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"Man wird nicht Amokläufer, weil man ein brutales Computerspiel gespielt hat" - Doppelinterview mit Stefan Aufenanger und Christian Pfeiffer | Jugend und Medien | bpb.de

Jugend und Medien Editorial Kinder und Jugendliche im Web 2.0 - Befunde, Chancen und Risiken "Man wird nicht Amokläufer, weil man ein brutales Computerspiel gespielt hat" - Doppelinterview mit Stefan Aufenanger und Christian Pfeiffer Gewaltmedienkonsum und Aggression Aktuelle Herausforderungen für die Medienpädagogik Mit "Ballerspielen" gegen pädagogische "No-Go-Areas"? Erfahrungen mit Eltern-LANs Gezielte Grenzverletzungen - Castingshows und Werteempfinden "Medienkompetenz" - Chimäre oder Universalkompetenz? - Essay

"Man wird nicht Amokläufer, weil man ein brutales Computerspiel gespielt hat" - Doppelinterview mit Stefan Aufenanger und Christian Pfeiffer

Christian Stöcker Stefan Aufenanger Christian Pfeiffer Christian Pfeiffer Stefan Aufenanger / Christian Stöcker /

/ 18 Minuten zu lesen

Digitale Medien sind aus dem Alltag vieler Kinder und Jugendlicher nicht mehr wegzudenken. Überwiegen die Gefahren, wie etwa durch Computerspielabhängigkeit, oder die Chancen? Wo besteht politischer Handlungsbedarf?

Einleitung

Stöcker: Herr Pfeiffer, wann waren Sie zum letzten Mal online?

Pfeiffer: Ich bin kein aktiver Nutzer von Online-Spielen, aber ich stehe häufig hinter Menschen, die solche Spiele testen, weil wir gerade ein aktuelles Forschungsprojekt zu diesem Thema durchführen. Da begebe ich mich gelegentlich in die Beobachterrolle, bei Spielen wie "World of Warcraft" oder "Metin 2", das wir gerade systematisch analysiert haben. Ansonsten nutze ich Computer nur für den Alltag, E-Mails versenden ...

Haben Sie denn ein Smartphone?

Pfeiffer: Natürlich, ich habe eben erst eine Mail bekommen. In dieser Form bin ich jeden Tag online.

Und Sie, Herr Aufenanger?

Aufenanger: Ich bin intensiver Internetnutzer. Ich lese jeden morgen ab sieben oder acht Uhr "Spiegel Online" und viele andere Internetseiten. Ein Computerspieler bin ich allerdings auch nicht. Ich habe zwei Enkel, mit denen ich "Wii" spiele. Ich kenne die Spiele, spiele manchmal ein bisschen mit, aber ich bin kein Durchspieler, ich beobachte auch eher Studenten beim Spielen.

Würden Sie beide sagen, digitale Medien sind aus Ihrem Alltag nicht mehr wegzudenken?

Pfeiffer: Ganz sicher. Das revolutioniert die Kommunikation. Aufenanger: Wenn wir in den Urlaub fahren, bekomme ich schnell Ärger mit meiner Frau, wenn ich doch wieder zu lang davorsitze.

Gilt das auch für den Alltag von Kindern und Jugendlichen in diesem Land?

Aufenanger: Ich mache gerne einen Test: Wenn man mit Kollegen zusammen ist, haben die Älteren alle eine Armbanduhr. Die Jüngeren sehen die Uhrzeit auf ihrem Handy nach. Pfeiffer: Wir sind da rückständig. Mein Sohn war in Neuseeland auf der Schule, da schickten alle Schüler ab 16 Jahren ihre Hausaufgaben per E-Mail an die Lehrer, die alle einen Account und einen Laptop auf Staatskosten haben. Das ist die normale Alltagskommunikation dort.

Finden Sie das problematisch?

Pfeiffer: Nein, richtig. Das läuft an der Universität heute ja nicht anders, das ist die richtige Vorbereitung.

Jugendlicher Medienalltag

Aus Studien wissen wir, dass die Mediennutzung einen großen Teil der Freizeit von Kindern und Jugendlichen einnimmt - was machen die da eigentlich die ganze Zeit?

Pfeiffer: Erst einmal kommunizieren sie miteinander. "Facebook", E-Mail, das ist Alltag. Die Nutzung unterscheidet sich zwischen Jungen und Mädchen. Die Jungen steigen pro Tag im Durchschnitt knapp zweieinhalb Stunden in Computerspiele ein, die Internetnutzung kommt noch oben drauf. Mädchen spielen nur 56 Minuten am Tag. Wir hatten vermutet, dass Mädchen auch mehr chatten, aber der Unterschied ist minimal.

