser Entwicklungen liegt in den darin enthaltenen selbstverstärkenden Mechanismen: Wanderungen sind fast nie sozial neutral. Es wandern diejenigen, welche wanderungsfähig sind, und das sind in erster Linie die Jüngeren und besser Qualifizierten. Deren Abwanderung macht die Region unattraktiv für Investoren, also sinken die Chancen auf künftige ökonomische Erholung. Aus den ostdeutschen Bundesländern wandern aber auch die Frauen ab. Deren Abwanderung senkt die Zahl der potentiellen Mütter, weshalb eine Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung durch mehr Geburten in Zukunft immer unwahrscheinlicher wird. Am Ende könnten bestimmte Räume und soziale Gruppen von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt sein.

Das einheitliche Modell städtischer Entwicklung ist zerbrochen. Es zeichnet sich eine Spaltung der Städte ab. Auf der einen Seite solche, die dem gewohnten Wachstumspfad folgen, auf der anderen solche, deren Entwicklung von Schrumpfung geprägt ist: Rückgang der Bevölkerung und der Arbeitsplätze, brachfallende Flächen, ungenutzte Industriegebäude, leerstehende Wohnungen und sinkende Steuerkraft. Angesichts dieser Entwicklungen wird das Verfassungsgebot, in allen Landesteilen gleichwertige Lebensverhältnisse zu gewährleisten, für einzelne, vorwiegend ländliche Abwanderungsregionen in den ostdeutschen Bundesländern, unerfüllbar.

Innere Spaltung der Städte

Auch innerhalb der Städte zeichnet sich eine Spaltung ab. Sie verläuft entlang ökonomischer und kultureller Grenzlinien und sie wird durch die Stadtpolitik eher befördert als bekämpft. Die Gründe liegen zum einen in der wachsenden sozialen Ungleichheit. Zwischen 1975 und 1995 hat parallel zum Anstieg des Reichtums die Armut zugenommen. Gleichzeitig polarisieren sich die Qualifikations- und Einkommensstrukturen. Zum anderen wird die Stadtbevölkerung in Zukunft sehr viel stärker multiethnisch und multikulturell sein. In Städten wie Stuttgart und Frankfurt stellen Migranten und deren direkte Nachkommen bereits heute 40 Prozent der Bevölkerung, und ihr Anteil wird weiter zunehmen.

Aber kulturelle Differenz wird nicht nur durch Migration in eine ansonsten homogene Gesellschaft importiert. Moderne Gesellschaften produzieren aus sich heraus Heterogenität. In den großen Städten bilden sich unterschiedliche Milieus, deren Angehörige sich durchaus mit ähnlicher Distanz begegnen können wie ein deutscher Industriearbeiter seinem türkischen Kollegen. Man denke nur an Angehörige bestimmter jugendlicher Subkulturen und solche der bürgerlichen Oberschicht. Die Stadtpolitik verschärft teilweise diese Entwicklungen. In einer global erweiterten Konkurrenz konzentrieren die Kommunen ihre Anstrengungen auf ihre national und international konkurrenzfähigen Strukturen, was zu Lasten anderer, insbesondere sozialer Bereiche der Stadtpolitik geht. Hinzu kommt ein teils durch die Haushaltslage erzwungener, teils durch eine neoliberale Ideologie populär gemachter, teils durch die Entspannung auf einzelnen Wohnungsmärkten scheinbar gerechtfertigter Rückzug aus dem sozialen Wohnungsbau.

