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Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit | DDR 1990 | bpb.de

DDR 1990 Editorial Das unselige Ende der DDR - Essay Der vergessene "Dritte Weg" Eine demokratische DDR? Das Projekt "Moderner Sozialismus" Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit Die demokratische DDR in der internationalen Arena Die gescheiterte Wirtschaftsreform in der DDR 1989/1990 Abschied von West-Berlin

Doppelte Demokratisierung und deutsche Einheit

Michael Richter

/ 16 Minuten zu lesen

Die Friedliche Revolution brachte eine eigene DDR-Demokratie hervor. Ohne sie hätte man international eine Entscheidung für die deutsche Einheit nicht akzeptiert.

Einleitung

Nicht um demokratisch zu werden trat die DDR in der Gestalt von fünf neuen Bundesländern am 3. Oktober 1990 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bei. Nach einer kurzen Phase der Demokratisierung war die DDR bereits seit rund einem halben Jahr ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. Mit dem Beitritt wurde lediglich ein demokratisches System durch ein anderes ersetzt. Binnen kurzer Zeit lebten die Ostdeutschen in zwei Demokratien, wobei sie die erste maßgeblich selbst gestalteten. Sie war die Voraussetzung, um an der bundesdeutschen Staatlichkeit samt deren Demokratie partizipieren zu können.



Es kommt selten zum plötzlichen Austausch eines demokratischen Systems durch ein anderes. Im vorliegenden Fall hat dies mit der erstrebten Überwindung deutscher Zweistaatlichkeit zu tun. Mit dieser Singularität unterschied sich die Demokratisierung der DDR von der in allen ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten. Das Wissen um sie hilft, das Verhältnis vieler Ostdeutscher zur heutigen Demokratie zu verstehen. Diese wird nicht nur mit der untergegangenen Diktatur verglichen, sondern auch an der eigenen Demokratisierungsleistung der Jahre 1989/90 gemessen.

Demokratisierung bis zum Herbst 1989

Lange bevor die staatliche Einheit ein öffentlich debattiertes Thema war, setzten in der DDR Demokratisierungsprozesse von unten ein. Sie richteten sich gegen den Anspruch der SED auf Alleinherrschaft. Noch vor dem revolutionären Herbst 1989 entstanden auf Grundlage seit Jahren tätiger Bürgerrechtsbewegungen oppositionelle Gruppierungen, die sich teilweise untereinander vernetzten. Auch in den Blockparteien und Massenorganisationen verstärkten sich, wie in der Bevölkerung überhaupt, in Folge der sowjetischen Reformpolitik Diskussionen über mehr Mitbestimmung und grundlegende Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

Im Herbst 1989 liefen die Aktivitäten zur Entmachtung der SED und zur Demokratisierung parallel. Getragen wurden sie von demonstrierenden Teilen der Bevölkerung einschließlich der Bürgerrechtsgruppen. Dabei gaben deren zivilgesellschaftliche Vorstellungen der Demokratisierung wichtige Impulse. Bei Demonstrationen und Dialogveranstaltungen schuf der aktivere Bevölkerungspart mit der Infragestellung der diktatorischen SED-Alleinherrschaft die Grundlagen einer freiheitlichen Demokratie. Proteste gegen die SED sowie die Forderung nach Demokratie und Freiheit waren die bis zum November 1989 am häufigsten vorgetragenen Postulate.

Die dahinter stehenden Demokratiekonzepte reichten von demokratisch-sozialistischen über direktdemokratische bis hin zu parlamentarisch-demokratischen Modellen. Sie alle bewegten sich wegen der Zugehörigkeit zum sowjetischen Machtbereich zunächst fast durchweg im Rahmen der DDR-Staatlichkeit. Demokratisch-sozialistische Visionen oszillierten zwischen demokratischen und semi-diktatorischen Modellen.

Demokratisierung und die Option deutsche Einheit

Im November 1989 setzte in Folge der bis dahin erreichten Demokratisierung bei neu gebildeten Gruppen sowie den Parteien und Massenorganisationen eine programmatische und organisatorische Ausdifferenzierung ein. Insbesondere nach dem Fall der Mauer geriet mit der Option staatliche Einheit, zunächst in Form einer Konföderation, die Orientierung auf bundesdeutsche Verhältnisse stärker auf das Tableau debattierter Meinungen. Ab jetzt verbanden sich die Demokratiemodelle mit Formen angestrebter Staatlichkeit. Dachten die einen in Kategorien einer DDR-spezifischen Demokratie oder sozialistischen Semi-Demokratie, zielten andere auf eine durch staatliche Einheit auf ganz Deutschland ausgedehnte bundesdeutsche Demokratie.