Und was wird am meisten gespielt?

Pfeiffer: Bei den Jungen eindeutig Online-Spiele und gewaltorientierte Spiele, bei den Mädchen eher harmlose Spiele wie "Die Sims". Ein geringer Anteil der Mädchen spielt auch online. Unter den Mädchen finden wir 4,3 Prozent, die pro Tag viereinhalb Stunden spielen, bei den Jungen sind es knapp 16 Prozent. Diese Gruppe nennen wir Exzessivspieler. Die spielen primär Online-Rollenspiele. Und es gibt die sogenannten Smart User, ein kleiner Prozentsatz von Kindern und Jugendlichen, die das Internet zum Beispiel nutzen, um ihre Schularbeiten vorzubereiten, die den Reichtum, den das Internet bietet, erkennen und für ihre Zwecke optimal umsetzen.

Es wird also viel kommuniziert, es werden bevorzugt Spiele gespielt, die eine starke soziale Komponente haben. Herr Aufenanger, manifestiert sich da womöglich ein Bedürfnis von Jugendlichen, das in ihrem Alltag sonst nicht ausreichend befriedigt wird?

Aufenanger: Das ist ja eher die Nutzung von älteren, um die 15 Jahre. Bei jüngeren Kindern spielen beispielsweise Fernsehnutzung oder Spiele auf Handhelds, tragbaren Konsolen, eine stärkere Rolle. Die KIM- und JIM-Studien zeigen aber auch, dass 40 Prozent der Kinder das Internet nutzen, um Informationen zu suchen, um sich auf die Schule am nächsten Tag vorzubereiten. Das ist ein normaler Bestandteil des kindlichen Lebens. Extrem kann man das beim Chatten über "ICQ", einem Instant-Messaging-System (IM), sehen. Die Jüngeren kommunizieren weniger über Soziale Netzwerke wie "Facebook" oder "SchülerVZ", sondern über solche IM-Dienste. Wenn sie nach Hause kommen, wird die Kommunikation vom Schulweg sofort am Computer fortgesetzt. Man trifft sich wieder. Das geht dann wieder weiter mit dem Austausch von SMS. Das Immer-dabei-Sein ist ein wichtiger Bestandteil des Alltagsleben von Jugendlichen.

Es geht also auch um das Zusammenhalten der Peer Group.

Aufenanger: Ja. So wie man früher auf die Straße gegangen ist, irgendwo geklingelt hat, damit die Nachbarn zum Spielen herauskommen, ist heute "ICQ" die Vorbereitung zum Treffen, die SMS hilft unterwegs weiter: "Wo bist Du gerade? Ich bin hier." Zukünftig kann man sich womöglich direkt mit GPS gegenseitig orten. Die mediale Kommunikation substituiert die reale nicht, erweitert sie aber.

Studien zeigen ja durchaus, dass auch Kinder und Jugendliche den persönlichen Kontakt vorziehen. Warum treffen sie sich nicht gleich persönlich?

Aufenanger: Das ist einfach praktisch. Wenn wir früher diese Möglichkeiten gehabt hätten, hätten wir es genauso gemacht. Jugendliche haben ja kaum biografische Erfahrung, auf die sie zurückgreifen können. Die reale Alltagskommunikation ist gleichzeitig der Inhalt dessen, worüber man sich da austauscht. Man redet über Freunde, die man nicht mag, über Lehrer, die Probleme machen, über Schulaufgaben, die einem nicht gefallen. Und dann ist da die Echtzeit-Komponente, die moderne Smartphones mit sich bringen: Ich muss sofort wissen, was der andere gerade macht.

Pfeiffer: Es ist auch die Grenzenlosigkeit der Zahl der Freunde, die man etwa bei "Facebook" miteinander verknüpfen kann. Das ist eine ungeheure Faszination, wenn man betrachtet, was da an Netzwerken entsteht. Was habe ich in dem Alter gemacht? Buchstäblich stundenlang telefoniert. Das ging damals ja noch richtig ins Geld, und als Kind bekam ich da durchaus Vorhaltungen von meinen Eltern zu hören.

Da entschärft das Internet einen klassischen Eltern-Kind-Konflikt?

Pfeiffer: Mit den Flatrates ist das ja heute ohnehin erledigt. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass die Kommunikationsgewohnheiten sich radikal verändert haben und weiter ändern werden, denn der technische Fortschritt geht ja weiter.

Halten Sie das für problematisch?