Ausgrenzung, wachsende materielle Ungleichheit, zunehmende kulturelle Heterogenität, eine auf Wachstumsförderung orientierte Stadtpolitik und die Deregulierung der Wohnungsversorgung - diese Tendenzen zusammen formen ein Szenario, in dem scharfe sozialräumliche Polarisierungen in den Städten (wieder) wahrscheinlich sind. Und auch hier drohen selbstverstärkende Effekte. Wer kann, zieht aus schlechten Vierteln fort. Dadurch sinkt die Kaufkraft im Gebiet. Die Anbieter von Gütern und Dienstleistungen dünnen daraufhin ihr Angebot aus oder schließen ganz, das Image des Gebiets wird schlechter, die Banken werden zurückhaltend bei der Vergabe von Krediten, Hauseigentümer unterlassen Instandhaltungs- und Modernisierungsinvestitionen, das Gebiet verkommt auch äußerlich. Wenn dann noch der Anteil der Kinder aus "bildungsfernen Schichten" in den Schulen steigt, so sehen sich weitere Haushalte veranlasst, fortzuziehen. Schließlich wohnen nur noch jene, die keine Alternative auf dem Wohnungsmarkt haben, in einem stigmatisierten Gebiet. Ein sozialer Brennpunkt ist entstanden. Solche Teufelskreise drehen sich unter Bedingungen entspannter Wohnungsmärkte außerordentlich schnell, da der Markt den zahlungskräftigen Umzugswilligen die gewünschte Wohnung auch in der gewünschten Nachbarschaft bietet, und sie sind kaum steuerbar, weil sie auf den freiwilligen Entscheidungen von Haushalten beruhen.

Obendrein lenken die Filtermechanismen auf dem Wohnungsmarkt die Zuwanderer bevorzugt in eben solche Quartiere und damit in Nachbarschaft zu den deutschen "Verlierern" des Strukturwandels. Diese sind selten in der Lage, auf Fremde mit neugieriger Toleranz zuzugehen, im Gegenteil, sie brauchen Sündenböcke, eine Rolle, für die Fremde sich schon immer gut eigneten. Und diese erzwungenen Nachbarschaften von deutschen "Verlierern" und noch nicht integrierten Zuwanderern ergeben sich typischerweise in einer Umgebung, die ihren Bewohnern tagtäglich vor Augen führt, dass sie am Rand der Stadtgesellschaft leben. Also ist kaum zu erwarten, dass an solchen Orten Integration gelingt. Solchermaßen benachteiligte und benachteiligende Quartiere werden zu Räumen der Ausgrenzung von Deutschen wie von Zuwanderern. Die Stadt als Ort der Ausgrenzung aber wäre die härteste Verneinung der europäischen Stadt als Ort der Hoffnung auf ein besseres Leben.

Sinkende Handlungsspielräume

Diese Entwicklungen treffen auf eine Stadtpolitik, deren finanzielle und politische Handlungsmöglichkeiten schwinden. Verantwortlich dafür ist einmal die Globalisierung: Sie hat einen Finanzmarkt etabliert, in dessen unkalkulierbare Krisen die Kommunen mehr und mehr eingebunden sind, auch durch eigene Schuld: Viele Kommunen haben Teile ihrer Infrastruktur an US-amerikanische Investoren verkauft (sogenannte cross-border-leasing-Geschäfte), wodurch sie in die Finanzmarktkrise hineingerissen wurden. Ähnliches gilt für die Folgen der Globalisierung auf den deutschen Immobilienmärkten. Die Finanzierungsstrategien mancher internationaler Investoren, die in den vergangenen Jahren mit Vorliebe ehemals gemeinnützige Wohnungen aufgekauft haben, lassen wenig Gutes für diese Bestände erwarten. Nicht nur schrumpft dadurch das Segment einer marktfernen Wohnungsversorgung weiter, es wird auch der politische Spielraum der Kommunen eingeschränkt, denn sie verlieren mit den ehemals kommunalpolitisch beeinflussbaren Wohnungsbauträgern die wichtigsten Partner einer sozial verantwortlichen Stadtpolitik.