Der Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl und die von DDR-Intellektuellen initiierte Erklärung "Für unser Land" von Ende November 1989 bezogen sich zwar primär auf die künftige Form der Staatlichkeit, damit untrennbar verbunden war aber die Frage des künftigen politischen Systems. Beide Erklärungen standen jeweils für die Hauptlager in der Auseinandersetzung um den künftigen Kurs, das der Befürworter einer staatlichen Einheit und jenes eines Erhalts der DDR. Angesichts der sowjetischen Haltung schienen Konzepte zunächst realistischer, die von einer Fortexistenz der DDR ausgingen, auch wenn es Hinweise auf Meinungsdifferenzen im Kreml gab und ein Teil der Bevölkerung sich so verhielt, als sei die Einheit bereits ausgemachte Sache. Beides signalisierte auf unterschiedliche Weise den Willen zur Selbstbestimmung: Wollten die DDR-Befürworter sich künftig nicht von Westdeutschen dominieren lassen, so lehnten es die Anhänger der deutschen Einheit ab, das Diktat des entthronten SED-Regimes durch jenes der internationalen Mächte zeitlich überbieten zu lassen.

Bei den Befürwortern der DDR-Staatlichkeit standen Anhänger eines "demokratischen Sozialismus" à la SED-PDS jenen gegenüber, die in der DDR ein neues, eher basisdemokratisches Demokratiemodell verwirklichen wollten. Die Einheitsbefürworter teilten sich - bezogen auf die Demokratieform - in Anhänger einer baldigen und kompletten Übernahme der bundesdeutschen Demokratie durch Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes (Art. 23 GG) und in Befürworter einer gesamtdeutsch reformierten Demokratie (Art. 146 GG). Die CDU votierte für den ersteren Weg, die SPD für die Alternative.

Die politische Nähe aller Anhänger eines freiheitlich-demokratischen Systems, egal, ob stärker direkt- oder repräsentativ-demokratisch ausgerichtet oder auf welche Staatlichkeit bezogen, wurde bei Auseinandersetzungen mit den "demokratischen Sozialisten" der SED-PDS um Gregor Gysi im Januar 1990 deutlich. Deren Versuch, ein semi-diktatorisches, "demokratisch-sozialistisches" System samt eines zum sozialistischen Verfassungsschutz mutierten Ministeriums für Staatssicherheit zur Abwehr nicht-sozialistischer Richtungen zu etablieren, wurde von allen demokratischen Kräften in den alten wie neuen Parteien abgelehnt und durch eine erneute Mobilisierung der Bevölkerung auf der Straße verhindert. Ende Januar 1990 war diese Strategie gescheitert. Die SED-PDS stürzte in eine Krise und stand kurz vor ihrer Auflösung. Anfang Februar wandelte sie sich zur PDS und bekannte sich nun erstmals zu einer Form der Demokratie, in der keine demokratischen Kräfte vom politischen Wettbewerb ausgeschlossen waren.

Mit der Option staatliche Einheit war die Demokratisierung ab Dezember 1989 auch keine reine DDR-Angelegenheit mehr. Da die Bundesrepublik unmittelbar betroffen war, beteiligten sich nun auch westdeutsche Akteure. Handelnde aus beiden Staaten spielten auf gesamtdeutscher Bühne, die allerdings in der DDR stand und von der Befürworter der DDR-Staatlichkeit die Westdeutschen - insbesondere am Zentralen Runden Tisch - vergeblich fernzuhalten versuchten.