Pfeiffer: Es sind damit auch Gefahren verbunden. Etwa, dass Mädchen beim Chatten durchaus von ihren männlichen Chatpartnern dazu verführt werden, sich auf schlüpfriges Gelände zu begeben. Das ist ja auch hoch spannend und kribbelnd, der andere gibt sich vielleicht als 14-, 15-Jähriger aus, dann verabredet man sich und stellt fest, es ist ein 45-Jähriger, der an das Mädchen herankommen will. Das kann böse enden.

Und wie sollte man damit umgehen?

Pfeiffer: Da muss eigentlich die Schule ran, weil die Eltern das oft nicht hinreichend tun. An vielen Schulen in Neuseeland wird garantiert, dass jedes Kind im Alter von elf im Zehnfingersystem schreiben kann und Online-Kommunikation perfekt beherrscht, aber auch darüber aufgeklärt wurde, dass es zum Beispiel diese Männer gibt, die versuchen, sich an Kinder heranzumachen. Über die Risiken wird realistisch informiert. So wie es bei uns Sexualaufklärung in der Schule gibt, was am Anfang zu großer Aufregung geführt hat, so muss man heute über die anderen Anbahnungsformen von sexuellen Kontakten auch mit Kindern reden.

Aufenanger: Wir haben für das Land Rheinland-Pfalz gerade eine Studie namens "Medienkompetenz und Schule" durchgeführt, die zeigt, was es bringt, wenn es an Schulen sogenannte Jugendmedienschutzbeauftragte gibt, Lehrer, die speziell fortgebildet werden und selbst als Multiplikatoren wirken. Die Schule ist der zentrale Ort, an dem das gemacht werden muss, weil dort alle Kinder hingehen, und weil wir wissen, dass die Eltern das nicht leisten können, weil sie oft naiv mit dem Thema umgehen. In etwa einem Drittel der Haushalte gibt es heute ja noch keinen Internetanschluss, und dort ist die Problematik deshalb schlicht unbekannt.

Können deutsche Lehrer das denn schon?

Pfeiffer: Nein, das ist noch sehr unterentwickelt. Die deutschen Lehrer sind ein bisschen überaltert und von daher mehrheitlich gar nicht in der Lage, die Medienwelt der Kinder nachzuvollziehen. Die nachwachsende Generation der jüngeren Lehrer, die wir aufgrund des demografischen Wandels leider immer seltener einstellen, ist da interaktionsfähig, aber die älteren Herrschaften weniger.

Aufenanger: 90 Prozent der Lehrer nutzen zu Hause den Computer, um sich auf den Unterricht vorzubereiten, nur 40 Prozent nutzen ihn überhaupt im Unterricht, und dann meist auch nur selten. Tägliche Nutzung im Unterricht schwankt so zwischen fünf und zehn Prozent. Das ist in anderen Ländern, etwa in China und Japan, völlig anders, da ist Mediennutzung in der Schule viel häufiger - was nicht immer gut sein muss! Ich sehe auch die jüngeren Lehrer etwas kritischer: Ich bin selbst in der Lehrerausbildung tätig, und viele junge Leute sitzen in der Vorlesung und sind währenddessen in "Facebook" eingeloggt. Aber wenn ich frage, ob sie den Computer auch für den Unterricht einsetzen würden, kommt als Antwort: "Nein, davon halte ich überhaupt nichts."

Flucht in virtuelle Welten?

Machen Computerspiele süchtig?

Pfeiffer: Nein, nicht pauschal. Wir haben für unsere Studie zu diesem Thema mit strengen Maßstäben 14 Fragen formuliert, die sich daran anlehnen, was wir von Glücksspielsucht oder anderen Süchten wissen. Damit haben wir festgestellt, dass drei Prozent der Jungen richtig abhängig sind und weitere 4,7 Prozent hoch gefährdet, die auch mehr als vier Stunden pro Tag spielen. Aber die Zeit war für uns nicht das Ausschlaggebende, sondern die Frage, ob sie Suchtkriterien erfüllen. Bei den Mädchen sind nur 0,3 Prozent abhängig und 0,5 Prozent gefährdet. Das ist ein Hauptfaktor dafür, dass das Schulabbrechen bei Jungen viel häufiger ist - 64 Prozent der Schulabbrecher sind männlich. Pro Jahrgang machen derzeit 150000 Mädchen Abitur gegenüber 118000 Jungen. Ein Land mit einem derartigen demografischen Wandel wie Deutschland kann es sich nicht leisten, dass so viele Jungen von der Leistung her einbrechen, weil sie zu viel Computer spielen, fernsehen, im Internet herumhängen, sich abkoppeln von normalen Lebenszusammenhängen. 1990 waren 64 Prozent derjenigen, die ein Studium abschlossen, männlich. Inzwischen sind wir bei 48 Prozent. Das alles ließe sich nur in den Griff bekommen, wenn wir den Jungen attraktive Alternativen bieten - am besten über Ganztagsschulen für alle, die nachmittags ein Programm umsetzen: Lust auf Leben wecken durch Sport, Musik, Theaterspielen und soziales Lernen.

