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Roma und Minderheitenrechte in der EU. Anspruch und Wirklichkeit | Sinti und Roma | bpb.de

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Roma und Minderheitenrechte in der EU. Anspruch und Wirklichkeit

Herbert Heuss

/ 16 Minuten zu lesen

Minderheitenrechte sind keineswegs hinreichend, um die Lage von Roma-Gruppen zu verbessern. Es ist Aufgabe der Roma-Organisationen wie die der Politik und der Zivilgesellschaft, Konzepte zu entwickeln.

Einleitung

Während die Europäische Kommission ihren Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 vorstellt, während unter der Ratspräsidentschaft Ungarns hochrangige Konferenzen zur Umsetzung eben dieser Strategien veranstaltet werden, marschieren zur selben Zeit rechtsextreme, gewaltbereite "Garden" und militante "Bürgerwehren" in Städten und Gemeinden auf, die Rassenhass gegen Roma propagieren, wie aktuell im ungarischen Gyöngyöspata. Der massive Rassismus in einer Reihe von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) hat seine Ursache in den sozialen Problemen, mit denen diese Staaten nicht erst seit der Finanzkrise massiv konfrontiert sind, und er verschärft die sozialen Spannungen in diesen Ländern.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission eines EU-Rahmens für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 hat vielfältige Erwartungen geweckt. Die Initiative wird innerhalb der Roma-Organisationen breit diskutiert. Obwohl die Bedeutung dieses ersten umfassenden Dokuments auf EU-Ebene nicht zu unterschätzen ist, sind gleichwohl die Erwartungen nicht übermäßig hoch. Die Enttäuschungen nach der Osterweiterung der Union 2004 und 2007 sind unter den Roma in Europa nach wie vor präsent. Große Gruppen der Roma-Bevölkerung insbesondere in den neuen Mitgliedstaaten in Ost- und Südosteuropa befinden sich nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten in einer schlechteren Lage als zuvor. Die in den Beitrittsverhandlungen zur EU eingeforderten Minderheitenrechte wurden zwar pro forma in den verschiedenen Staaten ins Rechtssystem aufgenommen, de facto aber nicht umgesetzt.

Mit dem Beginn der letzten beiden EU-Erweiterungen war die Frage der Minderheiten erneut virulent geworden, nicht zuletzt wegen der Zahl der Roma in den neuen Beitrittsländern und deren befürchteter Migrationen gen Westeuropa. Der Schutz von Minderheiten überhaupt und die seit dem Beginn der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) erstmals in Kopenhagen 1990 ausdrücklich erwähnte Situation der Roma wurde für die EU im Laufe der Beitrittsverhandlungen zu einem Beitrittskriterium. In den Beitrittsverhandlungen für 2004 und zuletzt mit Bulgarien und Rumänien wurden Minderheitenrechte eingefordert, die innerhalb der EU nicht selbstverständlich sind: Frankreich, Belgien und Griechenland haben die einschlägigen Konventionen des Europarates nicht unterschrieben oder gar ratifiziert.

Es besteht die paradoxe Situation, dass einerseits in den meisten neuen Mitgliedstaaten ein formal weitaus besserer Schutz vor Diskriminierung besteht als in einigen der alten EU-Staaten und gleichzeitig Roma in den neuen Mitgliedstaaten massiver Diskriminierung und gewaltbereitem Rassismus ausgesetzt sind. Die Zwiespältigkeit der EU in Minderheitenfragen wird auch an anderer Stelle deutlich: Das Beispiel Kosovo zeigt, dass die EU-Minderheitenrechte nicht konsequent verfolgt und gegebenenfalls schlicht ignoriert werden. Vor dem Krieg lebten im Kosovo rund 120000 Roma, Ashkali und Kosovo-Ägypter, der Anteil der verschiedenen Minderheitengruppen lag bei zwölf Prozent. Heute leben nur wenige tausend Roma im Kosovo, der Minderheitenanteil liegt bei nur noch fünf Prozent. Bei den Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo blieben Roma ebenso wie andere Minderheitenvertreter ausgeschlossen.