Bereits Anfang des Jahres 1990 begann Deutschland innenpolitisch zu fusionieren. Die sich herausbildende Demokratie nahm unter dem Einfluss westdeutscher Akteure und mit Blick auf das angestrebte Ziel stärker die Form des parlamentarisch-demokratischen Systems der Bundesrepublik an. Die DDR-Demokratie wurde nun eher als Transformationsdemokratie verstanden. Das Engagement Westdeutscher schmälert die Leistungen der DDR-Demokratisierung nicht, im Gegenteil: Sollte eine Wiedervereinigungsoption auf demokratischer Grundlage glaubhaft vertreten werden, so war das Mitwirken der Bürger beider Staaten unabdingbar. Die Entscheidung lag freilich bei den DDR-Bürgern. Eine gesamtdeutsche Option ohne Akteure aus dem Westen aber wäre unglaubwürdig gewesen, ging es doch bei dieser Lösung um Vorgänge, welche die Bundesrepublik nicht nur finanziell direkt und massiv betrafen.

Angesichts der sowjetischen Haltung schienen bis Ende Januar 1990 die Modelle einer DDR-Demokratie weiterhin größere Realisierungschancen zu haben als die der deutschen Einheit. Deren Anhängerschaft wuchs freilich rasch an. Bald dominierten Forderungen nach staatlicher Einheit auf allen Demonstrationen. Dies beeinflusste die internationale Diskussion und entwickelte alle Wirkungen einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die wachsende Einheitseuphorie ergriff Parteien und Organisationen. Die SDP nannte sich in SPD um, West- und Ost-CDU sowie Liberale beider Staaten bestimmten ihr Verhältnis zueinander, und auch in den neuen politischen Gruppierungen kam es zu entsprechenden Polarisierungen.

Runde Tische - Instrumente der Demokratisierung

Eine Besonderheit der DDR-Demokratisierung waren die Runden Tische, die sich seit Ende November 1989 bildeten. Die meisten Akteure sahen in ihnen Instrumente der Demokratisierung, nicht der angestrebten Demokratie. Sie verfügten über keine ausreichende Legitimierung und dienten als parteiübergreifende Kriseninstrumente zur Vorbereitung freier und demokratischer Wahlen. Ihre Zusammensetzung basierte im Wesentlichen auf der Selbsternennung der beteiligten Akteure. Diese konnten sich jeweils auf die unspezifisch ausgedrückte Akzeptanz verschiedener Teile der Bevölkerung berufen.

Mit den Runden Tischen verband sich noch keine Präferenz für eine besondere Demokratieform im Rahmen dieser oder jener Staatlichkeit, vielmehr wurde hier darüber debattiert. Angesichts der stark polarisierten Situation im Prozess der SED-Entmachtung waren die meist konkordanzdemokratisch arbeitenden Runden Tische geeignete Transformationsinstrumente, um die gewaltfreie Institutionalisierung einer Demokratie - welcher auch immer - zu gewährleisten. Die Tatsache, dass Staatsorgane sowie die SED und ihre Nachfolgeparteien stimmberechtigt einbezogen waren, ergab sich daraus, dass sich Mitglieder aller Parteien und gesellschaftlichen Kräfte, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen, am Umbruch beteiligten. Dies war auch als Zugeständnis an den Kreml zu verstehen, der eine radikale Entmachtung der früheren Eliten des Regimes schon wegen möglicher Auswirkungen auf die sowjetische Innenpolitik, insbesondere auf den Konflikt zwischen Reformern und Systemkonservativen, nicht toleriert hätte.

Transformationsdemokratie

Der Besuch Helmut Kohls bei Michail S. Gorbatschow am 10. Februar 1990 in Moskau läutete eine neue Phase der Demokratisierung ein. Der Kreml gab nun grünes Licht für die Einheit Deutschlands. Die Demokratisierung verlagerte sich in Richtung der Bildung einer Transformationsdemokratie als Voraussetzung für die staatliche Einheit. Alle wichtigen Parteien vertraten inzwischen einen solchen Kurs. Im Wahlkampf ging es kaum mehr um künftige DDR-Konzepte, sondern um den geeigneteren Weg zur staatlichen Einheit.

Nach der Volkskammerwahl am 18. März 1990 begann endgültig die Institutionalisierung einer Transformationsdemokratie. Sowohl die Wahlen selbst als auch das daraus hervorgehende parlamentarisch-demokratische System waren zuvor in Wahl- oder Verfassungsausschüssen der Volkskammer und des Runden Tisches konzipiert worden, waren also trotz westdeutscher Unterstützung DDR-Eigenprodukte. Die Wahl ergab ein deutliches Mehrheitsvotum für den raschen Beitritt nach Artikel 23, die erstrebte Republik war die Bundesrepublik. Mehr noch als die Befürworter einer schrittweisen Annäherung beider Staaten wurden Anhänger basisdemokratischer Modelle marginalisiert. Ihr Konzept wurde mit dem Ziel einer DDR-spezifischen Demokratisierung in Verbindung gebracht, obwohl viele die deutsche Einheit inzwischen ebenfalls akzeptierten oder gar begrüßten und damit Hoffnungen auf eine Erneuerung der politischen Kultur in Deutschland verbanden.