Auch Wanderungsbewegungen können den Handlungsspielraum der Städte sowohl finanziell wie politisch einengen. Wenn Wanderungen kommunale Grenzen überschreitet, verliert die Abwanderungskommune Zuweisungen und Steuern. Für normale Städte werden die Verluste auf jährlich 1500 Euro pro Abwanderungsfall geschätzt. Da die Abwanderer weiterhin die Einrichtungen der Kernstadt nutzen, sinken die Ausgaben der Kommunen nicht entsprechend. Ins Umland wandern in erster Linie die Jüngeren und Einkommensstärkeren. Die Risikogruppen bleiben zurück, eine der Ursachen für eine aus der Sicht der Kernstadt negative soziale Arbeitsteilung zwischen Suburbia und Kernstadt: die Stadt als Armenhaus, das Umland als Speckgürtel. Der Anteil der Sozialausgaben an den kommunalen Ausgaben hat sich in den alten Bundesländern zwischen 1980 und 2004 von fast 12 auf rund 22 Prozent annähernd verdoppelt, während der Anteil der Sachinvestitionen sich von 30,4 auf 13 Prozent mehr als halbiert hat.

Zur strukturellen Finanzschwäche der Kommunen tritt die Aushöhlung der politischen Basis kommunaler Politik. Der Idealtypus des Stadtbürgers, der sein Schicksal über Eigentum und Geschäft mit dem Geschick der Stadt verbunden sieht, ist heute keine relevante Figur mehr. Es dominieren abwesende Investoren mit überlokalen Orientierungen. Auch die alltagspraktische Bindung der Bürger an ihre Stadt schwindet. Solange die Stadt die Einheit des Alltags ihrer Bürger darstellte, d.h. solange der Bürger in der Stadt, in der er wohnte, auch zur Arbeit ging, sich versorgte und die Verkehrsmittel nutzte, solange existierte eine Stadtbürgerschaft, die in sich selber die Konflikte zwischen Arbeit, Erholung, Wohnen und Verkehr austragen musste. Heute ist der Alltag vieler Bürger regional organisiert, arbeitsteilig über verschiedene Gemeinden hinweg: Man wohnt in A, arbeitet in B, kauft ein in C und fährt mit dem Auto durch D hindurch. Die Kommunen sehen sich nicht mehr Stadtbürgern sondern Kundengruppen gegenüber, die spezialisierte Erwartungen kompromisslos erfüllt haben wollen: von A ein durch Nichts gestörtes Wohnen, von B einen expandierenden Arbeitsmarkt, von C ein Einkaufszentrum mit vielen Parkplätzen und von D eine kreuzungsfreie Schnellstraße. Damit verlieren die Kommunen die politische Basis für die Kernaufgabe kommunaler Politik, nämlich einen Ausgleich zu finden zwischen den häufig widerstreitenden Anforderungen von Wohnen, Arbeiten, Erholung und Verkehr.

Angesichts dieser Aushöhlung der finanziellen wie der politischen Basis kommunaler Politik droht die kommunale Selbstverwaltung zur leeren Hülle zu werden. Solange sie innerhalb der überkommenen administrativen Grenzen organisiert bleibt, wird dieser Prozess andauern. Wenn die Stadt auch in Zukunft noch als ein demokratisch legitimiertes Subjekt ihrer eigenen Entwicklung agieren soll, wird die kommunale Selbstverwaltung auch auf regionaler Ebene politisch und finanziell handlungsfähig organisiert sein müssen.

Das bislang einheitliche Modell städtischer Entwicklung spaltet sich in zwei konträre Typen: Stadtentwicklung als Wachstum und Stadtentwicklung als Schrumpfen. Die Gefährdung des Verfassungsziels der Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen der Bundesrepublik, die innere Spaltung der Städte in Inseln der Wohlhabenden und Enklaven der Ausgrenzung, und schließlich der Verlust der Steuerungsfähigkeit - angesichts dieser Tendenzen ist es berechtigt, von einer Krise der Städte zu sprechen.