Die Aufforderung der Europäischen Kommission an die Mitgliedstaaten, nationale Strategien endlich umzusetzen, ist auch ein Erfolg jahrzehntelanger Bürgerrechtsarbeit. Im KSZE-Abschlussdokument von Kopenhagen wurde 1990 erstmals in einem internationalen Dokument die Lage der Roma in einem besonderen Abschnitt erwähnt, nicht zuletzt aufgrund der intensiven Lobbyarbeit einzelner Roma-Vertreter. In der Folge wurde das Thema Roma ständiger Tagesordnungspunkt auf den Human Dimension Conferences der KSZE wie der späteren OSZE. Unter dem Dach der Organisation for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) wurde 1994 der Contact Point on Roma and Sinti Issues (CPRSI) eingerichtet, der seitdem in der OSZE-Region in allen Politikfeldern, die Roma betreffen, aktiv ist. Bereits 2003 wurde ein umfangreiches Dokument, der Action Plan on Improving the Situation of Roma and Sinti Within the OSCE Area, beschlossen.

Der Europarat beschäftigt sich bereits seit den 1970er Jahren mit der Lage von Roma. In den 1990er Jahren wurde eine Expertenkommission zur Lage von Roma berufen, in die inzwischen 14 Mitgliedstaaten, ebenso Roma-NGOs, feste Vertreter entsenden. Der Europarat hat seither eine Reihe von Empfehlungen zur Lage von Roma abgegeben und ist in allen Politikfeldern aktiv. Damit gibt es bei Europarat und OSZE jeweils direkte institutionelle Gremien für Roma; die EU, die nach wie vor grundsätzlich eine Politik des mainstreaming verfolgt, hat eine Reihe von Programmen ausdrücklich für Roma geöffnet. Ob innerhalb der Europäischen Kommission ein eigenes institutionelles Forum zum Thema Roma etabliert wird, steht trotz der neuen Rahmenvorgabe noch aus.

Roma als nationale Minderheiten

Die neuen und die ganz neuen Mitgliedstaaten der EU haben während und nach der EU-Erweiterung eine formale Einbindung von Minderheiten erreicht, die über dem Standard der meisten westeuropäischen Mitgliedstaaten liegt. Rumänien etwa garantiert den Minderheitenparteien mindestens einen Vertreter im Parlament; seit einigen Jahren gibt es an den Universitäten Quoten für Roma-Studenten in bestimmten Fächern (z.B. Pädagogik, Sozialpädagogik, Jura), um die Zahl der Roma-Akademiker zu erhöhen. Fast alle Regierungen der neuen Mitgliedstaaten haben auf Regierungsebene Gremien für die Beteiligung von Minderheiten geschaffen und entsprechende Strategien und Aktionspläne zur Verbesserung der Situation von Roma entwickelt.

Innerhalb der EU leben knapp 6,2 Millionen Roma, in Europa über elf Millionen; sie bilden damit eine der größten Minderheiten. Roma sind aber gerade keine europäische Minderheit - wie es oft auch wohlmeinend gesagt wird -, sondern sie sind zuallererst nationale Minderheiten in ihren jeweiligen Heimatländern. Außerdem sind Roma auch innerhalb der verschiedenen Länder keine homogene Gruppe, sondern sie unterscheiden sich vielfältig nach Sprache und Tradition, ökonomischer Lage, Religion und vielen anderen Kriterien. Roma sind entsprechend in (fast) allen Schichten der jeweiligen nationalen Bevölkerungen in den jeweiligen Mitgliedstaaten vertreten, in denen sie oft seit Jahrhunderten ansässig sind. Die Roma im Burgenland heißen Burgenländische Roma, weil sie seit Jahrhunderten im Burgenland wohnen; Gleiches gilt für die vielen verschiedenen Gruppen in den anderen Ländern. Die Vorstellung also, dass Roma gleichsam heimatlos in Europa umherziehen, ist ein Klischee der Mehrheitsbevölkerung, das mit der Realität nichts zu tun hat, und dient vielmehr der Rechtfertigung von Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Heterogenität der verschiedenen Roma-Gruppen macht es unmöglich, über "die" Roma in Europa zu reden, ohne die jeweilige lokale Situation genau zu betrachten. Daraus folgt, dass für jedes Projekt und jedes Programm zuerst eine genaue Ressourcenanalyse vor Ort vorgenommen werden muss.

Unabhängig von den verschiedenen Ansätzen und Methoden beschreiben nationale und internationale Studien die Lage von Roma in Europa, besonders in den Beitrittsländern als desolat. Einige Studien warnen eindringlich vor der Gefahr, dass eine weitere Marginalisierung der Roma die soziale Desintegration ganzer nationaler Gesellschaften und massive Migrationen nach Westeuropa zur Folge haben können.