Das Wahlergebnis bedeutete eine Entscheidung für die bundesdeutsche Demokratie auf dem Wege der Schaffung einer Transformationsdemokratie. Zudem hatte die Wahl durch ihre Entscheidung für die staatliche Einheit einen anderen Charakter, als ihn Wahlen in funktionierenden Demokratien haben: Es ging nicht darum, den dem Staat zugrunde liegenden freiheitlich-demokratischen Prinzipien zu entsprechen, um diesen zu bestätigen. Vielmehr erteilten die Wähler der Regierung den Auftrag, den vorhandenen Staat möglichst schnell abzuschaffen und dem Territorium eines anderen Staates anzugliedern. Mit dieser konstitutiven Mehrheitsentscheidung war die Volkskammerwahl in ihren staats- und systemstürzenden Auswirkungen markanter Bestandteil des revolutionären Umbruchs. Wies die Märzwahl bereits deutlich in Richtung Beitritt, so wurde dieser durch den Volkskammerbeschluss über den Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes am 23. August 1990 zum Gesetz erhoben. Die demokratische DDR hatte ihr eigenes Ende besiegelt.

Bei der DDR-Demokratie handelte es sich um eine repräsentative parlamentarische Demokratie. Auf der Strecke blieben Anhänger von Formen direkter Demokratie in den Bürgerbewegungen, denen gegenüber die Volkskammer und die Regierung de Maizière wenig Rücksichtnahme zeigten. Die Zwänge des Einigungsprozesses, fehlende politische Praxis und die Euphorie des Wahlsieges ließen vor allem die Ost-CDU im Eifer des Gefechts, unter anderem in Fragen der Länderzugehörigkeit, für die nach dem Grundgesetz aus gutem Grund plebiszitäre Verfahren vorgeschrieben waren, Formen direkter Demokratie gänzlich ignorieren. Das schadete in den betroffenen Regionen der Herausbildung eines demokratischen Bewusstseins. Die Regierung nutzte zudem die Möglichkeit, Runde Tische und Bürgerkomitees aus dem Rennen zu werfen. Sie wurden nach der Einrichtung parlamentarisch-demokratischer Institutionen als überflüssig erachtet und zudem mancherorts als politisch-gesellschaftliche Ersatzinstrumente marginalisierter Kräfte zur Durchsetzung gesellschaftlicher Alternativstrategien genutzt. Aus Sicht der Regierung war ein straffes, zentrales Handeln angesichts des Tempos und der internationalen Implikationen des Prozesses zur deutschen Einheit unabdingbar. Allerdings kontrastierte diese Haltung mit dem bislang eher einvernehmlichen Miteinander aller politischen Kräfte an den Runden Tischen.

Die Zielgerichtetheit der Wahlentscheidung und der Gesetzgebung durch die erstmals demokratisch legitimierte Volkskammer kennzeichnen die Transformationsdemokratie. Weg und Ziel waren nun klar vorgegeben. Die Entscheidung, die DDR-Demokratie zu nutzen, um den Staat aufzulösen, war historisch gesehen konsequent. Es ging nicht in erster Linie um den einen oder anderen zu bevorzugenden Demokratietyp, sondern um die Wiederherstellung des in Folge des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs geteilten deutschen Staates, nun auf freiheitlich-demokratischer Grundlage. Dominanter Faktor im Prozess der doppelten Demokratisierung war somit immer die Frage der einheitlichen oder geteilten Staatlichkeit.