Aufenanger: Man kann das ja auch positiv sehen: Die Frauen gewinnen. Die große Differenz, die man da beim Abitur sieht, zeigt sich später zudem nicht mehr im gleichen Ausmaß, da wird das Abitur dann häufig nachgeholt. Man muss auch festhalten, dass es in anderen Kulturen, in denen Ganztagsschulen die Regel sind, etwa in Südkorea oder Japan, trotzdem Probleme mit hohem Mediengebrauch gibt. Entscheidend ist, dass der Leistungsdruck da sehr hoch ist. Korea hat inzwischen schon fast 100 Kliniken für Suchtprävention. Dort liegen andere Gründe dafür vor.

Pfeiffer: Ungeheurer Leistungsdruck, Flucht in den Medienkonsum.

Wer ist besonders in Gefahr?

Pfeiffer: Diejenigen, die in der realen Welt Misserfolge haben. Die These der Industrie, das seien psychisch Kranke, nicht primär Abhängige, ist Unsinn. Wir finden keine Korrelation in dieser Richtung, aber eine mit realweltlichen Misserfolgen. Online-Rollenspiele haben das größte Potenzial, da als Flucht missbraucht zu werden. Es ist nicht zu verantworten, dass solche Spiele wie etwa "World of Warcraft" "ab 12" zugelassen sind. Sie sollten eine Freigabe nur für Erwachsene bekommen, weil sie durch spielimmanente Belohnungen das Suchtrisiko drastisch erhöhen.

Aufenanger: Die Verbreitung bzw. die Prävalenzrate der Computerspielsucht schwankt, wenn man sich internationale Studien ansieht, so um sieben Prozent. Bei "World of Warcraft" denke ich allerdings, dass es vom Altersbereich eher später ansetzt, immerhin kostet das 13 Euro im Monat. Man hat das Gruppenphänomen, muss in Gilden spielen, mit bis zu 40 Leuten, was ich problematisch finde, weil da sehr hierarchische, zum Teil geradezu militärische Strukturen herrschen. Wenn man Ersatzmann ist, muss man am Wochenende zu Hause sitzen, nur um einspringen zu können, falls jemand krank wird.

Herr Pfeiffer, Sie verneinen vehement, dass exzessives Spielen mit anderen Pathologien zusammenhängen könnte. Ihrer eigenen Studie zufolge sagen über zwölf Prozent der Exzessivspieler, sie hätten "häufig" Selbstmordgedanken. Sind da nicht womöglich doch viele Depressive vertreten, die sich mit diesen Spielen gewissermaßen selbst medizieren?

Pfeiffer: Das ist nicht anders als bei Alkohol- oder Glücksspielsucht. Bei all diesen Süchten laufen auch andere Krankheiten parallel. Von daher meinen wir, es ist Zeit, Computerspielabhängigkeit mit Glücksspielabhängigkeit gleichzusetzen. Denn die kann therapeutisch abgerechnet werden. Im Moment läuft da Versicherungsbetrug im großen Stil, weil die behandelnden Ärzte notgedrungen eine andere Krankheit angeben, Depression zum Beispiel.

Bislang haben sich die internationalen Fachverbände wiederholt dagegen ausgesprochen, Computerspielsucht als eigene Diagnosekategorie anzuerkennen.

Pfeiffer: Ich gebe zu, die Forschungsergebnisse waren uneinheitlich, deshalb hat man bisher gezögert. Wir haben jetzt ein Fünf-Jahres-Forschungsprogramm, in dem wir beispielsweise Kinder über drei Jahre hinweg begleiten, von 12 bis 15 Jahren, um das Hineinwachsen in die Computerspielabhängigkeit nachzuzeichnen.

Der Hannoveraner Psychiater Bert te Wildt findet in seinen Fallstudien immer hohe Komorbiditäten mit anderen psychischen Störungen, insbesondere Angststörungen und Depression. Wäre diesen Jugendlichen nicht eher damit gedient, wenn man ihre Angststörung oder ihre Depression behandeln würde?