Damit sind die Zivilgesellschaften wie die Roma-Verbände mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Zum einen geht es um die Anerkennung ihrer Minderheitenrechte, zum anderen um die Durchsetzung ihrer sozialen Rechte. Doch bis zu welchem Grad sind Minderheitenrechte eine produktive Kraft in der Entwicklung von Minderheitengruppen? Minderheitenrechte werden in der Regel als "anti-negative Rechte" (Richard Hauser) eingefordert; die Frage ist, wie kann ein positiver Prozess der Teilhabe ermöglicht werden? Anders gefragt: Wie kann eine europäische Rahmenvorgabe via nationale Strategien tatsächlich umgesetzt werden?

Roma in Bulgarien

Die Lage der Roma in Bulgarien zeigt diese Problematik stellvertretend für eine Reihe von neuen Mitgliedstaaten auf. Besonders die Ansätze im schulischen Bereich belegen wie mühsam der Weg zu einer tatsächlichen Verbesserung der Situation ist.

In Bulgarien leben dem letzten Zensus nach 392000 Roma unter einer Bevölkerung von knapp acht Millionen Menschen - verlässliche Schätzungen gehen von einer Roma-Bevölkerung von etwa 700000 Menschen aus. In der sozialistischen Zeit entstanden in Bulgarien die großen Mahala, Roma-Viertel, in denen heute in den größeren Städten oft mehrere zehntausend Roma leben. Nach dem Ende des Sozialismus gab es nochmals einen Zustrom von Roma, die vom Land in die Städte zogen, nachdem sie ihre Arbeit in den großen Betrieben verloren hatten. In diesen Roma-Vierteln, die oft als "Ghettos" bezeichnet werden, wurden während des Sozialismus Schulen gebaut, um dem hohen Analphabetismus zu begegnen - zunächst mit Erfolg, die Alphabetisierungsrate stieg seit dem Ende der 1940er Jahre von weniger als fünf auf über 90 Prozent Ende der 1980er Jahre. In den 1960er Jahren war aber für Roma-Schulen ein besonderes Curriculum eingeführt worden, das auf Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben ausgerichtet war und ansonsten die Entwicklung von beruflichen Fähigkeiten in den Vordergrund stellte: Roma sollten ins sozialistische Proletariat integriert werden. In der Industrie ebenso wie in der kollektivierten Landwirtschaft gab es einen hohen Bedarf an Arbeitern, und eine Arbeitsplatzgarantie bestand unabhängig von der Qualifizierung - bei oft relativ hohen Löhnen in der Schwerindustrie oder im Bergbau.

Die Schulen in den Roma-Vierteln sind heute oft in höchstem Maße vernachlässigt, sie sind schlecht ausgestattet, mit wenig qualifizierten Lehrern und in miserablem baulichem Zustand. Kinder von diesen Schulen haben keine Aussicht auf dem Arbeitsmarkt, es sei denn, als ungelernte Arbeiter. Die Rate von Schulabgängern ist hoch, und Analphabetismus unter jungen Roma nimmt rapide zu. Es gibt indes Beispiele, die zeigen, dass Roma ihre Chancen nutzen können: In Kavarna, einer kleinen Stadt an der Schwarzmeerküste, gibt es eine Roma-Gemeinschaft, die neben kleinen Hotels auch Unterkünfte in Privatwohnungen anbietet - innerhalb der dortigen Mahala. Diese Angebote werden von Touristen genutzt, die entweder keine Berührungsängste mit Roma haben oder schlicht nicht wissen, dass es sich um ein Roma-Viertel in der Stadt handelt. Bulgaren jedenfalls stellen häufig mit Erstaunen fest, dass europäische Touristen dort buchen. Inzwischen verfügt dieses Stadtviertel über die gleiche Infrastruktur wie die anderen Stadtteile, und die lokale Verwaltung und insbesondere der Bürgermeister unterstützen die weitere Entwicklung der Region.