Demokratie als Grundlage für die deutsche Einheit

Die Demokratisierung der DDR war das entscheidende Element auf dem Weg zur deutschen Einheit. Sie war die von der internationalen Staatengemeinschaft eingeforderte Bedingung für eine Vereinigung. Die Ostdeutschen mussten die Wahl zwischen einer eigenständigen DDR und der Vereinigung mit der Bundesrepublik haben, damit die Nachbarn das größere Deutschland akzeptieren konnten. Nur ein demokratisches Parlament konnte beschließen, der Bundesrepublik beizutreten, nur eine aus freien Wahlen hervorgegangene Regierung den Beschluss umsetzen, sich einem anderen Staat anzuschließen. Die Abfolge zweier Demokratien in kurzer Zeit ergab sich somit direkt aus dem Ziel der Überwindung der deutschen Teilung. Die demokratische DDR hat diesen Weg beschritten und zahlreichen internationalen Widerständen den Wind aus den Segeln genommen. Obwohl viele Regierungen keinen Zweifel daran ließen, dass sie ein vereintes Deutschland nicht wünschten, machte es ihnen der demokratische Charakter eines Prozesses schwer, die deutsche Einheit abzulehnen, dessen Akteure sich auf das inzwischen selbst vom Kreml anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten beriefen.

Selbstverständlich hätte die demokratische Entscheidung der Ostdeutschen aber allein für eine Wiedervereinigung nicht ausgereicht. Ihr Gegenstück war der entsprechende artikulierte Wille der Westdeutschen. Die demokratische Entscheidung, den anderen Teil Deutschlands, wenn dereinst möglich, in das eigene Staatsgebiet aufzunehmen, war schon Jahrzehnte zuvor gefallen. Sie hatte gegen den anfänglichen Widerstand der Westalliierten auf Drängen des Parlamentarischen Rates ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden und war zur Staatsdoktrin geworden. Bundeskanzler Konrad Adenauer war es zu verdanken, dass sich auch die Verbündeten der Bundesrepublik im Gegenzug zur militärischen Westbindung zumindest formell zum Ziel der deutschen Einheit bekannten. Doch nicht nur in London oder Paris, auch unter den Westdeutschen gab es viele, die das Ziel der Wiedervereinigung als überholt ansahen. 1990 zeigten Umfragen jedoch, dass sich eine große Mehrheit der Bevölkerung der Bundesrepublik für die Wiedervereinigung aussprach. Tatsächlich bedurfte es angesichts der staatsrechtlichen Voraussetzungen dafür nur noch der demokratischen Entscheidung des kleineren Teils der Deutschen in der DDR.

Dabei darf die Entscheidung der Ostdeutschen zum Beitritt nicht isoliert als Grundlage der Einheit angesehen werden. Es war der Freiheitsaufstand des Herbstes 1989, der die Grundlage für die demokratische Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Staatlichkeit schuf. Insofern waren die Entmachtung der SED und die DDR-Demokratisierung grundlegend für den Transformationsprozess: Ohne die Schaffung freiheitlich-demokratischer Verhältnisse in der DDR hätte es keine Transformation in Richtung Bundesrepublik gegeben.

Zielgerichtete Transformation

Insbesondere seit dem Staatsvertrag über die Schaffung einer Wirtschafts-, Währungs-, und Sozialunion vom 18. Mai 1990 begann ein Systemwechsel, ein institutioneller Umbruch- und Anpassungsprozess, von dem die Ersetzung der DDR durch die bundesdeutsche Demokratie nur ein, allerdings maßgeblicher und unabdingbarer, Aspekt war. Die Friedliche Revolution fand schließlich im Einigungsvertrag vom 30. August 1990 ihre "umstürzende Transformationsformel". Mit ihm wurde die Verfassungs- und Rechtsordnung der DDR außer Kraft gesetzt und die der Bundesrepublik auf das bisherige Gebiet der DDR und Berlins ausgedehnt. Das Spezifische des Transformationsprozesses bestand in der Übertragung eines funktionierenden Institutionen- und Rechtssystems einschließlich eines Transfers von Eliten zur Besetzung von Führungspositionen. Institutionen- und Personentransfer bildeten, zusammen mit massiven Finanztransfers, eine "Triade von exogenen Bestimmungsfaktoren, die den inhaltlichen Korridor und das Tempo des institutionellen Umbruchs in Ostdeutschland in hohem Grade steuerte und ihn an den Grundstrukturen der Institutionenwelt der alten Bundesrepublik ausrichtete". Der Umbruch war "von einer Integrationslogik gesteuert, die Korridor und Richtung des Transformationspfades innerhalb der der alten Bundesrepublik eigentümlichen politischen, institutionellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Grundentscheidungen und -strukturen weitgehend vorzeichnete und absteckte". Damit waren Typus und Spielregeln des künftigen Regimes in Ostdeutschland zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt festgelegt als in den Staaten Ost-, Südost- und Mitteleuropas.