Gegentendenzen

Das Lied von der Krise der Stadt ist ein altes Lied. Es wird gesungen, seit über die Stadt diskutiert wird. Hörte man nur auf dieses Lied, müssten die Städte längst im Chaos versunken sein. Also ist nach Gegentendenzen zu fragen. Dazu gehört die Abschwächung des Trends, der die Stadtentwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert hat: die Suburbanisierung. Der Auszug der Wohnbevölkerung nach Suburbia war vom Wunsch nach dem Eigenheim im Grünen getragen. Die sozialen und ökonomischen Voraussetzungen hierfür aber werden schwächer, nämlich die familiale Lebensweise als die soziale Basis für den Wunsch nach dem "Einfamilienhaus", und die langfristige Kalkulierbarkeit des Einkommens als Bedingung der Kreditfähigkeit eines Haushalts. Auch ändern sich die Zeitstrukturen. Für Haushalte mit zwei Berufstätigen, die an verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten berufstätig sind, kann es in jeder Hinsicht zu teuer sein, im Umland und damit entfernt vom städtischen Arbeitsmarkt zu wohnen. Das bedeutet nicht das Ende der Suburbanisierung. Auch weiterhin werden vor allem junge Familien mit kleinen Kindern ins Umland ziehen - aus freien Stücken und getrieben von den Grundstückspreisen. Aber der Trend wird schwächer. Die Kernstadt gewinnt als Wohnort wieder zumindest relativ an Gewicht gegenüber dem Umland.

Dafür sprechen auch ökonomische Gründe: Die moderne Wissensökonomie hat anscheinend eine hohe Affinität zu urbanen Standorten. Und schließlich gibt es soziale Gründe für eine neue Attraktivität der Stadt. Sie hängen zusammen mit dem Wandel der Rolle der Frau. Früher konnte man, und es war in der Regel der Mann, ein berufszentriertes Leben unter der Voraussetzung führen, dass man über einen traditionellen Haushalt verfügte, geführt von einer Hausfrau, wodurch einem der "Rücken frei gehalten" war von allen außerberuflichen Verpflichtungen. Heute aber gibt es immer mehr qualifizierte Frauen, die selbst berufszentriert leben und nun ihrerseits Entlastung verlangen.

Wenn immer mehr Menschen den Beruf in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, zugleich aber die sozialen Voraussetzungen dafür, nämlich die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau schwindet, dann ergibt sich ein Dilemma, aus dem nur zwei Wege führen. Erstens, man reduziert radikal alle außerberuflichen Verpflichtungen, indem man seinen Haushalt mit arbeitssparenden Gerätschaften aufrüstet, Haushaltshilfen beschäftigt und auf Kinder verzichtet. Der zweite Weg ist das Leben in der Stadt. Moderne Dienstleistungsstädte sind Maschinen, die jeden, der genügend Geld hat, mit allem versorgen, wofür man früher einen privaten Haushalt benötigte. Die moderne Stadt bietet Kinderbetreuung, Pflege der Alten und Kranken, Essen jeder Qualität, Wohnungspflege, Wäschereien, Unterhaltung und psychologischen Zuspruch, kurz alles, was man zu seiner Reproduktion braucht. Die moderne Dienstleistungsstadt ist eine Form der Vergesellschaftung der Leistungen des privaten Haushalts und damit die Voraussetzung für das berufszentrierte Leben hochqualifizierter Arbeitskräfte. Ohne die Stadtmaschine wäre die Existenz des modernen Singles gar nicht möglich. Deshalb suchen sie Wohnungen in den Innenstädten.