In einer Vielzahl von Dörfern siedeln sich seit einiger Zeit Roma an, die dort preiswert Häuser und Land kaufen können (die Landflucht in Bulgarien ist massiv, der Zuzug nach Sofia und in andere Großstädte ungebrochen). Während anfangs die lokale Bevölkerung eher zurückhaltend war, sind jetzt positive Beziehungen entstanden, zum Beispiel schlicht dadurch, dass Kinder aus Roma-Familien in die lokalen Schulen gehen und so überhaupt den Fortbestand dieser Schulen ermöglichen, die sonst wegen der zu geringen Kinderzahl geschlossen würden. Die Schulen in Roma-Nachbarschaften haben oft einen Anteil von Roma-Kindern, der bei 100 Prozent liegt. Das Open Society Institute gab für 2001 die Zahl von 419 Schulen an, bei denen der Anteil von Roma-Kindern bei 50 bis 100 Prozent lag; 2007 nannte das bulgarische Bildungsministerium 105 Schulen, an denen ausschließlich Roma-Kinder unterrichtet werden. 70 Prozent aller Roma-Kinder gehen nach Angaben des Erziehungsministeriums auf solche Schulen. Die Schulen in diesen Vierteln sind für Lehrer wenig attraktiv: Es gilt eher als Strafe, dort lehren zu müssen. Seit dem Ende des Sozialismus wird die Schulpflicht nicht mehr streng kontrolliert - mit dem Ergebnis, dass viele Eltern ihre Kinder nicht zur Schule schicken, vor allen Dingen, weil der Schulbesuch lange Zeit selbst für die Grundschule mit hohen Kosten verbunden war. Schulbesuch in "integrierten Schulen" außerhalb der Stadtviertel mit besseren Bildungschancen verlangt nach Engagement und materieller Basis: Kleidung und Schulbücher.

Neben der Segregation in Form von Roma-Schulen gibt es andere Formen, vor allen Dingen die Einschulung von Roma-Kindern in Schulen für geistig oder körperlich Behinderte, oder die Abordnung in besondere Klassen für Lernbehinderte innerhalb der regulären Schulen; häufig gibt es Roma-Klassen innerhalb der regulären Schulen. In der Praxis bedeutet Desegregation: Roma-Kinder, die an den Programmen teilnehmen, werden mit Bussen zu integrierten Schulen gebracht, die oft weit von den Roma-Vierteln entfernt sind. Es gibt leider kaum eine längerfristige Untersuchung über die Bildungskarrieren von Kindern in Desegregationsprogrammen. Evaluationen von laufenden Programmen sind oft eher freundlich. In die integrierten Schulen sollen nicht mehr als 30 Prozent Roma-Kinder eingeschult beziehungsweise aufgenommen werden. Es gibt allerdings keine überzeugende Begründung für diese Quote; als Gründe werden genannt, dass eine höhere Zahl wiederum den Charakter von Roma-Schulen transportiere, dass Eltern eine höhere Zahl nicht akzeptierten, dass eine höhere Zahl von Roma-Kindern den Unterricht erschwere, dass das Niveau der integrierten Schulen sinke und Direktoren deshalb keinen höheren Anteil von Roma-Kindern gestatten würden. Jede dieser Begründungen und vor allen Dingen die willkürliche Festlegung einer Obergrenze schreibt automatisch die Ursache für die desolate Schulsituation den Roma-Kindern selbst zu: Ihre Anwesenheit in Schulklassen, wenn sie über 30 Prozent liege, bedeute eine nicht zu tolerierende Last für die Schule, für die Lehrer, für die übrigen Kinder. Implizit bedeutet das, dass jedes Roma-Kind letztlich eine Last für das Schulsystem darstellt.

Desegregationsprojekte finden gegenwärtig in einer Reihe von Städten in Bulgarien statt, nach wie vor wesentlich getragen von Nichtregierungsorganisationen. Damit sind gleichzeitig die Gemeinden als Schulträger davon entlastet, eigene Konzepte zur Schulentwicklung zu produzieren; die Projekte dienen oft als Beleg für das lokale Bemühen um Integration von Roma. Dabei können Desegregationsprojekte beliebig lange neben segregierten Schulen bestehen, offensichtlich ein System, von dem beide profitieren: das Schulsystem mit den lokalen und nationalen Trägern, die ihr Bemühen um Desegregation, wie von der EU und den politisch im Vordergrund stehenden Roma-Organisationen eingefordert, nachweisen können, und ebenso die lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen (Civil Society Organizations/CSO) der Roma, die langfristig mit Zuwendungen internationaler Organisationen wie dem Roma Education Fund oder jetzt zunehmend des Strukturfonds rechnen können.