Die Entscheidung für die bundesdeutsche Demokratie war kein isoliertes Votum, sondern stand im Zusammenhang mit der Entscheidung für das "Paket Wiedervereinigung". Darin enthalten waren neben Staat, Rechtssystem, Wirtschaft und Gesellschaft auch die bundesdeutsche Demokratie. Insgesamt dürfte deren Funktionsweise bei der Paketentscheidung eine eher nachgeordnete Rolle gespielt haben. Sicher hätten die DDR-Bürger auch andere Demokratie-Modelle akzeptiert. Wichtig war ihnen vor allem der gesamtdeutsche Charakter der politischen Ordnung.

DDR-Demokratie ohne deutsche Einheit?

Hypothetisch kann gefragt werden, wie sich die DDR-Demokratie ohne Ausrichtung auf Wiedervereinigung entwickelt hätte. Inwieweit war sie von der Entscheidung beeinflusst, die Demokratie nur zu ihrer Ersetzung durch eine andere Staatlichkeit samt einer anderen Demokratie zu nutzen? Fest steht, dass die Volkskammer so oder so gewählt worden wäre. Spekulation muss bleiben, ob eine durch internationalen Druck erzwungene Beibehaltung der DDR-Staatlichkeit zu einem anderen Ergebnis der Volkskammerwahl geführt hätte. Vielleicht hätte die Bevölkerung in diesem Fall in der SPD einen geeigneten Verhandlungspartner im Rahmen des dann fortgesetzten Zwangsbündnisses mit der Sowjetunion gesehen. Andererseits siegte die CDU auch bei den Kommunalwahlen im Mai 1990 und den Landtagswahlen am 14. Oktober 1990; beide standen in keinem direkten Zusammenhang mit der Frage der Ein- oder Zweistaatlichkeit. Sicher hätte es, statt der stark von der Bundesregierung beeinflussten Arbeit der Volkskammer bei der Verabschiedung von Gesetzen zum Zweck der Vorbereitung und Vollendung der deutschen Einheit, eine auf die andauernde Staatlichkeit der DDR bezogene Gesetzesarbeit gegeben. Diese hätte wohl vor allem die tiefgreifende ökonomische, finanzielle und gesellschaftliche Krise des Staates und dessen weiterhin enge Bindungen an eine sich wandelnde Sowjetunion zum Inhalt haben müssen.

In institutioneller Hinsicht aber, so scheint es, hätte sich eine auf andauernde DDR-Staatlichkeit bezogene Demokratie kaum wesentlich von der tatsächlich installierten Transformationsdemokratie mit dem Ziel der deutschen Einheit unterschieden. Auch Institutionen der Demokratisierung wie die Runden Tische wären wohl keine maßgeblichen Einrichtungen geblieben. Sie wurden ebenso wie die Bürgerkomitees bereits von der Mehrparteienregierung unter Lothar de Maizière zugunsten der Institutionen des parlamentarischen Systems abgeschafft. Wohl aber hätten beide Institutionen in einer fortbestehenden DDR möglicherweise eine größere Rolle als Modell bei späteren Konfliktlösungen gespielt. Auf Landesebene hat sich etwa der Sächsische Landtag ausdrücklich auf seine Herkunft aus den Runden Tischen der drei sächsischen DDR-Bezirke berufen. Auf kommunaler Ebene gab es lange Zeit zahlreiche konkordanzdemokratische Modelle. Beides ließ sich auch im Rahmen der bundesdeutschen Demokratie problemlos realisieren.

Wodurch, so ist verallgemeinernd zu fragen, muss sich eine Demokratie von einer Transformationsdemokratie unterscheiden, deren Ziel ihre Ersetzung durch eine andere Demokratie ist? Zunächst wird letztere die Konditionen ihrer Existenz definieren, in diesem Fall ihre zeitliche Begrenztheit und ihre Funktion, die in der Aufhebung ihrer selbst besteht. Ansonsten aber basieren beide auf dem Prinzip der demokratischen Willensbildung, egal wie diese im Einzelnen organisiert ist. Gravierende Unterschiede hinsichtlich der Funktionsweise ergeben sich aus dem Transformationscharakter nicht.