Pfeiffer: Das ist die selektive Wahrnehmung von Bert te Wildt. Er sitzt in der Ambulanz einer Psychiatrie. Da kommen nur Leute hin, die die Angsthürde überwinden, mit ihrem Problemen in die Psychiatrie zu gehen. Die Computerspielabhängigen, die das nicht tun, lernt er gar nicht kennen. Deshalb kommt er zu einer Überschätzung der begleitenden anderen psychischen Probleme. Wir, die wir 15000 Jugendliche bundesweit befragen konnten, haben keine klare Verbindung zwischen psychischer Krankheit als Ursache und Computerspielabhängigkeit als Folge finden können, sondern die Verbindung mit realweltlichen Problemen - nicht psychischen Krankheiten - als Ursache.

Wenn man sich mit klinischen Psychologen oder Psychiatern unterhält, sagen die übereinstimmend: Sie können eine psychische Störung nicht massenweise mit einem ad hoc generierten Fragebogen diagnostizieren.

Pfeiffer: In dem Punkt haben Sie recht. Wir haben nur nach Indikatoren fragen können, wie etwa den Selbstmordgedanken. Im jetzt anlaufenden Forschungsprogramm machen wir es genau so, wie es schulmäßig sein muss: Jeder wird nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft auf psychische Krankheiten getestet, und dann erst wenden wir uns ihm als Gesamtperson zu und klären, wo er in Sachen Computerspiele steht, um diese Verbindung besser klären zu können. Da gab es noch ein Forschungsdefizit, deshalb haben wir ja dieses neue Programm begonnen. So können wir eine Forschungslücke schließen, die es tatsächlich gibt.

Pro und Contra frühkindliche Mediennutzung

Herr Aufenanger, möchten Sie auch, dass Spiele wie "World of Warcraft" künftig "ab 18" sind?

Aufenanger: Da bin ich etwas skeptischer. Ich würde an einem anderen Punkt ansetzen: Die Schule muss einen zentralen Raum einnehmen, dafür sorgen, dass keine Minderwertigkeitsgefühle entstehen, dass kein Mobbing stattfindet, dass die Schüler ernst genommen werden. Das zweite ist die Situation in der Familie: Kinder dürfen nicht alleine gelassen werden, es muss die Bereitschaft da sein, sich ihrer Probleme anzunehmen. Auf Seiten der Eltern muss frühzeitig eine Sensibilität entstehen, um solche Entwicklungen rechtzeitig zu erkennen. Meistens kommen Eltern erst relativ spät in die Beratungsstellen und sagen: "Mein Kind ist computerspielsüchtig", und der 19-jährige Sohn will gar nicht mitkommen. Dann haben die Eltern kaum noch Möglichkeiten, einzugreifen. Es gibt da auch starke schichtspezifische Unterschiede.

Ab wann sollte man denn beginnen, Kindern Medienkompetenz zu vermitteln?

Pfeiffer: Ich bin entschieden der Meinung, dass man die Kindergartenzeit von digitalen Technologien völlig freihalten sollte. Dimitri Christakis hat in seiner Längsschnittanalyse von Ein- bis Siebenjährigen in den USA klar gezeigt: Je früher Kinder an Bildschirmkonsum herankommen, desto höher das Risiko der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Der Fernseher als Babysitter ist absolut schädlich. Zudem kann man zeigen: Je früher die Kinder - in guter pädagogischer Absicht! - an solche Dinge herangeführt werden, desto höher das Risiko, dass sie später in eine intensive Nutzung hineingeraten. Computer im Kindergarten fördern bei den Eltern den Irrtum: "Wenn sie da drin sind, dann muss es ja pädagogisch wertvoll sein, dann schenke ich meinem Sohn zu Weihnachten den Computer und kindgerechte Spiele." Die Kinder, vor allem die Jungen, die frühzeitig solche Geräte haben, missbrauchen sie aber für verbotene Inhalte. Und das führt dann zu schulischem Leistungsabfall, Bewegungsmangel und so weiter. Um Kinder in diesem Bereich kompetent werden zu lassen, reicht meiner Meinung nach das Alter von zehn Jahren aufwärts.

Aufenanger: Da sind wir unterschiedlicher Meinung. Es gibt durchaus internationale Studien, die zeigen, dass pädagogisch gut begleiteter Computereinsatz für die sprachliche, kommunikative, kognitive Entwicklung von Kindern erfolgreich sein kann. Es gibt immer einen Prozentsatz, wo sie nicht gut, sondern missbräuchlich genutzt werden. Viele Studien zeigen aber, dass zwar nicht unbedingt das fachliche Lernen gefördert wird, aber eben Medienkompetenz. Damit kann man schon in der Grundschule, auch im Kindergarten schon anfangen, kann zeigen: "Wie nutze ich den Computer sinnvoll?" Die Kinder kommen ja in eine Lebenswelt, in der das ohnehin zum Alltag gehört.

Was kann man denn einem Kind in der Grundschule am Computer konkret beibringen?