Bislang richtet sich nur ein Desegregationsprojekt dezidiert an Kinder aus Schulen für Lernbehinderte in Normalschulen (Veliko Tarnovo); fast alle anderen arbeiten nur mit Schulen in Roma-Vierteln. Auch im ältesten Desegregationsprogramm in Vidin, das im September 2000 begonnen wurde, sind keine Kinder aus den Sonderschulen für geistig oder körperlich benachteiligte Kinder involviert: "There are no registered cases of transfer of Roma children from the special school to the mainstream schooling system in Vidin."

Daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen, die bislang nicht hinreichend beantwortet sind. Die Erfolge der Projekte sind nicht messbar, oder es bleibt unklar, welche Kriterien für die Messung von Erfolg angewendet werden. Längst nicht alle Roma-Kinder nehmen (aus unterschiedlichen Gründen) an den Desegregationsprogrammen teil, sei es, dass die Eltern ihre Kinder nicht in weit entfernte Schulen schicken wollen, sei es, dass die materielle Basis für den Besuch in integrierten Schulen fehlt (z.B. sind dort andere Kleidungsstandards gesetzt). Die Zahl der Kinder, die aus Desegregationsprogrammen in die Schulen der Nachbarschaft zurückkehren, ist nicht erhoben; es gibt Berichte über Ablehnung und sekundäre Segregation in den integrierten Schulen; oft schicken bulgarische Eltern ihre Kinder in Schulen, die ausdrücklich nicht an Desegregationsprogrammen teilnehmen. Offen bleibt, welche Auswirkungen Desegregationsprogramme auf diejenigen Kinder haben, die in den Roma-Schulen bleiben. Dort wird weiterhin weniger Geld investiert, und die Fortbildung von Lehrern unterbleibt, weil zuerst die Lehrer in integrierten Schulen trainiert werden und Programme exklusiv zur Verfügung stehen. Die aus dem Strukturfonds der EU zur Verfügung stehenden Mittel für die Verbesserung der Schulsituation wurden in Bulgarien 2007 so dezidiert für Desegregationsprogramme ausgeschrieben, dass Schulen in Roma-Nachbarschaften oder in Dörfern mit überwiegender Roma-Bevölkerung von der Förderung ausgeschlossen wurden.

Unklar bleibt nicht zuletzt, was die intendierte Schließung von Roma-Schulen für die jeweiligen Stadtviertel bedeutet: den Abbau von weiterer Infrastruktur etwa, verbunden mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und einem Zentrum der Gemeinde. Mit der systematischen Vernachlässigung der Schulen in Roma-Vierteln, die mit der Begründung von notwendiger Desegregation fortgesetzt wird, läuft die Gefahr einher, genau das zu produzieren, was als Ursache der desolaten Schulsituation immer wieder beschrieben wird, nämlich die Intensivierung einer ethnischen Segregation, die das Wohnen und die Ausbildung umfasst.

Wenngleich die Ergebnisse von westeuropäischen Studien nicht ohne Weiteres übertragbar sind auf die besondere Lage der Roma in Südosteuropa und speziell in Bulgarien, so zeigen Untersuchungen aus Deutschland, dass soziale Segregation stärkere Auswirkungen hat als ethnische Segregation. Vor allen Dingen aber muss eine Schule in einer ethnischen Umgebung nicht notwendigerweise eine schlechte schulische Versorgung bedeuten. Vielmehr zeigen solche Schulen einen eigenständigen Entwicklungskontext, unabhängig von ihrer Lage. Diese Möglichkeiten sind bislang in der Diskussion nicht nur der schulischen Förderung von Roma in Bulgarien weitgehend ausgeblendet worden. Wenn die Ursachen der desolaten Lage von Roma-Schulen deutlich in der jahrzehntelangen Vernachlässigung liegen, dann lautet die Frage, warum nicht neben den - in der Tat oftmals notwendigen - Desegregationsprogrammen ebenso in die Roma-Schulen direkt investiert wird und welches Bild vom "Zigeuner" dies verhindert. Die Schlussfolgerung aus diesen Überlegungen kann nur lauten, dass jedes Programm und jedes Projekt schließlich auf lokaler Ebene umgesetzt werden muss, dass also europäische und nationale Strategien immer nur den Rahmen vorgeben können.