Wechsel zur bundesdeutschen Demokratie

Am 3. Oktober 1990 trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei und hörte zugleich auf zu bestehen. Auf dem Gebiet der neuen Bundesländer galten die Regeln bundesdeutscher Demokratie. Auf kommunaler bzw. regionaler Ebene hatten im Mai, noch in der DDR, Wahlen stattgefunden, deren Ergebnisse gültig blieben. Sie waren bereits in Anlehnung an bundesdeutsche Bestimmungen abgehalten worden und können so als Vorgriff auf die bundesdeutsche Demokratie angesehen werden. Am 14. Oktober folgten Landtagswahlen, am 2. Dezember 1990 konnten die Ostdeutschen erstmals über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestags mitentscheiden.

Die Wiedervereinigung brachte indes auch für das bundesdeutsche Modell teils gravierende Veränderungen mit sich, wenn auch zunächst weniger auf der Ebene grundsätzlicher Funktionsweisen der Demokratie. Generell aber führt jede Integration zweier selbständiger Systeme, selbst wenn sie überwiegend unter den Bedingungen eines der beiden Teilsysteme erfolgt, das unter Ressourcengesichtspunkten absolut bestimmend ist, zu einem neuen System und damit prinzipiell auch zu Rückwirkungen auf beide Teilsysteme. Eine dynamische Komponente erhielt der Transformationsprozess zudem dadurch, dass auch die Struktur der Bundesrepublik mit ihrer vom Anspruch her offenen Gesellschaft nicht endgültig, sondern selbst permanent in Veränderung begriffen ist. Zunächst einmal wurde das parlamentarisch-demokratische System territorial ausgeweitet. Im Bundestag saßen, nach einer Interimslösung ab Oktober, seit der Bundestagswahl im Dezember 1990 nun auch ostdeutsche Mandatsträger. Vor allem aber wurde in den neuen Bundesländern an eigene, der SED-Herrschaft und dem NS-Regime vorausgehende Traditionen angeknüpft. Sachsen etwa konnte auf eine Jahrhunderte währende Staatlichkeit zurückschauen. In der föderalen bundesdeutschen Ordnung sind die Länder konstitutive Elemente des Bundesstaates, auch wenn Zentralisierungstendenzen gelegentlich einen anderen Eindruck erwecken.

Die Transformation vollzog sich im Osten im Wechselspiel der Übernahme des bundesdeutschen Systems und der Gestaltung eines darin integrierten Eigenlebens. Deswegen scheint es sinnvoll, in Erweiterung des Begriffs eines Institutionentransfers zwischen exogenen und endogenen Faktoren der Institutionenbildung zu unterscheiden. Exogene Faktoren sind dabei in diesem Zusammenhang die Muster der bundesdeutschen Demokratie. Endogene Faktoren sind strukturelle und organisatorische Muster, Restbestände der DDR-Institutionenordnung, personelle Kontinuitäten, der Elitenaustausch in Politik, Verwaltung und Parteien sowie die politischen Einstellungen und Werthaltungen der Bevölkerung als soziokultureller Unterbau der neuen Institutionenordnung. Am nachhaltigsten wirken endogene Faktoren im Mikro-Bereich politischer und Wertvorstellungen. Es erscheint daher plausibel, vom Bild einer langsamen Amalgamierung, einer Gemengelage von west- und ostdeutschen institutionellen Strukturmustern und soziokulturellen Erbschaften des DDR-Systems sowie dem entsprechenden Gepäck auszugehen, das die westdeutschen Importeliten und Aufbauhelfer mitbrachten.

Zur ostdeutschen Erbschaft gehören nicht nur die Folgen der SED-Diktatur und geschichtliche Traditionen, sondern auch der spezifische Pfad der DDR-Demokratisierung. Viele Akteure der Friedlichen Revolution erinnern sich nicht ohne Wehmut an das konkordanz- beziehungsweise basisdemokratische Erbe der Revolution und der Runden Tische sowie an ihre eigene Demokratisierungsleistung. Diese ist in der Tat einmalig in der deutschen Geschichte. Haben die Westdeutschen die Demokratie nach dem Kriege mit administrativer Unterstützung der westlichen Alliierten installiert, war sie in der DDR der Jahre 1989/90 nach vierzig Jahren Diktatur das Ergebnis eigener Bemühungen.