Diese neue Nachfrage nach Stadt ist so neu nicht. Die Stadt war immer aus eben den genannten Gründen der bevorzugte Lebensort der Singles und Kinderlosen. Neu ist, dass es immer mehr sind, insbesondere auch Frauen, die so leben wollen. Diese Nachfrage nach Stadt muss auch nicht notwendig mit steigenden Einwohnerzahlen einhergehen, eher im Gegenteil. Weil es sich um gut verdienende, kleine Haushalte handelt, steigt die Wohnfläche pro Kopf. In derselben Bausubstanz wohnen möglicherweise weniger Menschen als vorher, ein typisches Merkmal von "Gentrifizierungsprozessen", wie solche Aufwertungen innerstädtischer Wohngebiete durch die Nachfrage einkommensstarker Haushalte bezeichnet werden. Deshalb ist es kein Beweis gegen die These von einer Renaissance der Städte, wenn die Zahl der Stadtbewohner gleich bleibt oder gar weiter zurückgeht. Die neue Attraktivität der Stadt zeigt sich weniger in der Verschiebung der Bevölkerungsgewichte zugunsten der Stadt, denn als Angleichung der Sozialstrukturen zwischen Kernstadt und Umland: Armenhaus nicht nur in der Stadt und Speck nicht nur im Gürtel der Umlandgemeinden - mit entsprechend positiven Auswirkungen auf die Finanzsituation der Kernstadt.

Problematisch sind eher die möglichen politischen Folgen. Die neue Nachfrage nach Stadt betrifft nur wenige Standorte mit hohen sozialen und physischen Umweltqualitäten. Daneben entstehen abgewertete Quartiere der Armen, Arbeitslosen und Migranten. Es ergibt sich ein Nebeneinander von armen und reichen Quartieren. Und diese Verinselung der Stadtstruktur kann doppelt gefährlich werden für die Integration der Stadtgesellschaft: Einmal, weil so in den Städten die zunehmend ungerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums auf provozierende Weise sichtbar wird, zum anderen weil in den Gebieten der Ausgrenzung die deutschen "Verlierer" des Strukturwandels und sozial marginalisierte Zuwanderer in eine hoch konfliktträchtige Nachbarschaft gezwungen werden.

Hat die europäische Stadt eine Zukunft?

Es zerbricht das bislang einheitliche Muster der Stadtentwicklung in ein Nebeneinander von Schrumpfen, Stagnation und Prosperität. Innerhalb der großen Städte zeichnet sich ein Nebeneinander von aufgewerteten Gebieten für hochqualifizierte und einkommensstarke Stadtbewohner und Gebieten einer von Ausgrenzung bedrohten Bevölkerung ab, das die Integration der Stadtgesellschaft bedroht. Die Handlungsspielräume der kommunalen Selbstverwaltung sind zudem in einer Weise eingeengt worden, dass von der Stadt als handlungsfähigem Akteur kaum noch die Rede sein kann. Ob die Tradition der europäischen Stadt als einer sozialstaatlich regulierten Institution gesellschaftlicher Integration sich dagegen behaupten wird, ist eine offene politische Frage. Ihre Beantwortung wird entscheidend davon abhängen, ob es gelingen wird, die Städte auch unter den Bedingungen von Schrumpfen, Alterung und immer enger werdenden weltweiten Konkurrenzen als handlungsfähige Subjekte zu stärken. Notwendig ist zum einen eine Gemeindefinanzreform, welche die Städte auch unter Bedingungen des Schrumpfens handlungsfähig hält. Ferner muss die Region als Handlungsebene gestärkt werden, denn viele Probleme sind innerhalb der Zufälligkeiten kommunaler Grenzen nicht angemessen zu bearbeiten. Schließlich verliert angesichts der neuen Aufgaben, die auf die Städte zukommen, das klassische Instrumentarium der räumlichen Planung an Bedeutung. Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik werden für die Entwicklung der Städte wichtiger.