Grenzen des Minderheitenrechts

Allen Erziehungsprojekten der Moderne, seien sie auf Roma gerichtet oder nicht, war die Disziplinierung des Subjekts, die Zurichtung des Menschen auf die Anforderungen der modernen Arbeitswelt gemeinsam. Dies galt für die Projekte des Sozialismus, und dies gilt ebenso für die der aktuellen Zivilgesellschaft. Erziehung gilt gemeinhin als Kern der Zivilgesellschaft; Schule gilt als Voraussetzung für Selbstorganisation und Teilhabe. Die Anforderung an Roma lautet in der Regel, dass sie ihre vermeintliche Lebensform aufzugeben und sich der modernen Gesellschaft anzupassen hätten.

Diese Haltung findet sich auch in der aktuellen Diskussion über die Rahmenvorgabe der Europäischen Kommission ebenso wie in der Roma-Dekade: "There is a prevailing understanding among Bulgarians that Roma should not be confined to separate ghettos on the outskirts of urban and rural communities, inside which those traits and traditions, which hold back their social advancement, keep reproducing." Auch bei der Vorstellung des EU-Rahmens in Berlin im April 2011 wurden wieder die Stichworte "Nomadismus" und "Lebensweise" genannt und damit wiederum die Ursachen für die oft desolate Lage großer Teile der Roma-Bevölkerung eben deren vorgeblichem Verhalten zugeschrieben. Ähnliche Pauschalzuschreibungen sind wiederholt auch im Deutschen Bundestag zu hören, wenn etwa "den" Roma vorgehalten wird: "Ihr [sic!] dürft eure Frauen nicht verprügeln. Ihr dürft die Mädchen nicht zwangsverheiraten."

Damit komme ich zurück auf die eingangs gestellte Frage nach den Grenzen des Minderheitenrechts: die Annahme nämlich, dass Gerechtigkeit hergestellt werden könne durch normative Aktionen, durch das Einklagen von Nicht-Diskriminierung. Die vielfältigen Analysen der benachteiligten Situation von Roma bestätigen einerseits immer wieder den Befund (in anderen Worten, sich selbst), tragen aber kaum zur Verbesserung der Situation bei und befördern kaum das eigene Bemühen um Verbesserung der Situation. Damit wird das Feld politischer CSOs bestätigt, die ihr Insistieren auf Gerechtigkeit bestätigt sehen und die gegen Normverletzungen vorgehen, ohne aber - im Fall der Schulen - über das politische Konzept der Desegregation ebenso adäquate pädagogische Konzepte zur Verbesserung der Bildungssituation zu entwickeln.

Für die Minderheiten bedeutet das, dass zwar einerseits Minderheitenrechte ohne Zweifel unerlässlich notwendig sind, aber eben keineswegs hinreichend, um die oft desolate Lage von Roma-Gruppen nachhaltig zu verbessern. Es wird Aufgabe der Roma-Organisationen selbst ebenso wie die der Politik und der Zivilgesellschaft sein, Konzepte zu entwickeln, die Minderheiten in die Entwicklung der Gesamtgesellschaft systematisch einbinden. Die Europäische Kommission verfügt mit ihrer grundsätzlich auf mainstreaming ausgerichteten Politik gegenüber Minderheiten durchaus über Fördermöglichkeiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. die Berichte im Pester Lloyd vom 27.4.2011, online: www.pesterlloyd.net/2011_17/17gyoengyos
    DIE/17gyoengyosdie.html (27.4.2011). Ähnliche Aufmärsche fanden 2011 in der Slowakei und in Bulgarien statt.

  2. Vgl. http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=518&langId=de (14.4.2011).

  3. Siehe etwa den Bericht der Weltbank "Roma in an Expanding Europe: Breaking the Poverty Cycle", 2005, online: http://siteresources.worldbank.org/
    EXTROMA/Resources/roma_in_expanding
    _europe.pdf (1.4.2011).

  4. In erster Linie die Framework Convention for the Protection of National Minorities, CETS No. 157, 1.2.1995, online: http://conventions.coe.int/Treaty/en/
    Treaties/Html/157.htm (10.1.2011). Die European Charter for Regional or Minority Languages, CETS No. 148, 5.11.1992, spielte eine nachgeordnete Rolle, online: http://conventions.coe.int/Treaty/en/
    Treaties/Html/148.htm (10.1.2011). Die EU-Gleichbehandlungsrichtlinie schließlich ist die einzige rechtliche Grundlage für Minderheitenrechte in der EU.