Aufenanger: Das ist eine Frage des didaktischen Konzeptes. Die Schüler sollten anhand von Problemen selbst Wissen generieren, und dabei spielen Medien eine mögliche Rolle: Informationen sammeln, aufbereiten, kommunizieren, präsentieren. In Hamburg gibt es viele Grundschulen, die mit Medien arbeiten. Dort lernen Kinder beispielsweise schon in der ersten Klasse, eine Powerpoint-Präsentation für ihre Ergebnisse zu erstellen. Oder im Internet zu recherchieren und die Ergebnisse mit Lexika-Einträgen oder Zeitschriftenartikeln abzugleichen - also aus dem Medienverbund das Beste herauszuholen. Es gibt da gute Portale wie "Die Blinde Kuh" oder das von der Bundesregierung geförderte "Frag Finn", wo man in die Recherche einsteigen kann, ohne auf gefährdende Seiten zu geraten.

Würden Sie da auch Spiele einbeziehen?

Aufenanger: Ich bin bei Computerspielen etwas skeptisch, ob man so viel davon profitiert, wie die Industrie das verspricht. "Sim City" etwa, wo man eine Stadt simulieren kann, kann man mal mit Sechs- oder Siebtklässlern spielen, um zu zeigen, wie Variablen zusammenhängen. Es gibt auch für den fachdidaktischen Bereich Programme, etwa für Geometrie oder Mathematik. Es gibt Spiele, in denen man etwa Fährten von Tieren unterscheiden lernt. Das kann man aber auf anderem Wege machen, der Computer ist nur eine Erweiterung der Möglichkeiten.

Mediale und reale Gewalt

Machen gewalthaltige Spiele Jugendliche gewalttätig?

Pfeiffer: Man wird nicht Amokläufer, weil man ein brutales Computerspiel gespielt hat. So jemand hat im realen Leben solchen Hass auf bestimmte Menschengruppen entwickelt, die er für das eigene Scheitern verantwortlich macht, dass dann irgendwann ein "Tag der Rache" kommt. Aber, was Forscher zweifelsfrei aufzeigen können, ist: Das Spielen von gewalthaltigen Spielen erhöht bei Gefährdeten, die ohnehin schon auf dem Weg Richtung Gewalt sind, das Risiko, dass sie tatsächlich gewalttätig werden. Es führt zu Empathieverlusten, es desensibilisiert, es erhöht das Risiko, das zeigen Längsschnittstudien. Es gibt einen eindeutigen Verstärkungseffekt.

Aufenanger: Das ist aber weniger eine Kausalität. Die Hypothese ist eine Selektionshypothese: Diejenigen, die aggressiv sind, wählen dann auch die entsprechenden Computerspiele. Es gibt da in den USA eine Auseinandersetzung zwischen zwei Arbeitsgruppen, die in Metaanalysen versuchen, nachzuweisen, dass es einen hohen Effekt gibt oder eben schwache Effekte. Das ist ein methodischer Konflikt über die richtige Auswahl der Studien, aber der Trend ist: Je komplexer das Design ist, je vielfältiger die Faktoren, die man berücksichtigt, desto niedriger sind die Signifikanzen. Wenn man auf wenige Faktoren reduziert, bekommt man höhere Signifikanzen. Herr Pfeiffer, Sie sind da in der Vergangenheit vielleicht missverstanden worden bei der Frage der Kausalität ...

Sie sind sich also einig, dass es keine Kausalität zwischen gewalthaltigen Spielen und gewalttätigem Verhalten gibt?

Pfeiffer: Keine Alleinkausalität, sondern einen Verstärkungsfaktor. Es erhöht das Risiko von Gewalt.

Aufenanger: Die Wahrscheinlichkeit steigt, ein Risikoverhalten zu zeigen. Zur Frage der Kausalität: Ich kann mich erinnern, dass ein Kollege mal zu Ihnen kam, Herr Pfeiffer, und sagte: "Mein Sohn will einen Fernseher haben." Sie haben geantwortet: "Dann gibt es schlechte Noten." Diese Kausalität mit prognostischem Charakter würde ich bestreiten.

Solche Spiele sind innerhalb der deutschen Gesellschaft ja immens verbreitet und zwar in wachsendem Maß. Erleben wir denn auch einen Anstieg der Jugendgewalt?