Dies vorausgesetzt, lassen sich Argumente nennen, weshalb der historisch betrachtet einmalige Typus der europäischen Stadt nicht ohne weiteres von der Bildfläche verschwinden wird. Dagegen spricht auf den ersten Blick die erstaunliche Beharrungskraft einmal entstandener städtischer Strukturen. Sie ist weniger technisch bedingt als gesellschaftlich, unter anderem durch die im wahrsten Sinne des Wortes in die Struktur der Stadt investierten Interessen. Dass die deutschen Städte nach 1945 so eng entlang der alten Linien wieder aufgebaut wurden, lag zum einen an den in den technischen Infrastrukturen über Jahrzehnte akkumulierten öffentlichen Investitionen und an den privaten Eigentumsverhältnissen: Das Kanal- und Straßensystem sowie das Grundbuch, nicht die Häuser sind das stabilste Element einer Stadt. Zum zweiten ist jede europäische Stadt mit ihren Plätzen, Straßen und Gebäuden ein steingewordenes Buch der Erinnerungen. Und diese sind mit den Instrumenten des Denkmalschutzes bewehrt. Die Stabilität der Stadtstruktur ist nicht nur im Geldbeutel, sondern auch in den Köpfen der Menschen verankert.

Eigentumsverhältnisse und historisch verankerte Identitäten sind beides Argumente, die beharrende Widerstände benennen. Sie können das Verschwinden der europäischen Stadt verlangsamen aber nicht aufhalten. Doch es lassen sich auch Argumente für eine künftige Notwendigkeit der europäischen Stadt anführen.

  • ökonomische: die wachsende Bedeutung urbaner Milieus in wissensbasierten Ökonomien;

  • soziale: die Attraktivität der Innenstädte als Wohn- und Lebensort für hochqualifizierte Arbeitskräfte mit nicht-familialen Lebensweisen;

  • ökologische: die kompakte europäische Stadt als nachhaltigere Siedlungsform im Vergleich zu flächenintensiveren Strukturen;

  • politische: die Notwendigkeit lokal differenzierter Politiken angesichts neuer Steuerungstechniken eines aktivierenden Sozialstaats.

Und schließlich wird die demographische Entwicklung die Bedeutung der Städte für die Zukunft der Gesellschaft erhöhen: Wie immer richtet sich auch heute die Zuwanderung auf die großen Städte. Die großen Städte sind die Motoren der gesellschaftlichen Entwicklung. In naher Zukunft werden bis zur Hälfte der jüngeren Arbeitskräfte in den Großstädten einen Migrationshintergrund haben. Wenn die europäische Stadt ihr altes Versprechen auf ein besseres Leben gegenüber den heutigen Migranten nicht mehr erfüllen kann, wenn diese keinen Zugang zu höheren Schulen und zu qualifizierten Arbeitsplätzen finden, wenn also die Stadt von einem Ort der Integration zu einem Ort der Ausgrenzung wird, dann wird das die Zukunftsfähigkeit nicht nur der Städte sondern der ganzen Gesellschaft infrage stellen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Für eine ausführliche Argumentation zum Folgenden vgl. die Einleitung des Autors in: Walter Siebel (Hrsg.), Die europäische Stadt, Frankfurt/M. 2004.

  2. Christian Meier, Kultur um der Freiheit willen, München 2009, S. 17f.

  3. Vgl. Max Weber, Die nicht-legitime Herrschaft (Typologie der Städte), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, zweiter Halbband, Köln-Berlin 1964, S. 923-1033.

  4. Vgl. Hans-Paul Bahrdt, Die moderne Großstadt, Leverkusen 1998.

  5. Vgl. C. Meier (Anm. 2), S. 38.

  6. Christine Hannemann/Dieter Läpple, Zwischen Reurbanisierung, Suburbanisierung und Schrumpfung, in: Kommune, 22 (2004) 5, S. VII.

  7. Vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (Hrsg.), Trends und Ausmaß der Polarisierung in deutschen Städten, Forschungen, Heft 137, Bonn 2009.

  8. Vgl. Albrecht Göschel, Schrumpfung, demographischer Wandel und Kulturpolitik, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Nr. 117, II/2007, S. 35.

  9. Vgl. Deutscher Städtetag (Hrsg.), Gemeindefinanzbericht 2004, S. 83.

Geb. 1938; Prof. em. für Soziologie, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. E-Mail Link: walter.siebel@uni-oldenburg.de