  5. Vgl. www.gfbv.de/pressemit.php?id=1015&highlight=Kosovo oder www.roma-kosovoinfo.com/index.php?option=com_frontpage&Itemid=1&limit
    =21&limitstart=21 (5.4.2011).

  6. Vgl. www.osce.org/odihr/18158.html (5.4.2011).

  7. Vgl. www.coe.int/t/dg3/romatravellers/mgsrom
    /default_en.asp (5.4.2011).

  8. Nach Angaben des Europarates, online: www.coe.int/t/dg3/romatravellers/default_
    en.asp (1.4.2011).

  9. Beim Zensus galt als Kriterium die Selbsteinschätzung als "Roma". Große Teile der Roma-Bevölkerung rechnen sich zu den Türken; andere Gruppen lehnen den Begriff "Roma" für sich ab, da Roma mit der Gruppe der Kalderash gleichgesetzt wird; andere wollen ausdrücklich nicht als Minderheit in Erscheinung treten.

  10. Vgl. www.romatransitions.org/node/166 (20.4.2011).

  11. Vgl. Krassimir Kanev/Kalinka Vassileva, Local Initiatives: Desegregation in Bulgaria, in: Public Interest Law Initiative - Columbia University, Separate and Unequal. Combating Discrimination against Roma in Education, Budapest 2004.

  12. Zur neueren Diskussion in den USA und Bulgarien vgl. Susan Roberta Katz/Hristo Kyuchukov/Kevin Graziano, The Complexity of Language Issues in School Desegregation: Case Studies of Latino Students in the United States and Roma Students in Bulgaria, in: Rumjahn Hoosain/Farideh Salili (eds.), Language in Multicultural Education, Greenwich, CT 2005, mit bibliografischen Hinweisen.

  13. Open Society Institute/EU Monitoring and Advocacy Programme (EUMAP), Equal Access to Quality Education for Roma, Vol. 1 (Bulgaria, Hungary, Romania, Serbia), Budapest-New York 2007, S. 99.

  14. Auch aktuelle Dokumentationen zeigen noch immer diesen Mangel an klaren Kriterien, wie z.B. die in Anm. 13 genannte Untersuchung des Open Society Institute. Multi-level-Studien über Roma-Nachbarschaften und Schulen stehen bislang aus.

  15. Obwohl offenkundig ist, dass die Schulen in den Roma-Nachbarschaften bis auf Weiteres bestehen bleiben werden, allein schon aufgrund der demografischen Entwicklung, empfiehlt EUMAP "(to) redirect funds from segregated schools in Roma neighbourhoods as they become obsolete, to mainstream, integrating schools. These funds should be used as incentives for the improvement of the schools' infrastructure, and as a means to pay salaries of integrated teachers." Open Society (Anm. 13), S. 25.

  16. Vgl. Dietrich Oberwittler, The Effects of Ethnic and Social Segregation on Children and Adolescents: Recent Research and Results from a German Multilevel Study. Discussion Paper Nr. SP IV 2007-603. Veröffentlichung der Arbeitsstelle Interkulturelle Konflikte und gesellschaftliche Integration, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, online: www.wz-berlin.de/zkd/aki/files/aki_segregation_
    kinder_jugendliche.pdf (20.4.2011).

  17. World Bank, Attitudes Towards the Roma in Bulgaria, Washington, DC, Juli 2005, online: http://siteresources.worldbank.org/
    INTROMA/Resources/BulgariaQualitativeReport
    .rtf (1.5.2011), S. 42.

  18. So Erika Steinbach, MdB, für die Fraktion der CDU/CSU in der Aussprache über den Antrag der Grünen, Für die Umsetzung der Gleichstellung von Sinti und Roma in Deutschland und Europa, BT-Drs. 17/5191 am 24.3.2011; der Antrag folgte auf die Rede von Zoni Weisz in der Gedenkstunde am 27.1.2011 in der Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages zum Internationalen Holocaust Gedenktag; vgl. auch den Text von Weisz in diesem Heft.

  19. Dieser Befund wird inzwischen auch von Roma CSOs und Unterstützern problematisiert, vgl. z.B. Project on Ethnic Relations, Romani Politics. Present and Future, 2005, online: www.per-usa.org/Reports/PER_Romani_Politics.pdf (2.4.2011).

Geb. 1954; Politikwissenschaftler beim Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, Bremeneckgasse 2, 69117 Heidelberg. E-Mail Link: herbert.heuss@sintiundroma.de