Pfeiffer: Nein, Gott sei Dank nicht, weil andere Belastungsfaktoren deutlich sinken, wie etwa die häusliche Gewalt. Mediale Gewalt verstärkt nur bei Gefährdeten das Risiko. Gefährdet sind Kinder, die geprügelt werden. Wir haben aber eine deutliche Abnahme des Prügelns von Kindern. Das hat mit früheren Scheidungen zu tun, aber auch mit dem Gewaltschutzgesetz, mit der Polizei, die früher und effektiver einschreitet, mit Information der Öffentlichkeit. Die Bedingungen des Aufwachsens sind eindeutig konstruktiver als früher. Das große Problem sind die wachsenden Armutsbelastungen. Da könnte die Ganztagsschule vieles retten. Bildung als Ausgleich von Armut funktioniert bei vielen Gruppen besser als vor zehn Jahren. Das sind die Gründe, warum die Jugendgewalt nicht mehr steigt und in vielen Gebieten sogar rückläufig ist. Gewalthaltige Medien sind da nur ein Faktor unter vielen: falsche Freunde, Gewalt in der Familie, Bildungsnachteile, Alkohol, Schulschwänzen und so weiter.

Wenn in Deutschland aber Kinder oder Jugendliche mit extremen Gewaltausbrüchen auffallen, wird stets überall intensiv über Computerspiele diskutiert und wenig über Anderes. Läuft die Debatte falsch?

Pfeiffer: Als ich nach dem Amoklauf von Winnenden im Fernsehen saß, bei "Hart aber fair", war mein erster Satz: "Amokläufe entstehen nicht durch Computerspiele." Da war Frank Plasberg überrascht, weil er mir zugeschrieben hatte, ich würde das Gegenteil sagen. Meine These war damals: Amokläufe entstehen primär im familiären und sozialen Kontext, und das hat sich ja sowohl in Winnenden als auch in Erfurt mittlerweile gezeigt. Spiele sind immer nur ein Verstärkungsfaktor, und man geht jedes Mal reflexartig auf Computerspiele als Hauptursache ein, was schlicht nicht stimmt und durch ständige Wiederholung nicht richtiger wird. Die Debatte sollte viel mehr die Leistungskrise der Jungen ins Auge fassen. Für mich ist die Gewaltthematik völlig über- und die Leistungskrise völlig unterschätzt.

Perspektiven

Wenn Sie beide konkrete Handlungsanweisungen für die Politik formulieren sollten, wie würden die Aussehen?

Aufenanger: Erstens: Man müsste im Bereich Jugendmedienschutz Altersgrenzen stärker differenzieren. Die Spanne zwischen sechs und zwölf ist zu lang, ich wäre eher für sechs, zehn und vierzehn. Zweitens: Ich bin, im Gegensatz zu Herrn Pfeiffer, der Meinung, dass die deutsche Jugendmedienschutzregelung, die im internationalen Vergleich als scharf angesehen wird, ausreicht. Die Selbstkontrolle über USK und FSK [Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle und Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft, Anm.d.R.] funktioniert im Großen und Ganzen. Ich bin gegen eine Überkontrolle. Drittens: Medienkompetenz ist ein wichtiger Bereich, ich wäre für stärkere Unterstützung schulischer Maßnahmen zur Förderung. Dazu könnte auch die stärkere Verbreitung von Ganztagsschulen mit einem guten pädagogischen Konzept beitragen. Wichtig wäre zum Beispiel, dass rhythmisiert ein Zusammenhang zwischen Bewegung und Mediennutzung hergestellt wird. Viertens: Wir sollten mehr in Familienbildung investieren, das vernachlässigen wir in Deutschland. Es müsste darum gehen, die Armutsgrenze, die sozialen Bedingungen für Familien in Deutschland zu verändern, zu verbessern. Sie sehen: Wir kommen dabei weg von den Medien. Die Aufwachsbedingungen von Kindern in unserer Gesellschaft müssen viel stärker in den Blick genommen werden.

Pfeiffer: Ich stimme absolut überein mit der Vision in Sachen Schule. Ganztagsschule für alle und eine stärkere Betonung der Kreativitätsfächer. Wir haben durch den PISA-Schock Malen, Musik und Sport an den Rand gedrängt. Das ist falsch. Die Persönlichkeit muss wachsen können, und da kommt diesen drei Fächern zentrale Bedeutung zu. Junge Menschen brauchen Abenteuer, Herausforderungen, Spannung, Bewährungsproben. Lehrer sollten ihre eigenen Leidenschaften für Theater, Fotografieren, Musik, gesunde Ernährung oder Rugby in den Unterricht einbringen können, da sind uns andere Länder voraus. Anders als Herr Aufenanger sehe ich gravierende Defizite in der Anleitung der Eltern, was richtig und falsch ist für ihre Kinder. "World of Warcraft" und viele andere Online-Rollenspiele "ab 12" freizugeben ist Unsinn und hoch gefährlich. Deshalb die Radikalforderung: Alle Online-Spiele sollten wegen ihres höheren Suchtpotenzials pauschal im ersten Jahr ab 18" sein. Man müsste sehr viel mehr Geld zur Überprüfung aufwenden. Es gibt klare Kriterien, welche Elemente ein Spiel zu einem Suchtfaktor machen. Diese Erkenntnisse muss man nutzen, um mögliche Gefahren zu entdecken und im Nachhinein erst ein Spiel als "ab 16" oder "ab 12" einzustufen. Oder, alternativ: Man könnte probeweise eine Alterseinstufung vergeben, die einem zum Zeitpunkt der Bewertung als richtig erscheint, und ein Jahr später folgen die ersten Überprüfungen anhand empirischer Tests, ob das richtig war.