In der Friedlichen Revolution haben die Ostdeutschen mutig Freiheit und Demokratie erkämpft und ihren Anspruch auf Selbstbestimmung auch gegen gewichtige internationale Widerstände durchgesetzt. Die Tatsache, dass couragierte DDR-Bürgerinnen und -Bürger und mit ihnen auch viele Westdeutsche 1989/90 mit Freiheit und Demokratie zugleich die deutsche Einheit errungen haben, gehört zu den Sternstunden deutscher Geschichte im vergangenen Jahrhundert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Konrad H. Jarausch, Aufbruch der Zivilgesellschaft. Zur Einordnung der friedlichen Revolution von 1989, in: Totalitarismus und Demokratie, 2 (2006) 1, S. 25 - 46. Nach Andreas Eisen und Max Kaase beginnt die Phase der Demokratisierung erst im Dezember 1989; vgl. dies., Transformation und Transition. Zur politikwissenschaftlichen Analyse des Prozesses der deutschen Vereinigung, in: dies. u.a. (Hrsg.), Politisches System (Berichte der Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern [KSPW], Reihe: Berichte zum sozialen und politischen Wandel in Ostdeutschland 3), Opladen 1996, S. 9.

  2. Vgl. Michael Richter, Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90 (Schriften des HAIT 38), Göttingen 2009, S. 496.

  3. Vgl. Rainer Eckert, Sozialismusvorstellungen und Hoffnungen auf Demokratie im Herbst 1989, in: Dietrich Papenfuß/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert, Köln-Weimar 2000, S. 567 - 583.

  4. Vgl. M. Richter (Anm. 2), S. 496.

  5. Vgl. Steffen Kailitz, Staatsformen im 20. Jahrhundert II: Demokratisches Systeme, in: Alexander Gallus/Eckhard Jesse (Koord.), Staatsformen. Modelle politischer Ordnung von der Antike bis zur Gegenwart, München 2004, S. 314f. u. S. 320.

  6. Anderer Auffassung sind Klaus König/Volker Messmann, Organisations- und Personalprobleme der Verwaltungstransformation in Deutschland, Baden-Baden 1995, S. 25, die meinen, die Mehrheit der Wähler habe "ihre Republik nicht selbst definieren" wollen.

  7. Vgl. Michael Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen. Friedliche Revolution, Föderalisierung, deutsche Einheit 1989/90 (Schriften des HAIT 24), Göttingen 2004, S. 397 - 453.

  8. Hellmut Wollmann, Institutioneller Umbruch in Ostdeutschland, Polen und Ungarn im Vergleich, in: Berliner Journal für Soziologie, 7 (1997) 4, S. 527f.

  9. Hellmut Wollmann/Hans-Ulrich Derlien u.a. (Hrsg.), Transformation der politisch-administrativen Strukturen in Ostdeutschland (Beiträge zu den Berichten der KSPW, Band 3. 1), Opladen 1997, S. 10f.

  10. Vgl. Wolfgang Merkel, Warum brach das SED-Regime zusammen? Der "Fall" (der) DDR im Lichte der Demokratisierungstheorien, in: Ulrike Liebert/Wolfgang Merkel (Hrsg.), Die Politik zur deutschen Einheit, Opladen 1991, S. 20f.

  11. Vgl. A. Eisen/M. Kaase (Anm. 1), S. 13.

  12. Vgl. Klaus König, Verwaltung im Übergang. Vom zentralen Verwaltungsstaat in die dezentrale Demokratie, in: Die Öffentliche Verwaltung, 44 (1991), S. 178.

  13. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Institutionentransfer. Zur politischen Logik der Verwaltungsintegration in Deutschland, in: Wolfgang Seibel/Arthur Benz/Heinrich Mäding (Hrsg.), Verwaltungsreform und Verwaltungspolitik im Prozeß der deutschen Einigung, Baden-Baden 1993, S. 41.

  14. Vgl. A. Eisen/M. Kaase (Anm. 1), S. 7, S. 39 u. S. 42f.

Dr. phil., geb. 1952; Zeithistoriker am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung (HAIT), 01062 Dresden.
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