Die Gutachter können Spiele auch nicht richtig beurteilen, weil sie nie das ganze Spiel kennen, sondern abhängig sind von den knappen Informationen, die ihnen die Spieletester zur Verfügung stellen. Ich würde die ganze USK anders aufstellen, vor allem aber die Kommunikation mit der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien verbessern, weil wir bei der Indizierung von Spielen Defizite sehen. Wenn nur zwei der fünf Gutachter Zweifel haben, sollte schon die Bundesprüfstelle eingeschaltet werden und überprüfen, ob ein Spiel vielleicht doch indiziert werden sollte.

Der dritte wichtige Bereich ist Eltern-Information. Das heißt vor allem: keine Bildschirmgeräte im Kinderzimmer. Man kann Medienkompetenz ja auch im Wohnzimmer oder im Arbeitszimmer der Eltern lernen. Die Mehrheit der Kinder ist mit der Verfügbarkeit eigener Geräte überfordert, was sich negativ auf Schulleistung und Konzentrationsfähigkeit auswirkt und durch Bewegungsarmut auch auf ihre Gesundheit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Dirk Baier/Christian Pfeiffer/Susann Rabold et al., Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum (KFN-Forschungsbericht Nr. 109), Hannover 2010, S. 23f.

  2. Vgl. Florian Rehbein/Matthias Kleimann/Thomas Mößle, Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter (KFN-Forschungsbericht Nr. 108), Hannover 2009, S. 19.

  3. Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hrsg.), KIM-Studie 2008. Kinder und Medien, Computer und Internet, Basisuntersuchung zum Medienumgang 6- bis 13-Jähriger in Deutschland, Stuttgart 2009; ders. (Hrsg.), JIM-Studie 2010. Jugend, Information, (Multi-)Media, Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2010.

  4. Siehe http://medienkompetenz.rlp.de (21.12.2010).

  5. Vgl. Bard Herzig/Silke Grafe, Digitale Medien in der Schule, Bonn 2007.

  6. Vgl. F. Rehbein/M. Kleimann/T. Mößle (Anm. 2), S. 22.

  7. Quelle: Statistisches Bundesamt.

  8. Vgl. Klaus Wölfling et al., Computerspielsucht. Ein psychopathologischer Symptomkomplex im Jugendalter, in: Psychiatrische Praxis, (2008) 5, S. 226-232.

  9. Vgl. Dimitri Christakis et al., Television, Video, and Computer Game Usage in Children Under 11 Years of Age, in: The Journal of Pediatrics, (2004) 5, S. 652-656.

  10. Vgl. Katy McCarrick/Xiaoming Li, Buried Treasure. The Impact of Computer Use on Young Children's Social, Cognitive, Language Development and Motivation, in: AACE Journal, (2007) 1, S. 73-95.

  11. Vgl. Craig A. Anderson et al., Violent Video Game Effects on Aggression, Empathy, and Pro Social Behaviour in Eastern and Western Countries, in: Psychological Bulletin, (2010) 2, S. 151-173; Christopher Ferguson/John Kilburn, The Public Health Risks of Media Violence, in: The Journal of Pediatrics, (2009) 5, S. 759-763.

Dr. phil., geb. 1973; stellvertretender Ressortleiter Netzwelt bei "Spiegel Online", Brandstwiete 19, 20457 Hamburg. E-Mail Link: christian_stoecker@spiegel.de

Dr. phil., geb. 1950; Professor für Erziehungswissenschaft und Medienpädagogik an der Universität Mainz, Colonel-Kleimann-Weg 2, 55128 Mainz. E-Mail Link: aufenang@uni-mainz.de Externer Link: www.aufenanger.de

Dr. iur., geb. 1944; Professor i.R. für Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Hannover; Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen e.V. (KFN), Lützerodestraße 9, 30161 Hannover. E-Mail Link: kfn@kfn.uni-hannover.de